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    Dürfen Menschenrechte gegen andere Kulturen durchgesetzt werden?

    Der deutsche Althistoriker Egon Flaig nimmt die Sklaverei als Beispiel, daß Menschenrechte mit Gewalt gegen kulturelle Sonderwünsche durchgesetzt werden dürfen. Eine Frage, die auch und gerade heute angesichts des militärischen Engagements der UN in islamischen Staaten hochaktuell ist. Ein guter Essay, wie alle aus der Feder dieses Autors.



    Der tiefste Bruch in unserer Geschichte

    Von Egon Flaig

    Darf man Menschenrechte mit Gewalt gegen kulturelle Sonderwünsche durchsetzen? Wer den Fundamentalismus der Aufklärung fürchtet, hat die Abschaffung der Sklaverei nicht verstanden.

    Wir leben in einer sklavenfreien Gesellschaft. Dieses Privileg verdanken wir der politischen Zerschlagung der sklavistischen Systeme im neunzehnten Jahrhundert. Doch wie stehen wir zu dieser Zerschlagung? Wie zu ihren Kosten? Wie dazu, ein universales Prinzip gewaltsam gegen kulturelle Sonderrechte durchzusetzen? Sklaverei existierte in jeder Hochkultur ohne Ausnahme sowie in sehr vielen der sogenannten primitiven Gesellschaften. Sie abzuschaffen bedeutete den tiefsten Bruch in der bisherigen kulturellen Entwicklung der Menschheit.

    Indes, was ist Sklaverei? Der Artikel 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte unterscheidet die Sklaverei von „sklavenähnlichen“ Verhältnissen. Sklaverei ist die extremste Erniedrigung des Menschen, aber nicht die schlimmste. Extrem sind Grade der Rechtlosigkeit; schlimm sind Erfahrungen. Die schlimmste Erniedrigung ist nicht institutionalisierbar, die extremste ist es. Sklaverei ist eine Institution; daher ist Zwangsprostitution keine Sklaverei. Wer die Unterschiede verwischt und jegliche Unfreiheit als Sklaverei bezeichnet, erweitert den Wortschatz moralischer Anprangerei und vermindert die historische Erkenntnis. Indes, unter den verschiedenen Formen von Unfreiheit ist die Sklaverei der Eckpfeiler: Wenn sie erlaubt ist, dann sind andere Formen der Unfreiheit von Menschen nicht mehr zu verhindern. Wenn sie verboten ist, dann geraten sämtliche Formen von Unfreiheit unter moralischen, politischen und schließlich auch polizeilichen Druck.

    Zum Katalysator (Beschleuniger) für den Abolitionismus (der Abschaffung der Sklaverei) wurde die europäische Kolonialsklaverei. Der Kampf gegen sie begann sofort. Maßgeblich führten ihn seit dem ausgehenden siebzehnten Jahrhundert evangelikale Strömungen in England und im englischen Amerika. Nach einem Jahrhundert stellten sich die Erfolge ein. Die Verfassung von Vermont 1777 [1] setzte der Sklaverei einen Endpunkt; Pennsylvania, Connecticut und Rhode Island folgten. Das britische Unterhaus stimmte von 1779 bis 1802 fünfmal über den Antrag ab, den Sklavenhandel zu verbieten. Allein die Stadt Manchester mit 75.000 Einwohnern lieferte 1792 für eine entsprechende Petition 20.000 Unterschriften.

    [1] Vermont .ist ein Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Amerika und Teil von Neuengland (Nord-Ost-Amerika).

