Wipper, Kipper, Notgelddrucker

P. Werner Lange

Vor 400 Jahren endete die Wipper- und Kipperzeit, die zu einer riesigen Inflation führte. Vor hundert Jahren erschütterte die Hyperinflation das Land, der Lohn war schon am nächsten Tag nichts mehr wert. Und heute?



Bisweilen jähren sich historische Ereignisse, denen nicht einmal der Bundespräsident eine Rede widmen möchte, weil die Erinnerung daran zur Besorgnis über gegenwärtige Zustände führen könnte. Zum Beispiel war da das Jahr 1623, in dem die Wipper- und Kipperzeit endete. Nachdem bereits im Altertum der Edelmetallgehalt von Münzen verringert wurde, indem man die Ränder beschnitt, kennzeichneten diese Begriffe ein betrügerisches Verfahren, bei dem Münzen mit der Wippe (Waage) gewogen und solche mit dem höchsten Edelmetallgehalt ausgesondert (gekippt) wurden. Letztere schmolz man ein, fügte Kupfer und zuweilen auch Zinn oder Blei hinzu und ließ aus den Legierungen neue Münzen zum alten Nennwert prägen. Gewonnen wurde dabei ein Teil der früheren Bestandteile, gewöhnlich Silber, das wiederum zur Münzprägung und somit der Geldvermehrung diente. Dergleichen wurde weithin in Mitteleuropa gebräuchlich und führte schließlich zur größten Inflation in der Geschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.


Den Profiteuren dieser Entwicklung gehörte zum Beispiel Friedrich Ulrich, Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel an, der 1617 anordnete, von jeder Mark Silber 210 Groschen statt der üblichen 110 zu prägen und 1621 die Anzahl auf 330 erhöhen ließ. Ungleich mehr verdiente Albrecht Wenzel Eusebius von Wallenstein, im Dreißigjährigen Krieg Generalissimus der kaiserlichen Truppen: Er investierte zuvor in eine Böhmen, Mähren und Niederösterreich umfassende Münzpacht und nutzte die enormen Kippergewinne, um während des Krieges Söldner zu bezahlen und die Liegenschaften enteigneter protestantischer Adliger aufzukaufen. Den Preis der Inflation zahlte wie immer und überall das Volk: Zwischen 1620 und 1623 stiegen die Preise der Grundnahrungsmittel im größten Teil Deutschlands um das Achtfache.


Freilich hatten Fürsten und Städte, die Herausgeber des Geldes, nicht bedacht, dass derart auch die ihnen zufließenden Steuern und Abgaben abgewertet wurden. Überdies begann 1618 der Dreißigjährige Krieg, und sowohl Söldner als auch Hersteller von Waffen und Kriegsgerät verlangten, mit „gutem Geld“ bezahlt zu werden. Die Obrigkeit kehrte deshalb 1623 zur alten Reichsmünzordnung zurück und ließ trotz riesiger Verluste für die staatlichen Kassen neues Geld prägen und in Umlauf bringen. Kippermünzen wurden für ungültig erklärt und eingezogen. Immerhin zeigt das Ende der Wipper- und Kipperzeit, dass Herrscher und Städte damals selbst während eines besonders erbittert geführten Krieges zu vernünftigen Entscheidungen fähig waren und ihre Währungen vor dem Verfall bewahrten.


Als ein Ei 320 Milliarden Mark kostete

Drei Jahrhunderte später, im Jahr 1923, erschütterte wiederum eine immense Geldentwertung das Gefüge der Wirtschaft und die Lebensumstände der Menschen. Diesmal war vornehmlich ein verlorener Krieg zu bezahlen, aber die Ursachen des Geldwertverfalls unterschieden sich nicht wesentlich von jenen des Inflationsjahres 1623. Für jedermann merkliche Vorzeichen hatte es längst gegeben: Wohlstandsverlust, Preissteigerungen, Geschäftsaufgaben, Massenentlassungen, rapider Rückgang der Geldwertstabilität und der Steuereinnahmen, Niedergang städtischer Finanzen. In Berlin zum Beispiel wurden seit dem Sommer 1922 Badeanstalten und Schwimmbäder geschlossen, die Schulkinder erhielten im Winter verlängerte „Kohleferien“, zwei Drittel der mit Gas betriebenen Straßenbeleuchtungen wurden abgeschaltet. Der Magistrat strich alle Ausgaben für Parks und Grünanlagen, und im folgenden Jahr war auch die Straßenbahn bankrott.


