Lauterbach, die Alarmsirene der Republik:

SPD-Experte gibt düsteren Ausblick
Lauterbach im Interview: Warnung vor neuem Super-Virus - „Ende 2021 ist die Pandemie keinesfalls vorbei“

Vor dem anstehenden Corona-Gipfel spricht SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach im Merkur.de-Interview über Lockerungen, Mutationen und die Aussichten für die kommenden Monate.


Berlin - Es sind erneut keine schönen Nachrichten, die Prof. Dr. Karl Lauterbach, SPD-Politiker und Gesundheitsexperte, am Montagmorgen (8.2.) über seinen Twitterkanal verlauten lässt: Der Astrazeneca-Impfstoff verfehle seine Wirkung bei der südafrikanischen Corona-Mutation B.1.351 deutlich. Später am Tag kommen immerhin von Biontech/Pfizer gute Neuigkeiten.


Und nun? Am Mittwoch steht ein weiterer Gipfel mit Kanzlerin Angela Merkel an. Er selbst wird beratend dabei sein. Wird der harte Corona*-Lockdown noch einmal verlängert, oder dürfen Friseure, Schulen oder gar der Handel hoffen? Im Interview mit Merkur.de bezieht Lauterbach Stellung. Seine Warnungen zielen vor allem auf gefährliche Mutationen ab, die sich in Deutschland wohl weiter ausbreiten werden. Doch auch Anlass zur Hoffnung sieht er.

Herr Lauterbach, wie fühlt man sich, wenn man öffentlich – wie zuletzt bei Markus Lanz geschehen – als eine Art Prophet in der Corona-Pandemie* angekündigt wird?
Darauf lege ich keinen Wert, ich wünschte, ich hätte mit gewissen Dingen nicht recht gehabt. Ich habe zum Beispiel schon früh im August darauf hingewiesen, dass unsere Strategie darauf hinauslaufen wird, dass wir im Januar zu wenig Impfstoff haben. Auch in Bezug auf die Bedeutung der vor uns liegenden Mutationen hoffe ich, dass die von mir vorhergesagten Entwicklungen nicht eintreffen.


Wer hat nicht auf Sie gehört?

Das bleibt unter uns. Ich will mich nicht mit Schuldzuweisungen aufhalten, sondern positiv bleiben und zum Beenden der Pandemie beitragen.


Sie zitieren seit Monaten mehrmals die Woche öffentlich aus zahlreichen Studien, die Ihre Thesen untermauern. Wie haben Sie sich das angeeignet?

Ich lese schon seit Jahrzehnten täglich epidemiologische Studien, um in der Wissenschaft auch als Politiker auf dem Stand zu sein. Als Gesundheitsökonom und klinischer Epidemiologe ist es natürlich berufsbedingt, dass ich auf das schnelle Lesen und Interpretieren solcher Erhebungen spezialisiert bin. Außerdem bin ich eng mit Wissenschaftlern aus den USA, Deutschland und England vernetzt. Wir machen uns ständig gegenseitig aufmerksam auf entsprechende Studien und diskutieren die Ergebnisse miteinander.

Lauterbach vor Merkel-Gipfel: Lockerungen wohl nicht möglich - „Mutationen bauen sich sonst schonungslos zu einer dritten Welle auf“

Am Mittwoch stehen mit Angela Merkel neue Entscheidungen an. Welche Rolle spielen Sie auf einem solchen Gipfel eigentlich genau?

Das möchte ich nicht sagen, aber so viel: Ich bin ausreichend stark eingebunden.


Die Kanzlerin spricht vom „Licht am Ende des Tunnels“, die Zahlen sinken. Die Gesellschaft sehnt Lockerungen herbei. Friseure zu öffnen, dürfte möglich sein, was noch?

Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, stehen wir mit Lockerungen ab Anfang März wieder vor steigenden Zahlen. Besonders die britische Variante ist bereits so stark verbreitet, dass es spätestens Anfang März bestenfalls zu einer Stagnation kommt, ehe die Fallzahlen dann wieder steigen würden. Der Lockerungsspielraum liegt eigentlich bei null – auch für Friseure. Was ich mir einzig vorstellen könnte, wäre, bei wirklich guter Vorbereitung, Grundschulen und Kitas zu öffnen – wegen der schlimmen Folgeschäden für Kinder. Grundschullehrer und Erzieher sollten daher vorrangig geimpft werden, die Schüler müssten medizinische Masken tragen und mindestens einmal pro Woche einen Antigen-Schnelltest* machen. Dazu kann dann Wechselunterricht stattfinden.
Aber das ist das absolute Maximum an momentanen Lockerungen. Die Mutationen bauen sich ansonsten systematisch und schonungslos zu einer dritten Welle auf. Die höheren Klassen müssen ausschließlich im Homeschooling bleiben, sonst verlieren wir schnell die Kontrolle über die Pandemie. Der aktuelle Lockdown ist erfolgreich, aber nicht erfolgreich genug.


Wie lange muss sich die Gastronomie noch gedulden? Sind auch Konzepte ohne Alkohol und etwa nur zum Frühstück zu kurz gedacht?

Zum jetzigen Zeitpunkt baut sich eher die dritte Welle auf und wir impfen zu langsam: Für die nächsten Wochen dürfen wir da keine Hoffnungen machen. Auch ein solches Konzept würde keinen Unterschied machen, es geht schließlich darum in einem Raum zu sitzen und zu essen.


Südafrika B.1.351, Großbritannien B.1.1.7, Brasilien 1.1.248: Welche der neuen Varianten ist besonders aggressiv oder belastend für uns?

Die Escape-Mutation B.1.351 ist wesentlich gefährlicher. Gegen diese Variante sind sowohl die aktuellen Impfstoffe, als auch einige wichtige Medikamente weniger wirksam. Selbst durch eine Vorinfektion gebildete Antikörper bieten keinen ausreichend starken Schutz. B.1.1.7 ist aktuell am weitesten verbreitet und deutlich ansteckender, aber zum Glück wirken die Impfstoffe der ersten Generation fast uneingeschränkt wie bei der Ursprungsvariante.
Lauterbach warnt vor Kombinations-Mutation in Deutschland: „England Brutstätte für Escape-Varianten“

Und das bedeutet für Deutschland?

Die Thematik wird uns künftig vorrangig beschäftigen. Anfang März wird sich der Anteil der britischen Mutation auf rund dreißig Prozent unserer Fälle erhöht haben. Das Problem ist: Die britische trägt teilweise auch die Escape-Variante aus Südafrika in sich, und das ist die gefährlichste – eine Kombinations-Mutation sozusagen. Sie ist so ansteckend wie die britische und so immun gegen die Abwehr wie die Südafrika-Mutante. Sie hat eine Art Schutzschirm gegen die Abwehrzellen des Körpers, was die anderen Varianten nicht so stark haben. Man muss es sich so vorstellen: Escape-Mutationen sind wie eine Art neues Virus für den Körper.

Daher müssen wir die Kontrollen der Einreisenden aus Großbritannien, Österreich und Südafrika so strikt wie möglich durchführen. Wir haben dabei mit einem weiteren Problem zu tun: England wird durch die schnellen Impfungen und hohen Infektionszahlen zur Brutstätte für Escape-Mutationen. Eine Vielzahl an Mutationen entsteht, diese werden auch zu uns kommen, wir haben schon erste Kenntnisse von neuen Varianten dieser Art aus Laboren. Daher werden wir auch in Zukunft auf neue Impfstoffe angewiesen sein.

Die 50er-Inzidenz ist – wenngleich zahlreiche Städte erklären, dass eine Nachverfolgung durchaus möglich sei – als Marke offenbar nicht mehr haltbar. Wie weit runter müssen wir für „echte“ Lockerungen? Bis 25 oder, wie etwa Virologin Melanie Brinkmann fordert, erst ab einer 10er-Inzidenz?

