TÜRKEI
Mögliche türkische Anschläge – „Das hat eine andere Dimension“

Erdogan-Kritiker halten einen Bericht über geplante türkische Anschläge in Österreich für glaubhaft.

  • Plant der türkische Geheimdienst Mordanschläge in Österreich und Europa?
  • Der Geheimdienst soll ein Netzwerk aus Provokateuren und Spitzeln in Österreich aufgebaut haben.
  • Erdogan-Kritiker halten einen Bericht über die Anschläge für glaubhaft.

Plant der türkische Geheimdienst MIT Mordanschläge gegen Dissidenten in Österreich und Europa? Ein entsprechender Medienbericht hat nicht nur die Alpenrepublik aufgeschreckt, sondern auch unter Kritikern des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Deutschland Befürchtungen vor möglichen Angriffen geweckt.
Am Mittwoch veröffentlichte das Wiener Online-Magazin „Zackzack“ einen Artikel über mutmaßliche Attentatspläne eines ehemaligen MIT-Mitarbeiters auf den früheren österreichischen Nationalratsabgeordneten Peter Pilz, auf die kurdischstämmige Wissenschaftlerin Berivan Aslan, die bei den Landtagswahlen in drei Wochen in Wien für die Grünen kandidiert, sowie zwei weitere österreichische Politiker. Pilz und Aslan hatten in den vergangenen Monaten aufgedeckt, wie der MIT in ganz Österreich ein geheimes Netzwerk aus Provokateuren und Spitzeln aufgebaut hatte. Offenbar gerieten die Erdogan-Kritiker dadurch ins Visier des Geheimdienstes.

Der frühere MIT-Mitarbeiter Feyyaz Ö., ein Türke mit italienischem Pass, hatte sich vor einer Woche selbst beim österreichischen Verfassungsschutz gemeldet und behauptet, er sei von einem Kontaktmann in Belgrad angeheuert worden, um die Anschläge auf die Erdogan-Kritiker zu verüben. „Zackzack“ publizierte faksimilierte Auszüge aus seiner Vernehmung. Darin sagte Ö., es sei nicht maßgeblich gewesen, ob die Zielpersonen getötet oder nur verletzt würden. Vielmehr sei es darum gegangen, „eine Botschaft zu überbringen“ und „Chaos zu verbreiten“.
Feyyaz Ö. gab zudem an, dass mehrere MIT-Agenten an den Anschlagsplanungen beteiligt gewesen seien. Er selbst habe bis zu seiner Pensionierung für den MIT gearbeitet und sei für diesen Auftrag reaktiviert worden. In Wien habe er sich an die Polizei gewandt, denn er sei „kein Auftragskiller“ und hoffe auf Schutz. Wiener Behörden bestätigten den Bericht. Demnach hat die Staatsanwaltschaft ein Verfahren eingeleitet, führt Ö. aber vorerst nicht als Beschuldigten. Der türkische Botschafter in Berlin wies laut einem Bericht der „Süddeutschen Zeitung“ Ö.s Aussagen als „nicht glaubwürdig“ zurück.
Morddrohungen aus der Türkei als „Einschüchterungsversuche“