    Das revolutionäre Frankreich überholte den britischen Abolitionismus: 1791 begann der Sklavenaufstand auf Haiti mit der Berufung auf die Ideale der Revolution; im Februar 1794 erklärte die [französische] Nationalversammlung jegliche Sklaverei auf französischen Territorien für illegitim; die Revolutionskriege verhinderten allerdings die Umsetzung. 1807 beschloss das britische Parlament, den Sklavenhandel innerhalb des Empire zu verbieten. Im Februar 1815 erklärten auf dem Wiener Kongress acht europäische Monarchien ihren Willen, den Sklavenhandel zu unterdrücken. Britische Kriegsschiffe kontrollierten die westafrikanischen Gewässer und brachten damit erstmals jene Ambivalenz (Zwiespaltigkeit) des humanitären Eingreifens zum Vorschein, die uns bis heute peinigt: Den ständigen Druck der britischen Marine empfanden andere Länder als Bruch des internationalen Rechts; als Weltpolizist verfocht Großbritannien ein universales Prinzip und verletzte kulturelle Sonderrechte und nationale Souveränität. Englische Kapitäne, die man beim Transportieren von Sklaven ergriff, wurden gehenkt.

    1833 beschloss das Parlament, die Sklaverei im gesamten Empire abzuschaffen; die Abolition (Abschaffung der Sklaverei) erfolgte 1838. 1841 kam es zu einem multilateralen Vertrag (vielseitig, mit mehreren Staaten), welcher den Sklavenhandel auf eine Stufe mit Piraterie stellte und vorsah, die Weltmeere zu überwachen und Seeblockaden zu verhängen, im Dienste der Humanität. Danach patrouillierten regelmäßig bis zu sechzig Kriegsschiffe in afrikanischen Gewässern, zuvorderst britische, aber auch französische und solche der Vereinigten Staaten. Am 27. April 1848 erklärte das revolutionäre Frankreich die Sklaverei in allen Territorien mit sofortiger Wirkung für aufgehoben. Von 1807 bis 1867 fing man insgesamt 1.287 Sklavenschiffe ab. Diese Politik war teuer. Neun Zehntel der gesamten Last trugen die Briten, deren Marine zu diesem Zweck fünfzehn Prozent ihrer Schiffe verwandte. Das belief sich ein halbes Jahrhundert lang auf rund 250.000 Pfund pro Jahr, etwa zwei bis sechs Prozent des gesamten Marinebudgets. Von 1816 bis 1862 kostete die Unterdrückung des Sklavenhandels ebenso viel, wie die britischen Händler von 1760 bis 1807 am Verkauf von Sklaven verdient hatten.

    Doch gegen alle Erwartungen brachen die sklavistischen Systeme nicht zusammen, weder in den Vereinigten Staaten noch in Brasilien, Kuba oder in der islamischen Welt. In Afrika lief das gewaltsame Versklaven weiterhin auf Hochtouren. Die Abschaffung der Sklaverei ist mit dem Schicksal dieses Kontinents eng verbunden.

    Jeder weiß um die zweitgrößte Deportation (Verschleppung) von Menschen, den Export von fast zwölf Millionen Schwarzafrikanern über den Atlantik nach Amerika. Die größte Deportation aber ging in die Kernländer des Islams und betraf mindestens siebzehn Millionen Schwarzafrikaner. Die Europäer deportierten; doch sie versklavten nicht; sie mussten die Sklaven artig an der Küste kaufen. Die muslimischen Emirate und die nichtmuslimischen Kriegerethnien südlich der Sahara hingegen waren doppelt beschäftigt: Sie versklavten, und sie verkauften in alle Richtungen. Sollten Reparationen (Wiedergutmachungsleistungen) fällig werden, wären die Nachfolger dieser Täter auf Jahrhunderte hinaus zahlungspflichtig.

    Doch wie die grauenvollen Versklavungsprozesse stoppen? Zuvorderst die Abolitionisten drängten auf direkte Intervention (direktes Eingreifen), während konservative Politiker den Hals Großbritanniens nicht mit weiteren kolonialen Mühlsteinen behängen wollten, ja sogar 1865 den Rückzug aus Westafrika verlangten. Da immer ersichtlicher wurde, dass die islamischen Länder von sich aus Sklaverei und Sklavenhandel niemals abschaffen würden, musste die britische Flotte im Indischen Ozean ähnlich agieren wie zuvor im Atlantik. Erst als man 1882 Ägypten besetzte, gelang es, den Sklavenhandel im Nahen Osten auszutrocknen, ausgenommen den weitergehenden Zustrom über das Rote Meer [2]. In Afrika musste die Abolition den Eliten politisch und militärisch aufgezwungen werden. Es war höchste Zeit. Eine stattliche Anzahl von muslimischen Warlords führte zwischen 1880 und 1910 vom Niger bis zum Nil ihre „Befreiungskriege“ gegen die Europäer. Der afrikanische „Antikolonialismus“ wird geboren als Kampf zur Verteidigung der Sklaverei.

