Auf die Idee muss man auch erst einmal kommen: Voilá - ein Spiegel-Jammerartikel. Es wird zuviel Spargel und zu wenig Flüchtlinge gerettet.

Spargel und Flüchtlingskrise Ernte ohne Grenzen

Eine Kolumne von Margarete Stokowski
Die Regierung holt 50 Kinder aus den grauenhaften griechischen Flüchtlingslagern - und 80.000 Erntehelfer. Denn was könnte wichtiger sein, als den deutschen Spargel vorm Verrotten zu retten?

Der deutsche Spargel wird dieses Jahr noch bitterer schmecken als ohnehin schon, und das muss man erst mal schaffen. "Es ist gut, dass der Staat jetzt kraftvoll handelt", hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Osterrede gesagt, "in einer Krise, für die es kein Drehbuch gab". Nee, es gab kein Drehbuch. Aber ganz ehrlich, es wirkt ein bisschen so, als ob.








Die Nachrichten lesen sich zurzeit wie ein "Tatort", dessen Drehbuch von zugekoksten rechten Boomern geschrieben wurde: Deutschland ist mittendrin in einer Pandemie, im völligen Ausnahmezustand, und die Regierung muss entscheiden, wer vor dem Verrotten gerettet werden soll: die geflüchteten Menschen an den Außengrenzen der Europäischen Union oder der deutsche Spargel. Da wird nicht lange gefackelt, natürlich wird der Spargel gerettet, was denn sonst. Es ist eigentlich keine Frage von "entweder ... oder", aber offensichtlich eine Frage von Prioritäten der Zumutbarkeit.


Ich hätte Spargel vorher auch schon, rein kulinarisch, nur viereinhalb von fünf Sternen gegeben, aber dass er zum Symbolgemüse einer menschenverachtenden Krisenpolitik wird, das hätte ich mir auch in schlimmsten Fiebernächten nicht erträumt. 80.000 ausländische Saisonkräfte, die für die Ernte (nicht nur von Spargel, aber doch zu weiten Teilen) per Sonderflug nach Deutschland gebracht werden, über geschlossene Grenzen hinweg, ja, es ist auf einmal dann doch sehr vieles möglich, wenn es um die heilige Stange geht.


Dafür dürfen aber auch 50 Flüchtlingskinder kommen. Fünfzig. Von den rund 40.000 geflüchteten Menschen, die derzeit auf den griechischen Inseln auf Hilfe hoffen. Sie leben in Lagern, in denen das Coronavirus sich ausbreitet, mit zu wenig Essen, zu wenig Wasser, kaum Möglichkeiten, sich zu waschen. Es gibt dort Gewalt, Suizide, ungefähr jeder Bericht enthält das Wort "Katastrophe" oder "Hölle" oder beides. 50 Menschen dürfen kommen, "erst mal", und manchen ist das schon zu viel und diese Entscheidung "politisch und gesundheitlich untragbar" (Holger Stahlknecht, CDU).

Systemrelevantes Superfood

50 Kinder, für mehr ist erst mal kein Platz, das scheint recht gründlich durchgerechnet worden zu sein. Die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" sprach zuletzt von "178 akut gefährdeten Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen", die Deutschland dringend aufnehmen sollte, weil sie zur Hochrisikogruppe für Covid-19 zählten, das klingt eigentlich machbar, würde man meinen, aber es gibt halt Wichtigeres, zum Beispiel systemrelevantes Superfood.



"Auch während und nach der Corona-Krise ist die Bevölkerung mit hochwertigen Lebensmitteln in ausreichender Menge zu versorgen", so lautet der erste Satz im Konzeptpapier von Landwirtschafts- und Innenministerium, wobei "hochwertig" hier offenbar heißt: Dieser Spargel, der jetzt gerettet wird, hat einen höheren Wert als Menschenleben.


Ich würde das gern weniger pathetisch sagen, aber leider sind die Zeiten so, dass es um Leben und Tod geht. Zusammenhalt, Solidarität, Disziplin, all das sind die Werte, die jede Politikerin, jeder Politiker jetzt in jede Videoansprache streut. Dumm nur, wenn diese Werte nicht weiter reichen als bis zum eigenen Tellerrand.