Berivan Aslan, die inzwischen Polizeischutz erhielt, sagte der FR, sie habe frühere Morddrohungen von türkischer Seite stets als „Einschüchterungsversuche“ gewertet, „aber diesmal hat das eine ganz andere Dimension“. Der mutmaßliche MIT-Agent habe ein sehr plausibles Motiv für seine Selbstanzeige. „Er hat offenbar Angst um sein Leben und will sich retten, indem er den Schutz Österreichs sucht.“ Aslan sagt, in letzter Zeit hätten sich Hinweise auf Anschlagsvorbereitungen durch MIT-Agenten in Europa gehäuft. „Die neuen Enthüllungen haben türkische und kurdische Oppositionelle in ganz Europa alarmiert.“
In Deutschland beobachtet der türkischstämmige Rechtsanwalt und Ex-Bundestagsabgeordnete der Grünen, Mehmet Kilic, die Aktivitäten des MIT seit Jahren. Wie Aslan hält auch Kilic die Vorwürfe von Ö. für glaubwürdig. „Je stärker die Regierung Erdogan in der Türkei unter Druck gerät, desto massiver geht sie gegen Kritiker und Oppositionelle vor und schreckt auch nicht davor zurück, zu Mafiamethoden zu greifen.“ 2014 habe Erdogan das Geheimdienstgesetz der Türkei ändern lassen und dabei ausdrücklich „operative Geschäfte“ auch im Ausland erlaubt. „Als operative Geschäfte gelten auch Entführungen und Tötungen“, sagt Kilic.
Türkei: „Als operative Geschäfte gelten auch Entführungen und Tötungen“

Für die Echtheit von Ö.s Behauptungen spricht, dass er nachrichtendienstlich kein unbeschriebenes Blatt ist. Er gehört zu einer berüchtigten Gruppe „geheimer Zeugen“, die der MIT für manipulierte Aussagen in politischen Prozessen aufbot. Aufgrund seiner Aussagen wurde Metin Topuz, ein türkischer Mitarbeiter des US-Konsulats in Istanbul, im Mai zu fast neun Jahren Haft wegen angeblicher Terrorunterstützung verurteilt. Topuz bestreitet die Vorwürfe. Der Fall belastet die türkisch-amerikanischen Beziehungen bis heute.
Laut türkischen Medien reiste Feyyaz Ö. 2018 nach Italien und ist seither nicht mehr erreichbar. „Zackzack“ berichtete, dass er jahrelang als Verbindungsmann des MIT zur US-amerikanischen Drug Enforcement Administration (DEA) – für die auch Metin Topuz tätig war – gearbeitet haben soll. Bei seiner Vernehmung durch den österreichischen Verfassungsschutz habe Ö. ausgesagt, man habe ihn zu einer falschen Zeugenaussage gegen Topuz gezwungen. Nicht nur wegen dieser Behauptung Ö.s ist der Fall politisch brisant. Anfang September verhaftete die österreichische Polizei eine MIT-Agentin, die gestand, in organisierte Angriffe türkischer Nationalisten auf kurdische Einrichtungen in Wien verwickelt gewesen zu sein. Ein Beleg dafür, dass die Türkei politische Konflikte im Land schüre, so die österreichische Regierung.
Mögliche türkische Anschläge – „Das hat eine andere Dimension“

Neue Beweise für türkische Spionage in Deutschland hatte das ZDF in einem Dokumentarfilm im Juni enthüllt. Demnach arbeiten bis zu 8000 Personen daran, Dissidenten zu überwachen – wie beispielsweise den armenisch-türkischen Journalisten Hayko Bagdat, der seit vier Jahren in Berlin im Exil lebt. „Die Angaben von Feyyaz Ö. erscheinen mir absolut glaubhaft“, sagt Bagdat. „Auch auf mich wurde ein Mordkommando angesetzt, ich habe permanten Polizeischutz.“ Bagdat erinnert an die Morde an drei kurdischen PKK-Aktivistinnen 2013 in Paris.
„Wollen wir warten, bis die Türkei dem saudi-arabischen Beispiel folgt und es auch in Deutschland zu politischen Morden wie bei Dschamal Kaschoggi kommt?“, fragt Professor Burak Copur, Politikwissenschaftler und Türkei-Forscher aus Essen. Die Enthüllungen aus Wien stünden in einer Reihe mit zahlreichen Angriffen auf ausländische Erdogan-Kritiker in den vergangenen Jahren. Er meint, es sei höchste Zeit, „dass die Bundesregierung Erdogans Netzwerk in Europa und Deutschland mit seinen Lobbyorganisationen und Spitzeln endlich ein Ende bereitet“.

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