    [2] Das rote Meer verläuft zwischen Saudi-Arabien einerseits und Ägypten, Sudan und Äthiopien andererseits.

    Die Berliner Konferenz 1884/85 steckte nicht nur die Einflusssphären der europäischen Mächte in Afrika ab, sondern verbot den Sklavenhandel zu Lande. Völkerrechtlich geächtet wurde die Sklaverei in der Berliner Kongo-Akte von 1885 und durch die Antisklaverei-Akte der Brüsseler Konferenz von 1889/90. Laut dem englischen konservativen Premierminister Lord Salisbury war die Berliner Kongo-Akte von 1885 die erste Konferenz in der Geschichte der Menschheit, die aus purer Humanität willen stattfand.

    Der britische und französische Kolonialismus in Afrika unterscheidet sich von allen anderen imperialistischen Formationen, insofern er sich primär dem Impuls verdankte, für ein universales Prinzip zu intervenieren. Koloniale Intervention und Präsenz beseitigten schließlich das sklavistische System, wie der amerikanische Historiker Seymour Drescher betont: „Die hauptsächlichen Initiativen zur Zerstörung des Systems in Afrika hingen anfänglich an der weitergehenden Entwicklung der europäischen Zivilgesellschaft und deren öffentlicher Meinung.“

    War der humanitäre Interventionismus (das militärische Eingreifen) ein bloßer Vorwand für imperialistische (unterwerferische) Expansion? Suzanne Miers und andere Forscher meinen dies mit guten Gründen. Gewiss, die weltweite Abschaffung der Sklaverei, innerhalb von einem Jahrhundert, vollzog sich just in der Zeit der hegemonialen (in der Zeit der Vorherschaft und Überlegenheit) und imperialen Dominanz der europäischen Kultur, was Jürgen Osterhammel bündig kommentiert: „Nirgendwo in den Imperien der Briten oder Niederländer, Franzosen oder Italiener war es statthaft, andere Menschen zu kaufen, zu verkaufen, zu verschenken oder ihnen ohne staatliche Beauftragung, also im Strafvollzug, schwere körperliche Grausamkeiten zuzufügen.“ Heißt das, den „Imperialismus“ rechtfertigen? So stupide die Frage auch sein mag, die Antwort, egal wie sie ausfällt, ist eine geschichtsphilosophische.

    Die britischen und französischen Interventionen öffneten Afrika nach einer tausendjährigen Geschichte von blutigster Gewalt und Völkermorden neue Wege, freilich unter kolonialer Aufsicht. Die Investitionen und der Aufwand waren höher als die Gewinne. In unseren Blick kommt ein intentionales Handeln, das sich über ökonomische „Sachzwänge“ hinwegsetzte. Ein geschichtstheoretisches Problem: Wenn die Sklaverei abzuschaffen den intervenierenden Mächten hohe Kosten brachte, welche sich nicht rentierten, wieso betrieben die politischen Eliten dann ein solch sinnloses Unternehmen? Seymour Drescher nannte die Abolition einen „Econocide“ – die politische Ermordung eines hochprofitablen ökonomischen Systems (einen ökonomischen Suizid). Das bringt „materialistische“ Historiker in konzeptionelle Verlegenheit, sie bevorzugen ökonomisch-naturwüchsige Prozesse und stehen ratlos vor intentionalem Handeln, das sich ökonomischer Motivierung entzieht.

