Die nächste Beerdigung: Geheime Wahlen

Peter Grimm

Freie und geheime Wahlen sind eine Existenzvoraussetzung für jede Demokratie. Ihre Beschränkung oder gar Abschaffung macht jedwede demokratische Legitimation unmöglich. In einem Land, dessen Grundgesetz in knapp drei Wochen 72 Jahre alt wird und eine freiheitlich-demokratische Ordnung festschreiben sollte, müsste es unnötig sein, einen Artikel über einen innenpolitischen Vorgang mit einer solchen Binsenweisheit zu beginnen. Doch die Regierenden bauen im Corona-Ausnahmezustand das Gemeinwesen gerade in einem atemnberaubenden Tempo um. Und da fallen viele bisherige Selbstverständlichkeiten, darunter die geheime Wahl.
Am 15. März hatte ich an dieser Stelle nach den Landtagswahlen Rheinland-Pfalz schon einen Abschied von der geheimen Wahl beklagt, weil dort zwei Drittel der Stimmen per Briefwahl abgegeben wurden. Jetzt steht möglicherweise im Juni die erste reine Briefwahl zu einem Landesparlament ins Haus. In Sachsen-Anhalt hatte der Landtag bereits im Herbst mit einer Regierungsmehrheit eilends das Wahlgesetz geändert, um die Wahllokale geschlossen halten und den Landtag ausschließlich per Post wählen lassen zu können. Dies solle geschehen, wenn die Gefahr der Verbreitung des Corona-Virus zu hoch für eine Durchführung der Landtagswahl sei. Dagegen hatten etliche Landtagsabgeordnete vor dem Landesverfassungsgericht geklagt, und an diesem Montag nun hat es sein Urteil verkündet.


Zum Beginn des Wochenendes klang eine Aussage der Landeswahlleiterin, zumindest nach Pressemeldungen, noch ein wenig beruhigend:


„Landeswahlleiterin Christa Dieckmann schloss bereits am Freitag eine reine Briefwahl bereits aus und verwies auf die hohen verfassungsrechtlichen Hürden einer solchen Abstimmung. Zudem sieht sie die Wahllokale durch umfassende Hygienekonzepte gut vorbereitet und vertraut auf weiterhin sinkende Infektionszahlen.“
Öffnen noch Wahllokale?

Bedrohlich klingen die aktuellen Infektionszahlen in Sachsen-Anhalt nicht. Am Montag galten 0,31 Prozent der Bewohner des Landes als SARS-CoV-2-Infizierte, wie absolute-zahlen.com aus offiziellen Daten errechnete. Vielleicht aber setzt durch das Verfassungsgerichtsurteil bei Frau Dieckmann ein Gesinnungswandel hinsichtlich der „verfassungsrechtlichen Hürden“ ein. Denn das Gericht in Dessau hält eine reine Briefwahl in einer Ausnahmesituation wie einer „pandemischen Notlage“ für verfassungsgemäß, obwohl sie keine geheime Wahl ist (Az LVG 5/21). Nun sprechen 0,31 Prozent Infizierte nicht unbedingt für eine pandemische Notlage, allerdings wird auch der gegenwärtige Ausnahmezustand mit der Existenz einer solchen Notlage begründet.


Das Landesverfassungsgericht sieht sehr wohl die Gefahr, dass eine reine Briefwahl die Absicherung des Wahlgeheimnisses und den Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl einschränkt. Im Gegensatz zum Wahllokal bleiben Wahlurne und Stimmauszählung dem Blick der Öffentlichkeit entzogen. Dies sei – so habe es vom Gericht geheißen – unter den gesetzlich geregelten Voraussetzungen jedoch zulässig. In einem solchen Fall seien „die Nachteile einer reinen Briefwahl unter den Bedingungen einer pandemischen Notlage durch die verfassungsrechtlichen Rechtsgüter der Allgemeinheit der Wahl, die staatliche Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die zeitlichen Vorgaben der Landesverfassung für die Erneuerung der demokratischen Legitimation der öffentlichen Gewalt gerechtfertigt“, habe das Verfassungsgericht formuliert.


