Berlin: Klimaaktivistin nennt Richterin eine „Komplizin der Lebenszerstörung“

Letzte Generation: Helga H. wurde am Freitag der Nötigung und des Widerstands schuldig gesprochen. Es ist erst das siebte von mehr als 100 Verfahren.

Vor Gericht: Helga H. (56) aus Hessen.

Der Druck ist groß und schon spürbar, bevor der Prozess im Saal 1101 im Amtsgericht Tiergarten beginnt. Der Saal ist nicht mal 50 Quadratmeter groß – doch neben Richterin, Stenografin, Staatsanwalt, Angeklagter und Verteidigungsanwalt haben insgesamt 20 Pressevertreter und Klimaaktivisten sich in den Raum gedrängt. Helga H., 56 Jahre alt, ist heute wegen ihrer Teilnahme an Protestaktionen der Letzen Generation wegen Nötigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte angeklagt. Alle wollen wissen, wie der Prozess für sie endet. Zuschauer, die zu spät kommen, werden an der Tür abgewiesen.

Helga H., die Angeklagte, ist eine schmale Frau mit dichtem, ergrautem Haar bis kurz über die Schultern. Die Malerin aus Hessen mit Schlaghose und Strickpullover passt vom Alter nicht zum typischen Profil der Aktivisten der Letzten Generation. Und gerade weil sie wohl so herausfällt aus dem Bild, erinnern sich viele der Polizeibeamten an sie. Helga H. gibt zu, an den Protesten teilgenommen zu haben, am 24. und 26. Januar sowie am 9. Februar dieses Jahres. Meist stand sie am Rand, nur einmal, am Tegeler Weg, klebte sie sich selbst an den Asphalt.

Zum Auftakt des Prozesses spricht sie über ihre Angst am Vorabend der ersten Aktion, an der sie am 24. Januar „gewaltfrei und friedlich“ teilnahm. „Ich konnte kaum schlafen, konnte nichts essen und hatte Magenschmerzen“, sagt sie. „Ich wusste nicht, wie die Autofahrerinnen und Fahrer auf uns reagieren würden.“ Sie wollte eine politische Auseinandersetzung mit der Klimakrise erzwingen, sagt sie. Sie erzählt auch von ihrer Angst vor den Folgen der Klimakrise – vor Hitze und Dürre, die vor allem Menschen aus dem globalen Süden zur Flucht zwingen würden. Sie entschuldigte sich bei den Autofahrern, die von der Aktion betroffen wurden, sowie gegenüber den Polizeibeamten.


Mehrere Polizisten schildern die Ereignisse aus ihrer Sicht. So gibt ein Beamter zu, auch nicht genau zu wissen, wie er mit den Protestierenden umgehen solle. Tatsächlich waren die Ereignisse Anfang des Jahres noch recht neu. Die Polizisten hätten die Aktivisten mehrfach aufgefordert, die Straße zu verlassen. Im Winter vor knapp einem Jahr mussten die Polizisten erst noch jemanden bitten, Nagellackentferner zu besorgen. Erst dann konnten sie damit beginnen, die Hände der Aktivisten von der Fahrbahn zu lösen. Helga H., so ein Beamter, habe sich „nicht gewehrt“. Sie habe sich wegtragen lassen.


Helga H.'s Anwalt spricht von einem hohen Druck auf diesen Prozess. Schließlich findet er an dem Tag statt, an dem eine Radfahrerin für hirntot erklärt wurde. Eine heftige Diskussion war entbrannt wegen einer möglichen Mitverantwortung der Aktivisten der Letzten Generation. Die Erwartungen seien hoch, sagt er. Er stellt einen Antrag darauf, die Urteilsverkündung zu verschieben – aus seiner Sicht würden Teile der Presse aktuell „nach drakonischen Strafen schreien“ für Aktivisten wie seine Mandantin. Er bittet um die „Unabhängigkeit der Justiz“, die keinem Druck von außen nachgeben solle. Die Richterin weist den Antrag als unbegründet zurück.


Die Angeklagte benennt in ihrem Redebeitrag immer wieder den Klimanotstadt und beendet ihren Vortrag mit einem persönlichen Appell an die Richterin. Sie sagt: „Gerichte haben eine Verantwortung, ein Zeichen für den Überlebenswillen der Menschheit zu setzen. Sie müssen sich entscheiden, auf welcher Seite der Geschichte Sie stehen wollen.“ Wenn die Richterin sich für eine harte Bestrafung entscheiden würde, dann würde sie sich „zur Komplizin der Lebenszerstörung von Menschen im globalen Süden“ machen, sagt Helga H.


Verteidiger: Justiz muss keinem Druck von außen nachgeben

Die Richterin trifft allerdings eine ganz andere Entscheidung – und betont, nur „juristische Erwägungen“ hätten zu ihrem Urteil geführt. Helga H. wird schuldig gesprochen und erhält eine Geldstrafe von 1350 Euro. Ihr Einsatz für den Klimaschutz sei nicht zu überhören, sagt die Richterin. „Aber davon ist nicht gedeckt, für die eigenen Ziele andere Personen in Geiselhaft zu nehmen.“ Eine Vielzahl von Autofahrern sei von den drei Aktionen betroffen gewesen; der Klimaschutz als Fernziel hätte dabei „außer Betracht zu bleiben“ und sei keine Rechtfertigung für die Aktionen.

Helga H.s Verteidiger hatte dafür plädiert, die Anklage gegen sie komplett fallen zu lassen. Er argumentierte, ihre Teilnahme an den Straßenblockaden sei eine legitime Protestform sowie Ausdruck der Versammlungs- sowie Meinungsfreiheit. Und auch die Forderung der Staatsanwaltschaft war recht mild: Das „bloße Festkleben“ erfülle die gesetzlichen Bedingungen des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte aus Sicht des Staatsanwalts nicht. Er wollte Helga H. nur weiterhin wegen Nötigung anklagen und empfahl eine Geldstrafe von 1050 Euro.

Der Fall Helga H. war der siebte dieser Art, der in Berlin verhandelt wurde. Anhängig sind mindestens 137 weitere Verfahren. In den wenigsten Fällen haben die Protestierenden ihren Strafbefehl angenommen. Es könnte also noch zu mehr Prozessen dieser Art kommen: Vielleicht mit immer weniger Publikum, weil sich der Ausgang ähneln wird.

Als das Urteil gesprochen wird, reagiert Helga H. kaum. Es ist ihre erste Verurteilung. Der Unmut ihrer Mitstreiter aber ist im Saal deutlich zu hören. Sie schütteln den Kopf, schnalzen mit der Zunge; der Vorschlag der Richterin, es gebe „vielfältige Wege, zu demonstrieren und Einfluss zu nehmen“, provoziert bei ihnen Gelächter. Einer der Sympathisanten nutzt die Gelegenheit ganz am Ende, als sich der Saal schon leert. In die Stille ruft er: „Wir haben noch drei Jahre, dann ist es zu spät.“

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