Am Verfassungsgericht war die Freilassung des Mannes umstritten. Dennoch stimmten fünf der acht Richter dafür, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen. Warum?

Eigentlich darf niemand wegen derselben Straftat zwei Mal verfolgt werden. Aber seit kurzem können mutmaßliche Schwerstverbrecher selbst dann vor Gericht gestellt werden, wenn sie einst freigesprochen wurden. Das Bundesverfassungsgericht will das nun genau prüfen - und hat die vorübergehende Freilassung eines Mordverdächtigen angeordnet. Der Mann soll vor vielen Jahren ein Mädchen vergewaltigt und getötet haben. Obwohl am Tatort DNA des Mannes gefunden wurde, soll er nun freikommen.

Die Karlsruher Richterinnen und Richter gaben einem Eilantrag des seit Monaten in Untersuchungshaft sitzenden Ismet H. teilweise statt, wie sie am Samstag mitteilten. Ob die Neuregelung verfassungskonform ist, sei offen und müsse erst geprüft werden.


Deshalb kommt der Verdächtige im Mordfall Frederike unter Auflagen frei, bis über seine eigentliche Verfassungsbeschwerde entschieden ist. Eine Sprecherin des Landgerichts sagte auf Anfrage, der Mann sei bereits am Freitag aus der U-Haft entlassen worden.


„Das heißt, dass es erst einmal nicht weitergeht bis nächstes Jahr im Januar“, sagte sie mit Blick den Prozess, dessen Start eigentlich für August geplant war. Der Staatsanwaltschaft Verden solle am Montag eine Frist zur Stellungnahme gegeben werden. Die Karlsruher Eilentscheidung bezieht sich ausschließlich auf die U-Haft.


Der Mord an Frederike von Möhlmann

Der Mann wird verdächtigt, das 17 Jahre alte Mädchen aus Hambühren bei Celle 1981 vergewaltigt und erstochen zu haben.


Am Abend des 4. November 1981 wollte Frederike von Möhlmann nach einer Chorprobe in der Celler Stadtkantorei nach Hause fahren. Nachdem sie niemanden erreichen konnte, der sie in die Gemeinde Hambühren bringt, muss sie den Entschluss gefasst haben, per Anhalter in ihren Heimatort zu fahren
.

Nach Rekonstruktionen der Polizei ist sie gegen 19.30 Uhr in den Wagen des Mordverdächtigen eingestiegen. Nach kurzer Zeit bog er in ein Waldstück ab, vergewaltigte und tötete sie mit elf Messerstichen. Vier Tage später wurde die grausam zugerichtete Leiche gefunden.


Bei den Tatortuntersuchungen konnten die Polizeibeamten Reifenspuren sicherstellen, die schnell den 22-Jährigen Kurden, Ismet H., in den Fokus der Ermittlungen rückten. Der aus Celle stammende Tatverdächtige wurde 1982 vom Landgericht Lüneburg zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach einer erfolgreichen Revision beim Bundesgerichtshof endete ein zweites Verfahren dann aber in einem Freispruch aus Mangel an Beweisen.


Erst 30 Jahre später brachte ein molekulargenetisches Gutachten des Landeskriminalamts Niedersachsen wieder Bewegung in den Fall.
Vater der Ermordeten gibt nicht auf: Wiederaufnahme der Ermittlungen

Nachdem der Vater von Frederike von Möhlmann die Polizei eindringlich bat, die Beweisstücke erneut zu untersuchen, konnte eine DNA-Spur festgestellt werden. Ende der 1980er Jahre war diese Technik noch größtenteils unbekannt und nicht Gegenstand der Ermittlungen. Schließlich konnten Spermaspuren sichergestellt werden, die eine Übereinstimmung mit Ismet H. aufwiesen.


Zu einem neuen Gerichtsprozess kam es jedoch nicht, weil eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens nur unter bestimmten Bedingungen möglich war, die zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben waren.


Im Jahr 2021 war es allerdings durch eine Gesetzesänderung möglich geworden, einen Strafprozess zuungunsten eines Verurteilten, wiederaufzunehmen.

Die Gesetzesänderung stößt auf viel Kritik

Die von Anfang an umstrittene Reform von Paragraf 362 der Strafprozessordnung war noch von der schwarz-roten Koalition auf den Weg gebracht worden. Vorher war es nur in eng begrenzten Fällen möglich, ein rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren zuungunsten des Angeklagten noch einmal aufzurollen - etwa wenn er ein Geständnis ablegt. Seit Ende 2021 geht das auch, wenn „neue Tatsachen oder Beweismittel“ auftauchen. Die Regelung ist aber auf schwerste Verbrechen wie Mord oder Völkermord beschränkt, die nicht verjähren.


Kritiker sehen den zentralen Grundsatz des Strafrechts verletzt, dass niemand wegen derselben Tat zwei Mal verfolgt werden darf. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte das Gesetz zwar unterzeichnet. Er regte aber gleichzeitig wegen der verfassungsrechtlichen Bedenken eine erneute Prüfung im Bundestag an.


Im Februar 2022 wurde der Verdächtige aufgrund der Gesetzesänderung erneut verhaftet. Im August dieses Jahres sollte am Landgericht Verden der Prozess beginnen.
Eilantrag stattgegeben, Mordverdächtiger wieder frei

Nach der Entscheidung des Gerichts kommentierte der Anwalt der Nebenklägerin: Es schmerze seine Mandantin, dass der Tatverdächtige wieder auf freiem Fuß sei. Er dürfe aber die Stadt nicht verlassen und müsse sich zwei Mal in der Woche bei den Behörden melden und den Ausweis abgeben. „Das sind sehr enge Auflagen und die können nur verhängt werden, wenn das Bundesverfassungsgericht das angegriffene Gesetz nicht als offensichtlich verfassungswidrig angesehen hat“, sagte Wolfram Schädler. Er sei daher sehr optimistisch für das Hauptverfahren beim Bundesverfassungsgericht und warte zunächst das weitere Vorgehen des Landgerichts in Verden ab.

Nach dem Tod des Vaters der Getöteten im Juni nimmt nun ihre Schwester als Nebenklägerin an dem Prozess teil.


Karlsruher Richter waren bei Entscheidung uneins

Am Verfassungsgericht war die Freilassung des Mannes umstritten. Nur fünf der acht Richterinnen und Richter des Zweiten Senats stimmten dafür, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen.


Am Ende setzte sich die Ansicht durch, dass dem Betroffenen sonst „erhebliche und irreversible Nachteile“ drohten: Sollte sich herausstellen, dass Paragraf 362 verfassungswidrig ist, säße er womöglich viele Monate zu Unrecht im Gefängnis.


Angesichts der Schwere des Vorwurfs tragen die Richter aber auch „dem staatlichen Interesse an einer effektiven Strafverfolgung Rechnung“. So sollen Auflagen sicherstellen, dass der Mann sich nicht absetzen kann. Er muss Ausweis und Pass abgeben, sich regelmäßig bei der Staatsanwaltschaft melden und darf die Stadt nicht ohne Erlaubnis verlassen. Die Anordnung gilt für höchstens sechs Monate.

https://www.berliner-zeitung.de/news...ssen-li.247376