Mit dem Virus ans Grundgesetz

Es gibt Momente, in denen bei Demokraten sämtliche Alarmglocken in Gang gesetzt werden. Ein solcher Augenblick war gestern Abend um 20:03 Uhr in der Tagesschau. Nachdem ausführlich über Folgen der Coronakrise und die Maßnahmen dagegen berichtet wurde, fiel am Ende dieses Themenblocks, ganz nebenbei folgender Satz (bei 03:11 Minuten):

"Die Parteien erwägen derweil Grundgesetzänderungen, damit Gesetze auch verabschiedet werden können, falls der Parlamentsbetrieb eingestellt würde“.



Träumt man hier von einer Art weitreichender Ermächtigung, um ohne parlamentarische Kontrolle regieren zu können? Gibt es derzeit für die Verantwortlichen nichts Wichtigeres zu tun? Und was bedeutet es, wenn weitreichende Gesetze ohne parlamentarische Beteiligung in Kraft treten dürfen, während sich keine außerparlamentarische Gruppierung oder Bewegung mehr formieren oder lautstark äußern kann, weil die Aktivitäten aller Vereinigungen und jedwede ihrer Versammlungen verboten sind?


Nähere Erläuterungen zu den „Erwägungen“ der „Parteien“ (welcher Parteien?), wären da schon hilfreich, sind aber offenbar nicht im Sinne des Erfinders. Über die konkrete Form dieser „Grundgesetzänderungen“ ist nicht viel zu erfahren, auch ein kurzer Bericht im Spiegel gibt nicht viel her:


„Im Bundestag wurde in kleiner Runde erstmals eine Grundgesetzänderung angesprochen, um die Handlungsfähigkeit des Parlaments auch dann zu erhalten, wenn das Parlament wegen der Corona-Pandemie nicht zusammentreten kann. Nach SPIEGEL-Informationen hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) in der Runde mit den Parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen das Thema tatsächlich aufgebracht.... Eine Möglichkeit, die Schäuble demnach ansprach, wäre, eine ähnliche Regelung aufzunehmen, wie sie bereits für den Verteidigungsfall in der Verfassung steht. Für den Seuchenfall gibt es bisher keine Regel.“



Aber es gibt die Notstandsgesetze, die 1968 noch unter massiven Protesten der außerparlamentarischen Opposition durchgesetzt wurden, welche eine Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen sichern sollen.


Diese Gesetze enthalten Regelungen für den Verteidigungsfall, den Spannungsfall, den inneren Notstand und den Katastrophenfall. In diesen Situationen werden die Grundrechte eingeschränkt. Nun ist ein richtiger Seuchenfall ja je nach Lage schlicht der „Katastrophenfall“ und sollte somit durchaus von den Notstandsgesetzen erfasst sein. Was sind das für Politiker, die in einer solchen Situation eine nebulöse Grundgesetzänderung erwägen und damit nichts als Misstrauen und Gerüchte befördern?


Um 1968 die Kritiker der Notstandsgesetze zu besänftigen, wurde in Art. 20 Grundgesetz übrigens ein vierter Absatz eingefügt:


Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
(Widerstandsrecht, siehe Art. 20 GG).

https://www.achgut.com/artikel/mit_d...ns_grundgesetz