Nunmehr spricht man im Hinblick auf das Jahr 1923 von einer Hyperinflation, und das erscheint durchaus angemessen: Im November kostete damals in Berlin ein Pfund Brot 260 Milliarden, ein Pfund Fleisch 3,3 Billionen, im Dezember ein Ei 320 Milliarden, ein Liter Milch 360 Milliarden Mark. Wer einen Dollar kaufen wollte, der musste dafür 4,21 Billionen Mark und für eine Unze Feingold 86,8 Billionen hinlegen. Die Notenpressen – ihre Betreiber wurden zum Schluss von der Reichsbank mit Goldmark bezahlt – arbeiteten auf Hochtouren, alle betriebsfähigen Druckereien im Reich druckten Tag und Nacht Geldscheine. Wenn Arbeiter ihren vor dem Fabriktor mit Rucksäcken oder Waschkörben wartenden Frauen mittags den Tageslohn übergaben, dann war der am Abend schon fast nichts mehr wert.


Als dann im folgenden Jahr endlich die Rentenmark (eine Rentenmark für eine Billion Papiermark) eingeführt wurde und, freilich nur bis bis 1929, „die Dollarsonne“ amerikanischer Kredite schien, sah sie kleine Sparer und Geschäftsleute ruiniert, das Kleinbürgertum verelendet. Wer zuvor nicht in Sachwerte fliehen und seine Schulden mit entwertetem Geld begleichen konnte, wer von Arbeitslohn, Gehalt oder Rente abhängig war, hatte inzwischen unfreiwillig wenigstens einen Teil der Kriegskosten bezahlt, doch nun erwarteten ihn Ausnahmezustand und Aufstände in einem bettelarmen Deutschland mit kaum erträglicher Reparationslast, ohne Flotte, ohne Kolonien und ohne Elsaß.


Die Titanic hat schon abgelegt

Zu diesen Geprellten und Betrogenen gehörte auch mein Großvater, dem es besonders übel erging, weil er nicht täglich, sondern von Woche zu Woche bezahlt wurde. Ich erinnere mich an eine große Zigarrenkiste, in der er – vielleicht in der Hoffnung, die Reichsbank würde irgendwann das Geld abgewertet einlösen – bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts die größten Inflationsbanknoten aufbewahrte. Da ich noch ein Kind war, kramte ich aufgeregt in dem vermeintlichen Geldsegen und besah gebannt die Ziffern mit den vielen Nullen – erst später erfuhr ich, dass alles, was mit Null multipliziert wird, dennoch Null bleibt. Im Gedächtnis blieb mir zudem Großvaters Erzählung von dem Mann, der während der Inflation seinen Wochenlohn in einer Schubkarre heimfuhr. In einem unbeobachteten Augenblick stahl ihm jemand die Karre, und der Mann fand nur noch das Geld, das der Dieb achtlos ausgeschüttet hatte.

Alte Geschichten? Zugegeben, eine Schubkarre wird uns künftig niemand stehlen können, denn die Billiarden gibt es dann digital – bis auf ein paar Euroscheine mit dem Aufdruck „900 Billionen“ für unsere Zigarrenkisten. Denn wer glaubt schon, dass der Ankauf von – vereinfacht gesagt – Schuldverschreibungen durch die Europäische Zentralbank, dass die auf Wipperart mit Druckerpressen betriebene Aufblähung der Geldmenge („whatever it takes“) oder die nicht erst seit der sogenannten Euro-Rettung beständig steigenden Billionenschulden der Staaten im Euro-Raum folgenlos bleiben werden? Wer glaubt noch, die Inflation sei mit Rettungsprogrammen, Bürgschaften, Krediten, steigenden Zinsen und anderem mehr aufzuhalten, und belehrbare Politiker mit Verantwortungsbewusstsein und Sachverstand würden das Schlimmste abwenden? Nein, der ursprüngliche Wohlstand ging – für jeden spürbar – schon dahin. Die Titanic hat den sicheren Hafen längst verlassen, ist auf hoher See und fährt ihrer Bestimmung entgegen.


Die Fahrt kann nur schlimm enden. „Dann nehmen wir Geld auf“, sagte dazu der als Wirtschaftsminister tätige Kinderbuchautor während einer Talkshow. „Am Ende ist es nur Geld.“

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