DIW-Chef Zimmermann

"Ohne Migranten müssten die Deutschen mehr Steuern zahlen"

Kosten muslimische Einwanderer mehr, als sie dem deutschen Staat nützen? Das behauptet Thilo Sarrazin. Klaus Zimmermann, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, widerspricht im SPIEGEL-ONLINE-Interview: Sarrazins Annahmen seien "nicht seriös".

SPIEGEL ONLINE: Herr Zimmermann, Bundesbank-Vorstand Sarrazin warnt vor dem steigenden Bevölkerungsanteil muslimischer Einwanderer. Sehen auch Sie die Gefahr, dass die Deutschen bald "zu Fremden im eigenen Land werden"?

Zimmermann: Nein. Es ist zwar ein demografischer Fakt, dass die Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund steigt, ihr Bevölkerungsanteil nimmt sogar kräftig zu. Die Zeiten allerdings, in denen Deutschland das Hauptzielland in Europa für Migranten und Flüchtlinge war, sind längst vorbei. Das Ausländerzentralregister weist für 2009 sogar einen leichten Rückgang der ausländischen Bevölkerung aus.

SPIEGEL ONLINE: Sarrazin sieht das Problem aber vor allem bei den Muslimen, die schon im Land sind und die vergleichsweise mehr Kinder bekommen. Kann es wirklich sein, dass die Zahl der Deutschen bis 2100 auf 20 Millionen sinken wird, während die muslimische Bevölkerung auf 35 Millionen wachsen kann?

Zimmermann: Rechnet man die heutigen Geburtenraten stumpf und statisch bis zum Jahr 2100 hoch, dann kann man auf Sarrazins Zahlen kommen. Die deutsche Bevölkerung schrumpft ja tatsächlich. In Wirklichkeit passen sich aber auch die Geburtenraten der verschiedenen Migrantengruppen langsam an die der Deutschen an. Die Zahl der Menschen in diesem Land nimmt also insgesamt ab. Deshalb sind wir ja gerade auf gezielte Zuwanderung angewiesen.

SPIEGEL ONLINE: Das sieht Sarrazin anders: "Heute wissen wir, dass Fabriken und Dienstleistungen wandern müssen, nicht die Menschen", schreibt er.

Zimmermann: Das ist vollkommen falsch. Wir werden einen erheblichen Fachkräftemangel bekommen. Wenn keine qualifizierten Kräfte zuwandern, wird Deutschland ein massives Problem im internationalen Wettbewerb haben. Bereits 2015 werden drei Millionen Arbeitskräfte fehlen.

SPIEGEL ONLINE: Sarrazin bezeichnet die Gastarbeitereinwanderung in den sechziger und siebziger Jahren als "gigantischen Irrtum". Hat er Recht?

Zimmermann: Nein. Die Zuwanderung dieser Zeit hat enormes wirtschaftliches Wachstum gebracht. Das Problem ist nur, dass in den Folgejahren zwei fatale Fehler gemacht wurden.

SPIEGEL ONLINE: Welche?

Zimmermann: Erstens hat die Politik viel zu wenig Anstrengung unternommen, die Migranten zu integrieren. Und zweitens hätte man den Zuzug in den siebziger Jahren niemals so erschweren dürfen.

SPIEGEL ONLINE: Obwohl die Arbeitslosigkeit rapide stieg?

Zimmermann: Ja. Denn viele Einwanderer sind nur deshalb geblieben und haben ihre Familien nachgeholt, weil sie wussten, dass sie sonst Schwierigkeiten gehabt hätten, wieder ins Land zu kommen. Hätte man die Grenzen für die Fachkräfte offener gelassen, wären vermutlich viele in die Heimat zurückgekehrt, wohlwissend, dass sie wieder in Deutschland arbeiten können, wenn die Zeiten besser sind.

SPIEGEL ONLINE: Stattdessen leben nun Muslime in der zweiten und dritten Generation in Deutschland, die laut Sarrazin mehr aus der Staatskasse nehmen als sie einzahlen.

Zimmermann: Wir haben einmal berechnet, dass bei den Ausländern in Deutschland das Gegenteil der Fall ist. Um die Zahlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte zu gewährleisten, müsste jeder Deutsche rund hundert Euro im Jahr mehr zahlen, wenn es die ansässige ausländische Bevölkerung nicht gäbe.

SPIEGEL ONLINE: Gilt das auch für die muslimischen Einwanderer?

Zimmermann: Nach Religionszugehörigkeit haben wir das nicht aufgeschlüsselt. Es gibt keinen Grund, einen Unterschied zwischen Muslimen und Christen zu machen.

SPIEGEL ONLINE: Sarrazin behauptet auch, dass die finanziellen und sozialen Kosten der muslimischen Migration der letzten Jahrzehnte "weitaus höher waren als der daraus fließende wirtschaftliche Ertrag". Gibt es eine Zahl, die das belegt?

Zimmermann: Nein. Um so etwas zu berechnen, müsste man so viele strittige Annahmen zugrunde legen, dass das nicht seriös wäre.

Das Interview führte Katrin Elger