    Die Visionäre des Abolitionismus hatten keine koloniale Herrschaft vorhergesehen. Diese Dialektik – dass ein anderes historisches Ergebnis sich einstellt als das bezweckte – ist der Normalfall in der Geschichte; sie wird augenfällig bei allen Bemühungen, humanitäre Ideale politisch zu verwirklichen. Was wäre die Alternative zum Kolonialismus des humanitär legitimierten Intervenierens gewesen? [3] Drescher antwortet unverblümt: „Es ist durchaus vorstellbar, dass das kontinuierliche Anwachsen des Versklavens auch ohne den exogenen (äußeren) Druck des Abolitionismus zum Erliegen gekommen wäre, durch Krisen genozidartiger Entvölkerung.“ Hätte man die autodestruktiven (selbstzerstörerischen) Prozesse laufen lassen, wäre Afrika demnach heute entvölkert. Oder es wäre, wie ich vermute, bis heute ein Sklavenlieferant in großem Maßstab. Und die Rückkehr der Sklaverei in die sklavenfreien Zonen der Welt wäre überhaupt nicht aufzuhalten.

    [3] Ich würde den Kolonialismus keineswegs als ein humanitäres Intervenieren betrachten. Es waren wohl zwei gegensätzliche Komponenten vorhanden. Einerseits der Abolitionismus, der humanitäre Ziele verfolgte. Anderseits gab es auch die rein auf Gewinn orientierte Komponente, die vorwiegend ökonomische Ziele verfolgte und die Menschenrechte dabei mit Füßen trat.

    Der Kampf für die Abolition der Sklaverei ist ein einzigartiges welthistorisches Phänomen; er entstammt der westlichen Kultur. In sämtlichen anderen Hochkulturen fehlt davon jegliche Spur. In der islamischen Welt existiert nach Auskunft des englischen Wirtschaftshistorikers William Gervase Clarence-Smith bis heute eine maßgebliche Fatwa (ein islamisches Rechtsgutachten), die grundsätzlich die Sklaverei untersagt. Stattdessen gilt Sklaverei als vorläufig nicht praktizierbar. In China hatten die Kaiser bis zum achtzehnten Jahrhundert die Sklaverei de facto zum Verschwinden gebracht, freilich mit rein administrativen Maßnahmen, ohne prinzipielle Begründung. Aber nur die prinzipielle Begründung kann ein für allemal verhindern, dass ein überwundenes Übel lautlos zurückkehrt. Woher also diese westliche Besonderheit?

    Jürgen Osterhammel hat auf eine merkwürdige Dichotomie (Zweiteilung) aufmerksam gemacht: Die europäischen Mutterländer waren, von Ausnahmen abgesehen, frei von Sklaverei; sie war auf den amerikanischen Kontinent ausgelagert. Diese Dichotomie erlaubte den erfolgreichen Angriff auf die Sklaverei. Bezeichnenderweise fand der „clash of civilizations“ genau dort statt, wo die Kulturgrenze mitten durch einen Staat hindurchging, nämlich in den Vereinigten Staaten. Hier musste die Entscheidung zwischen zwei politischen Systemen und zwei unvereinbaren Kulturen fallen; hier wurde von 1861 bis 1865 der schwerste Krieg des neunzehnten Jahrhunderts ausgetragen, in dem 360 000 Soldaten des Nordens dafür starben, dass der Sklaverei zunächst eine Grenze und dann ein Ende gesetzt wurde.

    Kriege zur Selbstbefreiung gab es in der Weltgeschichte viele, Kriege zur Befreiung anderer sind ein seltenes und neues Phänomen. Die totale Niederlage des mächtigsten sklavistischen Staates (der Süden der Vereinigten Staaten) brachte die Kräfteverhältnisse auf dem ganzen Globus zum Kippen. Diese Dichotomie ist der Schlüssel zur Erklärung jenes makrohistorischen Prozesses, dessen Ergebnis wir Abolition nennen. Benutzen wir ihn.