Die Inzidenz hat weiter einen hohen Aussagewert, aber es kommt auch auf anderes an. Virusvarianten machen einen großen Unterschied. Ich plädiere schon lange für eine Zielinzidenz von 25 und darunter, weil man Puffer oder einen Sicherheitsabstand hat, das Geschehen zu kontrollieren. Dazu wäre auch ein R-Wert von 0,7 ideal. Dann würden sich die Mutationen nicht exponentiell ausbreiten.


Durch die Ausbreitung der Mutationen brauchen wir mittlerweile eine Herdenimmunität von achtzig Prozent, sagten sie kürzlich. Laut RKI wird das Virus nun immer gefährlicher. Diverse Impfstoffe schützen nur zu fünfzig oder zehn Prozent gegen Mutationen. Und die Impfstoffe sind möglicherweise schädlich für unsere Jüngsten bis 16 Jahren. Wenn man den Experten oft zuhört, ist eine dritte Welle kaum vermeidbar …
Ich glaube auch, dass eine sich langsam aufbauende dritte Welle im März kaum mehr zu verhindern ist, aber es liegt an uns und unserem Umgang, wie stark sie sein wird. Der Gipfel mit der Kanzlerin und unser aller Bemühungen werden auch hier von entscheidender Bedeutung sein. Wir haben etwa in London gesehen, B.1.1.7 ist mit einem gezielten Lockdown beherrschbar.


Bis Ende des Sommers soll allen ein Impfangebot gemacht worden sein. Wie ist Ihre Prognose für den Rest des Jahres 2021?

Ich will eine Prognose fast nicht wagen. Es kommt darauf an, wie schnell wir impfen können. Europa ist da zwar im Nachteil, doch ich setze stark auf zusätzliche Impfstoffe von Astrazeneca und Johnson & Johnson, weil die einigermaßen gut auch gegen die britische Variante B.1.1.7 wirken. Die Sommer-Hoffnungen müssen noch nicht verloren sein. Es kommt auf die nächsten Wochen an. Wir müssen Lockerungen noch aufschieben.
Corona-Ausblick: Lauterbach hofft noch auf Sommer - aber wohl keine Normalität mehr 2021

Und der Ausblick für das Ende des Jahres?

Wenn wir mit den Impfungen Erfolg haben, könnten wir um weitere Lockdowns herumkommen. Aber 2021 ist die Pandemie keinesfalls zu Ende. Wir werden auch 2022 zu kämpfen haben. Dann kann man wirklich allerfrühestens auf eine Art Normalität hoffen. Aber auch das ist reinste Spekulation. Impfen wir in anderen Staaten unzureichend, kommen neue Escape-Mutationen hinzu und verlieren dazu Impfstoffe ihre Wirkung, kann es weiter andauern. Komplette Normalität Ende 2021 ist aber leider wahrscheinlich noch ausgeschlossen.


Wie stehen Sie zu Privilegien für Geimpfte? Ab Herbst 2021 wäre das nicht unlogisch. In welchen Bereichen sehen Sie das als sinnvoll an?

Privilegien ergeben keinen Sinn. Wir wissen nicht, wie Impfstoffe gegen Mutationen wirken. Besorgniserregend an der B.1.351-Variante ist ja zudem, dass die Viruslast bei bereits Infizierten und Geimpften fast genauso hoch ist wie bei Neuinfizierten. Es ist wie ein neues Virus.


Sollten wir auf ein Medikament hoffen?

Monoklonale Antikörper machen durchaus Hoffnung, aber auch sie können gegen die Escape-Variante zumindest bisher nicht helfen. Immerhin: Medikamente senken auf der Grundlage sehr vorläufiger Studien das Sterberisiko an der alten Variante um bis zu siebzig Prozent, wenn sie richtig eingesetzt werden.


Wo können Sie wirklich Hoffnung verbreiten?

