Mitgliederschwund der Kirchen : Bald sind die Christen in der Minderheit

In einigen Monaten dürfte es so weit sein: Erstmals wird dann weniger als die Hälfte der Deutschen in einer der beiden großen Kirchen Mitglied sein. Für die Kirchen (und auch für das Land) bedeutet das Unterschreiten dieser Schwelle eine Zäsur. „In unserer Kirche steht eine Erneuerung an, deren Ausmaß und deren Radikalität wir wohl alle erst zaghaft ahnen“, sagte die neue EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus am Mittwoch kurz nach ihrer Wahl. Das ist nett gesagt, denn diese „Erneuerung“ bedeutet weniger Angebote in der Fläche und weitere Fusionen von Kirchengemeinden. Die evangelische Kirche wird eisern sparen und ihre Strukturen überprüfen müssen, die über Jahrzehnte oft genau an den falschen Stellen aufgebläht wurden. Kurschus sollte sich nicht wie ihre drei Vorgänger Käßmann, Schneider und Bedford-Strohm davor drücken, sich an die Spitze dieser Bemühungen zu stellen.


Die Kirchen werden sich aber auch überlegen müssen, wie sie als Vertreter einer Minderheit künftig der Gesamtgesellschaft gegenübertreten. In früheren Jahren setzten die Bischöfe dabei auf einen Dreiklang aus Mahnen, Warnen und Würdigen. Dieser Gestus zeugte einerseits von Zurückhaltung, schließlich mischte man sich nicht allzu direkt ein. Er zeugte aber auch von moralischer Selbstgewissheit. Am Ende merkten die Kirchen selbst, dass ein Opa, der aus seinem Ohrensessel heraus Zensuren verteilt, nicht sonderlich beliebt ist.


Also bemühte man sich, etwas frischer 'rüberzukommen. Der Traum des bisherigen Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm war es, seine Kirche in eine „Bewegung“ umzuformen. Die EKD sollte am besten so engagiert und lautstark wie „Fridays for Future“ sein. Das konnte nicht klappen. Wer tritt schon in die Kirche ein, bloß weil deren Bischof dieselbe politische Meinung hat? Umgekehrt gab es hingegen Kirchenmitglieder, die eine andere Meinung vertraten und daher sauer waren.
Es gibt kaum noch nichtreligiöse Gründe, religiös zu sein

Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, warum die Kommunikation Bedford-Strohms keine großen Früchte trug. Denn sowohl die Strategie des Mahnens, Warnens und Würdigens als auch die von „Fridays for Future“ sind im Kern semisäkular. Beide Ansätze setzten nicht auf die Überzeugungskraft der religiösen Botschaft, sondern stellten hauptsächlich darauf ab, dass in der Gesellschaft ein weitgehend anerkannter Zusammenhang zwischen Gott und dem Guten existiert. Das ist jedoch nicht mehr der Fall. Vor allem die katholische Kirche hat durch ihre Skandale viel vom moralischen Kredit des Christentums verspielt. Zur „Radikalität“ der fälligen Erneuerung gehört, dass die Kirchen sich dieser Situation stellen. In einer Gesellschaft, in der es kaum noch nichtreligiöse Gründe gibt, religiös zu sein, kann eine Kirche den nichtreligiösen Teil ihrer Kommunikation zurückfahren.


Annette Kurschus ist in dieser Lage vermutlich keine schlechte Wahl. Die Präses aus Westfalen zeigt anders als ihr Vorgänger bisher nicht den Drang, das Evangelium in die Begriffe der Parteipolitik zu übersetzen. Stattdessen blieb Kurschus recht beharrlich bei der Sprache der Bibel. Die mediale Präsenz ihres Vorgängers wird sie damit vermutlich nicht erreichen. Aber darauf kommt es gar nicht so sehr an wie oft angenommen. In einer Minderheitensituation muss eine Kirche vor allem auf die Qualität ihrer religiösen Kommunikation achten. Wenn die stimmt, werden dann und wann schon ein paar Leute hinhören.

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