Geht es also am 6. Juni in Sachsen-Anhalt nicht nur um die Zusammensetzung eines neuen Landesparlaments, sondern auch um Leben und Tod? Wird die reine Briefwahl auf diesem Wege kommen, weil sie von Verfassungsrichtern zugelassen wurde? Oder gilt das Wort der Landeswahlleiterin noch und die Wahllokale öffnen?
Die Argumente haben sich nicht geändert

Auch im letzteren Fall ist ein bedenklich hoher Anteil an Briefwahlstimmen zu erwarten. Und die Kritik daran kann nun unter Verweis auf das Urteil als bestenfalls irregeleitet denunziert werden. Um sie trotzdem zu begründen, wiederhole ich die Argumente, die ich schon im März schrieb. Daran hat sich ja nichts geändert:


„Um eine geheime Wahl zu gewährleisten, gibt es eine Wahlkabine. Nur dort und nur allein sollte der Wähler in der Regel sein Kreuz machen dürfen – in diesem Moment unbeobachtet und von niemandem zu einer bestimmten Entscheidung gedrängt. Die Briefwahl war als Ausnahmefall gedacht. Dass die geheime Wahl sich dabei nicht gewährleisten lässt, war denen, die diese Möglichkeit in die Wahlgesetze schrieben, sicher bewusst. Doch die Abstimmung per Post war ja nur als Ausnahmefall für die kleine Gruppe von Wählern gedacht, die wirklich keine Möglichkeit hatten, am Wahlsonntag ins Wahllokal zu kommen.



Dass die Zahl der Briefwähler in den letzten Jahren stark anstieg, war deshalb eigentlich ohnehin schon problematisch. Doch nun, im Corona-Ausnahmezustand, wird die Briefwahl langsam zum Regelfall und die Abstimmung in der Wahlkabine zur Ausnahme. In Rheinland-Pfalz waren zwei Drittel der abgegebenen Stimmen Briefwahlstimmen. Bei zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen weiß also niemand, ob sie wirklich in freier und geheimer Wahl abgegeben werden konnten. „Es muss sichergestellt sein, dass Dritte die Wahlentscheidung nicht erkennen können. Niemand soll nachprüfen können, wie sich jemand in der Wahlkabine entschieden hat“, erklärt die Bundeszentrale für politische Bildung, worauf es u.a. bei einer rechtmäßigen Parlamentswahl in Deutschland ankommt.



Wer stellt das in Familien, Wohngemeinschaften, Gemeinschaftsunterkünften, Krankenhäusern und Pflegeheimen sicher? Wer weiß, welcher Gruppendruck, welche Erwartungshaltungen, welche Rücksichten dort die Stimmabgabe direkt beim Ausfüllen des Stimmzettels beeinflussen? Wer weiß schon, welche Bezugspersonen andere ganz gezielt in diesem Moment zu einem Stimmverhalten drängen? Wo zwei Drittel aller Wähler per Brief wählen, kann doch von einer geheimen Wahl keine Rede mehr sein. Insofern ist das Ergebnis der gestrigen Wahlen eigentlich ein Erdrutsch.



Hinzu kommt, dass Briefwahlergebnisse – egal ob gezielt oder fahrlässig – leichter verfälscht werden können. Sie passieren bis zur Auszählung zwangsläufig mehrere Wege, auf denen sie beispielsweise verschwinden können. Gelegentlich hörte man nach Wahlen von Briefwahlstimmen, die im Müll landeten statt bei der Auszählung. Nicht zugeklebte und falsch geöffnete Umschläge von Briefwahlstimmen sorgten dafür, dass die Bundespräsidentenwahl in Österreich wiederholt werden musste. Und keine Briefwahlstimme ist von der Abgabe bis zur Auszählung so gut durch die mögliche öffentliche Beobachtung vor irgendwelchen unberechtigten Eingriffen zu schützen wie ein im Wahllokal in die Urne geworfener Stimmzettel.“



Wenn die Wahllokale in Sachsen-Anhalt öffnen, dann werden sie hoffentlich von den Wählern zahlreich genutzt. Auch der Auszählung kann man beiwohnen. Das ist keine Misstrauensbekundung, sondern einfach ein Recht der Bürger. Und Rechte sind vor allem dann bedroht, wenn sie nicht in Anspruch genommen werden.

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