Es gibt auch gute Nachrichten. Der Novavax-Impfstoff und der von Johnson & Johnson wirken zum Beispiel einigermaßen gut sogar gegen die Südafrika-Variante. Zumindest was die schweren Verläufe angeht. Alle Vakzin-Hersteller entwickeln ihre Impfstoffe weiter, auch die Produktionskapazitäten steigen. Und Israel zeigt: Das Biontech-Vakzin hilft gegen B.1.1.7 genauso gut wie gegen den herkömmlichen Typen.
Lauterbach attackiert Corona-Lockerungen in Österreich - und lobt Söder

Die Produktionskapazitäten steigen also ausreichend? Wenn man nach Ihren Annahmen geht, müssen wir uns möglicherweise ein drittes und viertes Mal impfen lassen.
Ausreichend noch lange nicht. Es geht noch immer viel zu langsam. Die EU ist hoffentlich nicht dabei, den gleichen Fehler noch einmal zu begehen. Wir müssten massiv in die Impfstoffproduktionsstätten investieren, denn sonst dauert alles wieder, wenn der Impfstoff gegen die wesentlich gefährlicheren Varianten produziert ist. Und der Druck auf uns würde wachsen, weil wir dann schon die dritte Impfung verteilen, während in anderen Staaten noch gar kein Vakzin gespritzt worden wäre – das wäre wohl nicht vertretbar.


Ein Blick explizit auf Bayern: Hätten Sie gedacht jemals so viele Meinungsüberschneidungen mit Markus Söder haben? Nein, das hätte ich so natürlich nicht gedacht, aber wir bewerten die Dinge häufig sehr ähnlich. Ich bin froh über jeden, der mitzieht. Es ist ja nicht nur Söder, auch mit SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig bin ich fast immer der gleichen Meinung und ich tausche mich auch mit anderen Ministerpräsidenten und dem Bundeskanzleramt sehr intensiv aus.


Österreich lockert seit Montag. Die CSU bezeichnet dies als „unverantwortlich“. Astrazeneca soll gegen die in Tirol verbreitete Südafrika-Mutation B.1.351 lediglich einen zehnprozentigen Schutz bieten. Befürchten auch Sie Auswirkungen auf Bayern und Deutschland? Muss man über Grenzschließungen nachdenken?..
Ich kann mich nur anschließen. Was Österreich hier macht, ist sehr gefährlich auch für Deutschland. Grenzkontrollen sind zwingend notwendig, und im Bedarfsfall sind Schließungen das richtige Mittel. Wir müssen mit aller Macht die südafrikanische Variante fernhalten, weil die aktuellen Impfungen nur wenig helfen. Ich habe größte Sorge, dass wir in eine schwer beherrschbare Situation hineinkommen.

Die Bundestagswahl steht an, die SPD-Umfragen sind mies. Aber man weiß ja nie. Könnten Sie sich den Job als Spahn-Nachfolger im Gesundheitsministerium vorstellen?

Die Umfragen sind bisher tatsächlich sehr bescheiden. Ich habe die letzten Jahre schon nicht spekuliert, und das mache ich jetzt auch nicht. Ich traue mir den Job schon zu, das dürfte kein Geheimnis sein. Von einer massiven Überforderung im Amt würde ich jetzt aber nicht ausgehen.


Christian Drosten und Hendrik Streeck sind neben Ihnen Protagonisten auf Seiten der Experten während der Corona-Epidemie. Sie gingen Herrn Streeck zuletzt bei Maischberger sehr deutlich an, sahen einiges anders. Wie ist Ihr Verhältnis?Kollegial und unproblematisch. Aber es ist ja kein Geheimnis, dass ich mit Christian Drosten wesentlich intensiver und besser zusammenarbeite. Es läuft alles sehr vertrauensvoll, dafür bin ich dankbar. Ich bin immer wieder erstaunt, wie extrem gut er sich auskennt.

Besten Dank für das Gespräch, Herr Lauterbach. (Maximilian Kettenbach)

https://www.merkur.de/politik/karl-l...-90197286.html