    Die stärkste Triebkraft des Abolitionismus waren die Freikirchen Englands und Nordamerikas. Warum hatten sie einen solchen Erfolg? Erstens agierten sie in rechtlichen und politischen Verhältnissen, die sich mit persönlicher Unfreiheit schlecht vertrugen, zweitens stießen sie auf eine jahrhundertealte geistige Empfänglichkeit für antisklavistische Argumente. Eine umfangreiche politische Semantik (Sprachwissenschaft) bereitete den evangelikalen Abolitionismus vor; in den Debatten zirkulierten Argumente, die bis in die Antike zurückreichen. Gelehrte mit vulgärmarxistischem Gepäck kennen freilich solche Texte nicht. Wer miterlebt, wie ein Sklavereiforscher auf einer internationalen Konferenz die Aufklärung pauschal rassistisch nennt und anschließend herumeiert, wenn man ihn auffordert, Quellenbelege dafür anzuführen, weiß, was die akademische Stunde geschlagen hat. Um zu erklären, wie radikale Diskurse einer vergangenen Epoche in späteren Zeiten plötzlich „zünden“, unter neuen sozialen, politischen und diskursiven Konstellationen, bedarf es eines ganz anderen methodischen und konzeptionellen Vermögens sowie solider Hermeneutik (Interpretation).

    Es gelang den Evangelikalen, einen Naturbegriff zu aktualisieren, den man gegen alle menschlichen Institutionen ausspielen konnte. Woher stammt er? Von östlichen Kirchenvätern im Römischen Reich. Dort schossen in der konstantinischen Ära Sekten empor, deren religiöse Radikalität mit der Sklaverei kollidierte. In einer Predigt Bischofs Gregor von Nyssa (Türkei) um 370 lesen wir: „,Ich habe Sklaven und Aufwärterinnen gekauft.’ Was sagst du da? Du verurteilst einen Menschen zur Sklaverei, dessen Natur frei ist und autonom. Und du machst Gesetze gegen Gott, indem du das Gesetz umstürzt, welches er für die Natur gemacht hat. Denjenigen, der geboren wurde, um Herr der Erde zu sein, denjenigen, der in die Herrschaft eingesetzt wurde vom Schöpfer, den unterwirfst du unter das Joch der Sklaverei; und damit übertrittst du und bekämpfst du im Vollsinne das Gebot Gottes.“

    Die Perfektion der Argumente erstaunt; demnach hatten Kontroversen auf hohem Niveau stattgefunden. Für römische Juristen stand fest, dass im „Ius naturale“ (Recht der Völker) alle Menschen frei und gleich waren. Aber im Recht der Völker – Ius gentium – waren sie das nicht notwendigerweise, denn auf dieser Rechtsebene existierten menschliche Institutionen wie Krieg, Eigentum, Ehe und eben auch die Sklaverei. Das Naturrecht wird somit im Kulturzustand gebrochen; das von Menschen gesetzte ist höher als das natürliche; daher ist die Sklaverei kulturell berechtigt und vernünftig. Dieses Verhältnis kehrt Gregor um; er stellt das Gesetz der Natur über die menschlichen Institutionen. Diese sind illegitim, wenn sie dem Recht der Natur widersprechen. Warum ist das so? Weil Gott als Schöpfer der Natur das Gesetz gegeben hat, welches unantastbar bleibt. Das Naturrecht brechen heißt Gottes Gesetz brechen. So einfach ist das. Und weil es so einfach ist, verlor sich dieser Kunstgriff nicht mehr. Mehrere Theologen des lateinischen Westens nahmen ihn auf, so im neunten Jahrhundert Atto von Vercelli und Abt Smaragd von St. Michel.

    In keiner anderen Kultur sind bisher ähnliche Texte gefunden worden; und sollte man sie je finden, dann liegt höchstwahrscheinlich ein christlicher Einfluss vor. Selbstredend führten jene Ideen nicht umstandslos zur Abolition. Zwei Faktoren traten hinzu. Der erste war die städtische Freiheit: Im Laufe des Hoch- und Spätmittelalters breiteten sich im Europa nördlich der Alpen Hunderte von Gemeinwesen aus, in denen die persönliche Unfreiheit ausdrücklich verboten war. Dieser Ausschluss der Unfreiheit aus wachsenden Gebieten Europas macht verständlich, warum die Verfechter der Abolition später solch starken und wirkungsvollen Anklang fanden.

