Notre Dame oder: Wie wir aufhören sollen zu denken

Chaim Noll

Unsere Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, ist eine besondere Qualität, mit der wir von der Schöpfung ausgezeichnet wurden. Wir Menschen vermögen einzelne Erscheinungen zu größeren Bildern zu konfigurieren, zu verallgemeinern, Schlüsse zu ziehen, Konklusionen, Induktionen, Deduktionen und wie all diese wunderbaren Denkprozesse genannt werden. Doch in Europa geht man daran, sie zu behindern und zu diskreditieren. Wir sollen, erfahren wir täglich, „keine vorschnellen Schlüsse“ ziehen, nicht „voreilig verallgemeinern“, keinen „Generalverdacht“ hegen.


Noch eine Woche vor dem Brand von Notre Dame, am 9. April, schrieb Jürg Altwegg in der Frankfurter Allgemeinen darüber, dass „täglich in Frankreich drei Gotteshäuser Opfer von Vandalismus“ würden: „Zu Beginn des Jahres brannte in Grenoble die Kirche Saint-Jacques. Mehr als hundert Menschen mussten aus umliegenden Wohnhäusern evakuiert werden (…) Im März brannte es an einem Sonntagmorgen in der Kirche Saint-Sulpice im sechsten Pariser Arrondissement (…) Der Erzbischof von Paris, Michel Aupetit, wollte keine vorschnellen Schlüsse ziehen: ‚Noch wissen wir nichts über das Motiv.'“ Doch die polizeiliche Untersuchung ergab, wie Altwegg wissen ließ: „Es war Brandstiftung.“


Das gleich Muster verfolgt Erzbischof Aupetit nun bei seiner eigenen Kirche, Notre Dame. Wieder dürfen wir keine „voreiligen Schlüsse“ ziehen. Und viele wollen es auch gar nicht mehr, da alle Autoritäten so dringend davon abraten. Auch die Pariser Staatsanwaltschaft teilte (laut Bild-Zeitung) schon vor Beginn der Ermittlungen mit, man gehe von einem Unglücksfall aus und werde nicht in Richtung Brandstiftung ermitteln (was eigentlich genau das darstellt, wovor unermüdlich gewarnt wird: einen „voreiligen Schluss“).


„Viele werden in die Kirche Saint-Sulpice emigrieren, sie ist nun die größte Kirche von Paris“, zitierte das deutsche Leitmedium Die Zeit eine Pariserin, ohne zu erwähnen, dass es auch dort schon gebrannt hat. Der Vorfall wurde in den großen Medien ohnehin kaum erwähnt. Es musste Notre Dame sein, das Flaggschiff der französischen Katholiken, um überhaupt noch Aufmerksamkeit zu erregen. Aber Notre Dame hüllt sich inzwischen in Schweigen. (Wo ist der berühmte Glöckner?)


Progressive Menschen wenden sich dem Neuaufbau zu, ohne nach dem Feuer von gestern zu fragen. Der Brand kann ad acta gelegt, die Frage nach der Ursache vergessen werden, weil es Grund zur Freude gibt: französische Milliardäre und Wirtschaftsunternehmen haben hunderte Millionen Euro für den Wiederaufbau zugesagt. Vielleicht reicht das Geld, um hinterher einen Wachdienst zu engagieren. Europa wird seine Kirchen bewachen müssen wie bisher die Synagogen.


Die Frage nach der Ursache des Feuers werden wir alle vergessen (zum aktuellen Stand siehe hier). Auf sanfte Weise, Schritt für Schritt, erfolgt unsere Entmündigung. Nachdem uns das offene Aussprechen dessen, was wir wahrnehmen, abgewöhnt wurde, meiden wir auch das klare Denken. Wie offenkundig auch immer die Umstände, wir ziehen möglichst keine Schlussfolgerungen. Die Erfolgsmeldung aus Paris kam schon in der selben Nacht: Die Fassade von Notre Dame steht noch. Damit kann sich Europa trösten. Damit trösten wir uns schon lange. Es ist sowieso nur noch die Fassade, was von Europa geblieben ist.

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