Die Amokfahrt von Volkmarsen und eine seltsam stumme Staatsanwaltschaft


Vor gut einer Woche fuhr in Volkmarsen ein 29-jähriger Mann mit einem Mercedes-Kombi in Zuschauer am Rande des Rosenmontagsumzugs. Dabei verletzte er 61 Personen, darunter auch viele Kinder. Während nach dem Attentat von Hanau der Generalbundesanwalt bereits am nächsten Tag scheinbar frei von jeglichen Zweifeln der Öffentlichkeit das (angebliche) Tätermotiv präsentierte, war von der für die Amokfahrt von Volkmarsen zuständigen Staatsanwaltschaft in Frankfurt bisher lediglich zu vernehmen, dass immer noch Unklarheit über das Motiv des Täters herrsche. Auch wenn für die Staatsanwaltschaft mildernde Umstände geltend gemacht werden könnten, weil der Amokfahrer – im Gegensatz zum Hanau-Täter – kein die Tat begründendes Manifest hinterlassen hat, kommt einem dieses Schweigen langsam doch etwas seltsam vor.

Meist von Männern ausgeübte massive Gewalttaten


Die kühl kalkulierten Todesfahrten von islamistisch motivierten Terroristen spielen bei den Überlegungen zum Tatmotiv hier „nur“ insofern eine Rolle, als sie auch gänzlich anders motivierten Tätern eine Vorlage für ihre Amoktat bieten können. Als Amoktaten werden dabei unvorhersehbare und für Außenstehende unverständliche, meist von Männern ausgeübte massive Gewalttaten mit Tötungsabsicht verstanden, die zu einer Vielzahl von ausgesuchten oder zufällig anwesenden Opfern führen. Der Forschungsstand hält sich in Grenzen, weil diese Taten zum Glück nicht häufig vorkommen.


Grob lassen sich drei Tätergruppen unterscheiden: die jugendlichen Schulattentäter, die Rache an Lehrern oder Mitschülern nehmen wollen, die aber hier nicht weiter interessieren; die erwachsenen Täter, die sich für empfundene Ungerechtigkeit an Familie, Arbeitskollegen oder Vorgesetzten rächen wollen; die etwa ein Viertel bis ein Drittel der Erwachsenengruppe ausmachenden Personen, die sich wahnbedingt – meist im Rahmen einer Schizophrenie – zur Wehr setzen oder rächen wollen. Die Gruppe der erwachsenen nicht-wahnhaften „Rächer“ kennzeichnet nicht selten eine maligne narzisstische Selbstwerterhöhung: extrem kränkbar, sich anderen stark überlegen fühlen, die soziale Umwelt entmenschlichen, nicht selten zusammen mit der Gier nach medialer Aufmerksamkeit durch die spektakuläre Massentötung.
Eine spezielle Täter-Opfer-Beziehung scheint nicht vorgelegen zu haben, jedenfalls gibt es dafür keine Informationen. Die Tat erfolgte nicht impulsiv und/oder im Rahmen eines hochgradigen Erregungszustandes, sondern ganz offensichtlich geplant. Jedenfalls parkte der Täter ca. 2,5 Stunden in Tatortnähe, wobei er von der Polizei, der nichts Besonderes auffiel, wegen Falschparkens angesprochen wurde.


Ein Grund dafür dürfte sein, dass die Tat in Volkmarsen zur Unzeit geschah. Denn die zeitgleich laufende Instrumentalisierungskampagne des Attentats von Hanau strebte gerade erst ihrem Höhepunkt entgegen. In einer solchen Situation dürfte die energische und zügige Aufklärung der Motivlage des Amokfahrersals eher nicht hilfreich eingestuftworden sein. Medien, Politik und damit auch die Staatsanwaltschaft haben doch wohl rasch erkannt, dass die Tat kein zusätzliches Instrumentalisierungspotenzial bietet, sondern eher das Gegenteil: Ein Fahrzeug mit Tötungsabsicht in Menschenansammlungen zu lenken, weckt selbstverständlich Assoziationen an die Verbrechen auf dem Breitscheidplatz und in Nizza und damit an islamistisch motivierten Terror. Auch deshalb, so ist zu vermuten, sind Volkmarsen und die Opfer so rasch aus den Medien verschwunden. Damit fehlt auch öffentlicher Druck auf die Staatsanwaltschaft, endlich Ergebnisse vorzulegen oder zumindest zu erklären, warum das nicht möglich oder nicht gewollt ist.


Während beim Täter von Hanau – vor allem wegen seines Manifestes – keine vernünftigen Zweifel an der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie bestehen, basiert die psychiatrische Beurteilung des Volkmarsen-Täters notwendigerweise auf einem weniger soliden Fundament, besonders für den Außenstehenden. Gleichwohl erlaubt aber das Fachwissen zu Amoktaten in Verbindung mit öffentlich vorliegenden Informationen zum Täter, zumindest die beiden Motive zu benennen, von denen eines wahrscheinlich das zutreffende ist.

Welches Motiv könnte vorgelegen haben?



Nach übereinstimmenden Zeugenangaben sei der Täter beruflich immer wieder gescheitert und aktuell beschäftigungslos gewesen, dabei ein Einzelgänger und Sonderling. Einige Wochen vor der Tat und am Tag der Amokfahrt beim Verlassen seiner Wohnung habe er jeweils gegenüber Nachbarn geäußert, bald in der Zeitung zu stehen. Das wäre ein recht starkes Indiz für einen Täter aus der Gruppe der narzisstisch Motivierten – in Verbindung mit dem Verlangen nach, endlich einmal, öffentlicher Aufmerksamkeit. Aber es gibt auch Aussagen, die eher auf eine Wahnerkrankung beim Täter hinweisen, etwa, wenn eine Nachbarin angibt, sie habe ihn oft mit einem Glas in der Hand stundenlang vor seiner Terrassentür im Kreise gehen sehen.


Sollten auch die bisherigen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zuvorderst in diese Richtung weisen, gäbe es noch einen Grund, die Öffentlichkeit erst nach einer großzügig bemessenen Hanau-Abklingphase näher zu informieren. Denn bei einem wahnhaft begründeten Motiv würde sich im Ermittlungsverfahren rasch und zwingend die Frage nach der Schuldfähigkeit und einem psychiatrisch-forensischen Gutachten stellen, da der Volkmarsen-Täter ja überlebt hat – im Gegensatz zum Attentäter von Hanau. Und das könnte vielleicht doch noch die unerwünschte Frage auch nach dessen, ja unstreitig wahnhaftem Motiv aufkommen lassen.

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich.

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