    Der zweite Faktor war die Übernahme von abolitionistischen Argumenten in juridische Texte: Das erste Rechtsbuch der Weltgeschichte, das die Leibeigenschaft und – a fortiori – (erst recht) die Sklaverei radikal verwirft, ist ein deutsches: der Sachsenspiegel von 1235 [4]: Unfreiheit sei Unrecht, das durch Gewohnheit für Recht gehalten werde. 65 Jahre nach dem Sachsenspiegel, 1299, setzte König Philipp der Schöne von Frankreich sämtliche Leibeigene auf den Krongütern von Valois in Freiheit. Die Präambel (Einleitung) seiner Ordonnanz (Erlasse des Königs) lautet: „Berücksichtigend, dass jegliches menschliche Geschöpf, welches nach dem Bild unseres Herrn geformt ist, kraft des natürlichen Rechts im allgemeinen frei sein muss“, wolle der König nicht, dass „diese natürliche Freiheit oder Befreitheit so ausgelöscht und verdunkelt werde vom so verhassten Joch der Sklaverei, dass die Männer und Frauen, die in den oben genannten Orten und Ländereien wohnen, während sie leben, als Tote behandelt werden.“

    [4] Der Sachsenspiegel ist das bedeutendste und, gemeinsam mit dem Mühlhäuser Reichsrechtsbuch, das älteste Rechtsbuch des deutschen Mittelalters.

    Die Berater des Königs konnten sich ausrechnen, welche Wirkung diese Präambel entfalten musste. Dass die Unfreiheit dem natürlichen Recht widersprach, wussten alle Juristen; doch die Menschen befanden sich nicht im Naturrecht, sondern im Ius gentium (Völkerrecht). Die Präambel erhebt dagegen das natürliche Recht zu einer übergeordneten Leitlinie. Damit bricht sie mit der Tradition des römischen Rechts und erzeugt die ideelle Matrix für die Idee der Menschenrechte. Falls Juristen auf den Gedanken verfielen, dass die königlichen Dekrete nicht bloß für die Krongüter galten, sondern für das Königreich Frankreich insgesamt, dann wurde die persönliche Unfreiheit zu einem illegitimen Zustand. Eben das geschah, obschon langsam.

    Was wäre geschehen, wenn man die abolitionsfördernden Argumente aus der Spätantike nicht mehr im Speicher des kulturellen Gedächtnisses vorgefunden hätte? Dann wäre das Missbehagen an der Unfreiheit im dreizehnten Jahrhundert wahrscheinlich versackt in Appellen, die unfreien Menschen nicht unmenschlich zu behandeln. Von solchen Mahndiskursen wimmelt es in vielen Kulturen und Religionen. Aber just moralische Appelle zielen nirgendwo auf die Idee der Abolition. Deshalb beginnt die Geschichte der Abolition nicht erst mit den berühmten spanischen Diskussionen des sechzehnten Jahrhunderts.

    1537 verbot Papst Paul III., Indianer sowie Völker, die künftig noch entdeckt würden, zu versklaven. Kaiser Karl V. untersagte, diese päpstliche Bulle in seinem Reich zu verbreiten. Am 16. April 1550 befahl er indes, sämtliche Eroberungen zu stoppen, bis die juristischen und theologischen Fragen geklärt seien. Zwar fürchtete der Kaiser bloß um sein Seelenheil; doch gerade hier liegt die Pointe: Wenn zur Frage wurde, ob es eine Todsünde war, nichtchristliche Menschen zu versklaven, dann war eine kulturelle Situation eingetreten, wie es sie in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hatte.

