«Es steht im Koran», sagen Muslime, um islamische Ansprüche auf Israel und Jerusalem zu rechtfertigen. Sie sollten den Koran genauer lesen
Juden sind «Besatzer» im Heiligen Land? Diesen Satz hört man in muslimischen Ländern und Gemeinden oft. Sie widersprechen damit ihrem eigenen Propheten.
In diesem Jahr feiert Israel sein fünfundsiebzigjähriges Bestehen – und damit auch die Garantie einer sicheren Zuflucht für Jüdinnen und Juden weltweit. Eine grosse Mehrheit der Muslime erkennt jedoch das Land Israel nicht an und beharrt darauf, dass das Land den Palästinensern gehöre. In den Debatten der islamischen Welt und in den Gemeinden der Muslime im Westen ist nicht die Rede vom Staat Israel, sondern nur von Aggressoren, dem «zionistischen Gebilde» oder der «zionistischen Besatzung».


Aber wie begründen die Muslime das Recht der Palästinenser auf das Land? Wissen die Muslime, wie sich der Koran über Israel äussert? Legitimiert dieser die religiösen Ansprüche auf dieses «Land»? Immer wieder stellte ich meinen muslimischen Gesprächspartnern die Frage, wo im Koran stehe, dass «Palästina» nicht den Juden gehört. Die Antwort lautet: «Es steht im Koran» – und das gilt als unschlagbares Argument.




Auf Jerusalem wird kein Anspruch erhoben
Um welchen koranischen Vers es sich handelt, konnte mir niemand sagen. Viele Muslime scheinen den Koran nicht oder nicht gut genug zu kennen. Ich bin mir bewusst, dass es in der Debatte im muslimisch-palästinensischen Milieu weitere Elemente zu berücksichtigen gibt. Zum einen sind nicht alle Palästinenser Muslime, zum anderen wächst die Komplexität des Konfliktes mit dem Blick auf die vielen anderen Faktoren, die jenseits der Religion eine Rolle spielen. Jedoch möchte ich mich hier auf diese Rolle der Religion fokussieren.


Nach Mekka und Medina wird Jerusalem (al-quds) als die dritte heilige Stadt der Muslime betrachtet. Aus der muslimischen Tradition wissen wir, dass die Gemeinde des Propheten nach der Auswanderung von Mekka nach Medina im Jahr 622 achtzehn Monate lang ihr Ritualgebet Richtung Jerusalem verrichtete. Wegen religiös-politischer Auseinandersetzungen zwischen dem Propheten Mohammed und den in Medina lebenden Juden wurde diese Praxis abgeschafft beziehungsweise geändert, und die Muslime begannen, Richtung Mekka zu beten.


Eine ausserordentliche Wertschätzung wird Jerusalem als Schauplatz der nächtlichen Himmelsreise des Propheten zuteil. Der erste Vers der Sure 17 spricht davon, Gott habe Mohammed nachts von der heiligen Kultstätte in Mekka nach der fernen Kultstätte in Jerusalem reisen lassen. Daraus leiten die Muslime ihr Recht auf das Land Israel ab. Im Koran kommt jedoch weder der Name Jerusalem explizit vor, noch wird erwähnt, Jerusalem sei die Stadt der Muslime. Auch der Name «Palästina», der für die Region spätestens ab römischer Zeit etabliert war, kommt im Koran nicht vor.


Aufruf an die Kinder Israels: «Bewohnt das Land!»
Aus dem Koran geht aber sehr wohl hervor, dass der Prophet zu Beginn seiner Karriere als politisches Oberhaupt in Medina die Religion der Juden neben den Christen als gleichwertige Religion anerkannte. Er führte sogar einen friedlichen Dialog mit ihnen. Er war darum bemüht, die Gemeinsamkeiten zwischen dem Judentum und dem Islam zu betonen. Letzten Endes diente das seinem Aufruf, wonach sich die Juden zur neu verkündeten Religion bekehren sollten. Das aber wollten die Juden nicht, und deshalb entwirft der danach in Medina offenbarte Teil des Koran (622–632) einen regelrechten Sündenkatalog mit antijüdischer Polemik. Trotz dieser Judenfeindschaft spricht der Koran mehrmals den Juden das Recht auf Eretz, das «Land» (arḍ), zu – worunter der biblische Kontext das spätere «Land Israel» meint.