"Vieles wird in der kommenden Zeit sicher nicht einfacher", sagte Steinmeier in seiner Rede. "Aber wir Deutsche machen es uns ja auch sonst nicht immer einfach." Doch, manche machen es sich außerordentlich einfach. Eine Regierung, die von den Bürgerinnen und Bürgern fordert, dass sie sich zusammenreißen sollen und Schwächere schützen, auch mal verzichten, ... und die dann eine so unglaublich peinliche Prioritäten-Performance abliefert - wie will sie irgendwem was von Werten erzählen? Wenn sie gleichzeitig eigenhändig Flüge chartert und Hotels bucht, um Menschen abzuschieben? 20.000 bis 100.000 Euro Kosten für die Abschiebung einer einzigen Frau, da lässt sich Deutschland nicht lumpen, Pandemie hin oder her, dafür ist Geld da.


Auf der Website des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft strahlt Julia Klöckner: "Kaufen Sie maßvoll ein. Seien Sie solidarisch mit anderen!" – Ja nun. Liest sich wie: "Seien Sie solidarisch mit anderen - wenn wir es schon nicht sind. Ihre Regierung."


Ja, die Bäuerinnen und Bauern müssen auch was verdienen, tatsächlich. Natürlich brauchen sie Geld, und Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen Gemüse, aber das rechtfertigt nicht das, was jetzt passiert. Es gibt heute unzählige Konzerte, die nicht gespielt werden, Theaterstücke, die nicht aufgeführt werden - und es könnte genauso Spargel geben, der nicht geerntet wird. Oder Deutsche würden halt mal selbst lernen, wie man ihr heimliches Wappengemüse aus dem Boden zieht.


Man müsste dafür nicht 80.000 Menschen zum Ernten einfliegen, nur weil ihre verzweifelte Bereitschaft, sich ausbeuten zu lassen, auch in der Pandemie noch besteht. Klar kommen die freiwillig. So freiwillig, wie es halt geht im Kapitalismus. Das sind Menschen, die durch diesen Arbeitseinsatz natürlich ihre Gesundheit riskieren, bei allen Vorsichtsmaßnahmen. Was ist mit Solidarität denen gegenüber? Wird für die dann auch vom Balkon geklatscht?


Natürlich, in der Coronakrise wird vielen Menschen sehr viel zugemutet. Aber manchen dann doch mehr als anderen. Dass die Deutschen mitten in der Apokalypse auf ihren geliebten Spargel verzichten müssen: absolut undenkbare Härte, die mit allen Mitteln verhindert werden muss. Dass währenddessen Menschen in Lagern elendig vor sich hin vegetieren: Nee, da kann man wirklich nichts machen.


Wenn man Spargel einfach wachsen lässt, wird er übrigens zu einer filigran-fedrigen Pflanze, wunderschön anzusehen. Wie wäre das: Die Deutschen ernten so viel, wie sie selbst können, die Landwirtschaft kriegt angemessene Entschädigungen, das Geld für die Erntehelferflüge wird in Asylunterkünfte investiert und die restlichen Spargelpflanzen bleiben als blühende Felder stehen, als Symbol dafür, dass es Wichtigeres gibt.

https://www.spiegel.de/kultur/fluech...0-1823630b7a7b

Es gibt auch wichtigere Dinge wie diesen Spiegel-Artikel. So könnte sich diese Frau




im Moment überaus nützlich machen, als Auffüllerin der Regale der Supermärkte (dringend gesucht), als Heim- und Bringservice für Ältere oder in Quarantäne Gesetzte, als Hilfskraft in der Küche eines Krankenhauses oder im Putzservice oder bei einfachen Hilfstätigkeiten oder in Einrichtungen der Altenpflege in einfachen Hilfstätigkeiten. Ebenso könnte sie sich in Hausaufgaben- und Nachhilfe engagieren, in diesem Fall umsonst, damit leistungsschwache Kinder nicht abgehängt werden und so weiter. Sie könnte natürlich auch die Testkits ausfahren.

Und vielleicht könnte sie sich den Unterschied zwischen produktiver Saisonkraft und Zuwanderung in den meist unproduktiven Bereich, die Sozialhilfe einmal zur Gemüte führen. Der eine Teil bringt wirtschaftlich etwas, der andere kostet. Das ist jetzt natürlich eine sehr kapitalistische Denkweise für eine Autorin, die in einer gut geheizten Wohnung ihren Feierabendwein trinkt und über solche Selbstverständlichkeiten wie einen Flachbildfernseher und alle möglichen technischen Geräte verfügt. Oder tue ich ihr Unrecht und sie lebt, nachdem sie diesen Artikel in einer Zeitungsredaktion geschrieben hat, auf der Strasse oder in einem abbruchreifen Haus?