    1550 kam es darüber zur berühmten Disputation (Streit- oder Lehrgespräch) zwischen Sepúlveda und Bartolomé de Las Casas. Dieser schrieb in einem Brief an den Indienrat der spanischen Krone 1552, die Sklaverei der Indianer verstoße gegen die „Regeln der Menschenrechte“; damit war die Idee der Menschenrechte geboren.

    Die Virulenz (Konsequenz) der spanischen Diskussionen zeigte sich, als 1570 erstmals ein politischer Philosoph, Jean Bodin, prinzipiell verlangte, die Sklaverei abzuschaffen: Sie widerspreche dem Gesetz Gottes und der natürlichen Vernunft. So dachten viele, ein Jahrhundert bevor protestantische Prediger im englischsprachigen Raum ihre Kampagne begannen. Denn das Parlament von Guyenne entschied 1571 einen Freilassungsprozess mit der Begründung, „Frankreich, die Mutter der Freiheit, gestattet keinerlei Sklaverei“. Setzten Sklaven den Fuß auf den Boden des Mutterlandes, so sollten sie sofort als frei gelten, wie ein Urteil Ludwigs XIV. 1691 nochmals einschärfte. Das Pariser Parlament hat den Code Noir, das Sklavengesetz Ludwigs XIV. von 1685, darum nicht registriert; die Juristen fürchteten, dass damit das Königreich in zwei Gebiete auseinanderbräche, in welchen unterschiedliche Rechte gegolten hätten.

    Und so verlief zwischen dem Recht im Mutterland und demjenigen in den Kolonien eine Trennlinie. Diese Dichotomie (Zwiespalt) war der Hebel, um das sklavistische System umzustürzen. Was hier verboten blieb, war dort erlaubt; erlaubt – doch immer umstritten, daher mit angefochtener Legitimität. Stieg die Umstrittenheit über einen gewissen Pegel, dann musste man die Sklaverei auch in den Kolonien abschaffen. Dass diese Umstrittenheit quälender wurde, bis zur Unerträglichkeit, das verdankt die Menschheit den Deutungskämpfen schmaler religiöser und intellektueller Eliten, die ein universales Prinzip über alle kulturellen Sonderrechte stellten. Jetzt, wo allenthalben vielfältigste Formen der Unfreiheit (in Form des Islam) in die ehemaligen „Mutterländer“ zurückkehren, ist kulturelle Anamnesis (Erinnerung) und Besinnung auf die Kosten der Freiheit intellektuelle Pflicht.





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  2. #2
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    AW: Dürfen Menschenrechte gegen andere Kulturen durchgesetzt werden?

    Und da soll noch einmal jemand sagen, die Abschaffung der Unfreiheit auf der Erde und das Ringen um die Gleichheit vor Gott habe nichts mit der Durchdringung der Welt mit dem Christentum zu tun.

    Es waren die Weltlichen Herrscher und deren Interessen, die die Unterdrückung der Menschen am Leben erhalten haben!

    Leider wird dieser schwurbelige akademische Text für viele Leute kaum Lesbar sein. Aber es ist gut, wenn sich auch Intellektuelle mit diesem Thema auseinandersetzen und sogar die sklavische Struktu des Islams verstehen!

    Chapeau! für diesen Artikel.

  3. #3
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    AW: Dürfen Menschenrechte gegen andere Kulturen durchgesetzt werden?

    Die Sklaverei wäre nie abgeschafft worden, hätten sich die Sklaven freiwillig zum Sklavendienst gemeldet. In Islamischen Staaten ist die Mehrheit der Bevölkerung für die Scharia,legen die meisten Frauen freiwillig den Schleier an und sind aufgrund ihrer religiösen Überzeugung keineswegs der Meinung unterdrückt zu werden. Wie also will man hier ansetzen, wen wovon befreien? Etwas anderes sind die gewaltsamen Expansionen des militanten Islam, wie gegenwärtig in Afrika oder auch in Tailand. Sobald Menschen gegen ihren Willen dazu gezwungen werden zum Islam zu konvertieren, oder ermordet werden, nur weil sie keine Muslime sind, ist ein Eingreifen berechtigt

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