Insgesamt zehnmal spricht der Koran von der Gabe des «Landes» an die Kinder Israels. In dem ersten Vers der in Mekka offenbarten Sure 17 ist die Rede von dem «Land, das wir gesegnet haben». Die muslimischen Korankommentatoren sind sich darüber einig, dass es sich dabei um das Land des biblischen Israel handelt. Im Zusammenhang mit dem Exodus, dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, ist in derselben Sure Folgendes zu lesen: «Und wir sagten zu den Kindern Israels: ‹Bewohnt das Land!›». Mit einem Imperativ wird den Israeliten das Land Israel zugewiesen, in das sie ausziehen sollen. Diesen Imperativ gibt es auch in der folgenden Koranstelle: «Nehmt diese Stadt zur Wohnung». Die muslimische Koranexegese erwähnt hierbei Jerusalem (Quds).


Deutlicher spricht der Koran über die Gabe des «Landes» an die Israeliten und die konkrete Verbindung dazu in einer der letzten in Mekka offenbarten Suren. Dort steht Folgendes: «Und wir gaben dem Volk, das unterdrückt worden war, die östlichen und westlichen Gegenden des Landes (d. h. das ganze Land) zum Erbe, das wir gesegnet haben. Und das schöne Wort (der Verheissung) deines Herrn ging an den Kindern Israels in Erfüllung (zum Lohn) dafür, dass sie geduldig waren.»


Der Koran folgt der alttestamentarischen Tradition
Der historische Kontext bei der Entstehung dieser koranischen Stelle sind die heftigen Auseinandersetzungen Mohammeds mit seinen Gegnern in seiner Heimatstadt Mekka, die ihn als Propheten ablehnten. Seine Auswanderung von Mekka nach Medina im Jahre 622 vergleicht der Koran mit der biblischen Verheissung des Landes Israel an die Juden – und somit galt diese Mohammed als Vorbild bei seiner Auswanderung nach Medina. Mohammed und seine Gemeinde waren in Mekka unterdrückt wie die Juden in Ägypten.


Noch in der letzten in Medina offenbarten Sure wird die enge Verbindung zwischen dem Land Israel und den Juden betont. Folgendes ist da zu lesen: «Und (damals) als Mose zu seinen Leuten sagte: Leute! Gedenkt der Gnade, die Gott euch erwiesen hat! (. . .) Leute! Tretet ein in das Heilige Land, das Gott euch bestimmt hat, und kehrt nicht um, so dass ihr den Schaden habt!»




Der Koran folgt uneingeschränkt der alttestamentlichen Tradition und bekräftigt mit Nachdruck die Verheissung des Landes an die Juden. Die Übernahme der biblischen Überlieferung in den Koran verweist auch deutlich darauf, dass nicht die Muslime die Erben des Heiligen Landes und Jerusalems sind. Für Mohammed blieb der Tempel in Jerusalem der Besitz der Kinder Israels. Er war kein Schauplatz seiner politisch-religiösen Interessen, weil es noch weit ausserhalb seines Machtbereiches lag.


Selbstverständlich könnten Muslime einen Anspruch auf das Land Israel geltend machen, wenn das historische Wirken des Propheten damit verbunden gewesen wäre. Das war jedoch nicht der Fall. Die Frage, wem das Land gehört, stellte sich zur Zeit des Propheten nicht, es war Teil des Byzantinischen Reiches und wurde sowohl von Juden als auch von christlichen Syrern, Aramäern, Arabern und anderen Gruppen bewohnt. Dass eine Moschee auf dem Fundament des alten jüdischen Tempels errichtet wurde, geschah erst unter der umaiyadischen Dynastie zwischen 687 und 691. Es ist aber nicht zu übersehen, dass die Muslime in den heutigen Diskussionen zum Nahostkonflikt die Rezeption der biblischen Traditionen im Koran, die den Juden Rechte auf Israel zusprechen, ausser acht lassen.


Die Verehrung Jerusalems ist ein neueres Phänomen
Einige der zwei Jahrhunderte nach dem Tod Mohammeds kompilierten Aussagen des Propheten, deren Authentizität jedoch mit Vorsicht zu geniessen ist, verweisen auf die Vorzüge des Gebets in Jerusalem. Mohammed soll gesagt haben, die besten Menschen seien jene, die nach Jerusalem pilgerten. Er soll auch gesagt haben, dass ein Gebet dort so viel Werte wie tausend Gebete an anderen Orten habe. Des Weiteren heisst es in einer anderen postkoranischen Überlieferung: «Wer nach Jerusalem pilgert und dort betet, wird noch im selben Jahr von allen seinen Sünden gereinigt.»




Zwar trugen solche überlieferten Aussagen des Propheten dazu bei, dass sich ab dem 9./10. Jahrhundert immer wieder Muslime in Jerusalem niederliessen. Jedoch enthält auch die Tradition des Propheten, als zweite kanonische Quelle des Islam, keinen Hinweis darauf, dass Jerusalem den Muslimen gehöre. Das religiöse und politische Wirken des Propheten zeigt deutlich, dass er kein Interesse an Jerusalem hatte. Daher kann kein muslimischer Anspruch auf Jerusalem erhoben werden. In seinem Werk «Anleitung für den Besuch Jerusalems» betrachtet selbst der ultrakonservative Gelehrte Ibn Taimiyya (1263–1328) die Verehrung Jerusalems kritisch. Sie gilt ihm als unerlaubte Innovation, die mit dem islamischen Glauben nichts zu tun habe.


Nirgendwo im Koran steht, dass dieses «Land» den Muslimen heilig oder gar verheissen sei. Die religiöse Aufladung des Heiligen Landes und «Palästinas» ist eine muslimische Projektion eigener Phantasien, die im Laufe der Zeit und vor allem nach der Gründung des Staates Israel entstanden ist.


Das koranische Recht der Palästinenser auf das Land Israel entpuppt sich als ein Gerücht. Diese Behauptung wird durch antisemitische Verschwörungstheorien noch verstärkt. Dass in den letzten Jahren einige arabisch-muslimische Regierungen, wie etwa von Marokko, Bahrain, des Sudans und der Vereinigten Arabischen Emirate das Land Israel anerkannten, ist ein grosser Schritt in Richtung Frieden zwischen Juden und Muslimen.


Hoffnung für die grosse Wende kommt aus Pakistan. Der geistliche Vorsitzende der pakistanischen Partei Jamiat Ulema-e Islam, Maulana Mohammed Khan Sherani, veröffentlichte im Dezember 2020 eine Erklärung, in der zu lesen ist: Der Koran betone, dass Israel den Juden gehöre. Sherani war zwischen 1988 und 2018 Mitglied der Nationalversammlung Pakistans. Vor laufender Kamera sagte er: «Das Land Israel gehört den Juden und nicht den Palästinensern.» Er selber stehe ein für eine Normalisierung der Beziehungen mit dem Staat Israel. Weiter empfahl er den Muslimen, den Koran genau zu lesen.




Ungeachtet all dessen ist festzuhalten, dass ein völkerrechtlicher Anspruch auch dann nicht gegeben wäre, wenn der Koran Jerusalem den Muslimen zuschreiben würde. Und zugleich hat die angestammte palästinensische Bevölkerung Jerusalems oder des Westjordanlands einen legitimen rechtlichen und politischen Anspruch auf ihren Grundbesitz.


Abdel-Hakim Ourghi ist Islamwissenschafter, sein neues Buch «Die Juden im Koran. Ein Zerrbild mit fatalen Folgen» erscheint im Mai 2023 in Claudius-Verlag.
https://www.nzz.ch/feuilleton/es-ste...sen-ld.1727384