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    Bärbel Bohley: Die Frau, die es voraussah

    Bärbel Bohley: Die Frau, die es voraussah

    Chaim Noll

    Ich habe mich immer gern erinnert. Schon als Kind. Mit jedem Jahr sammelt sich mehr Erinnernswertes an. Viele, an die ich denke, leben nicht mehr. In mir sind sie lebendig. Falls ihr mich hört, ihr Entschwundenen: Verlasst euch drauf, ich denke an euch. Gestern, beim Pflanzen in meinem Wüsten-Garten, erinnerte ich mich an Bärbel Bohley. Muss ich erklären, wer sie war? Sie ist 2010 gestorben, zu jung, kaum 65 Jahre alt. Vor dreißig Jahren, als die DDR unterging, kannte sie jeder. Ich erinnere mich, wie wir im Herbst ‚89 bei Freunden in der Schweiz, auf der Durchreise von Rom nach Berlin, die Fernseh-Nachrichten sahen – gerade war Honecker abgesetzt worden – und wie im Schweizer Fernsehen von Bärbel die Rede war wie von einer Instanz. Sie galt als Ikone der Bürgerrechtsbewegung. Doch zu einer Stellung im Nach-Wende-Deutschland kam es nicht, da stiegen andere auf, Mädchen, die bis zuletzt brav mitgemacht hatten. Bärbels Name stand für eine lange Vorgeschichte von Ungehorsam und Rebellion. Es lag in der Natur des westdeutschen Parteiensystems, dass im vereinigten Deutschland nicht Leute wie sie, sondern die Mitläufer hochkamen, die Angepassten. Als „Kohls Mädchen“ wäre Bärbel Bohley nicht geeignet gewesen. Da fanden sich Andere, Geschicktere.


    Im Frühjahr 1991 habe ich Bärbel Bohley zum letzten Mal gesehen. Wir gingen nach einer Fernseh-Sendung, in der sie mich heftig angegriffen hatte, zum Essen in ein italienisches Restaurant nahe dem Gebäude des Senders Freies Berlin in der Masurenallee. Katja Havemann war dabei, die Witwe des berühmten Dissidenten, und der West-Berliner Schriftsteller Peter Schneider. Die Diskussion nach dem Essen, bei einer Flasche Wein, war fulminant. Bärbel konfrontierte uns mit ihren, wie wir fanden, naiven Vorstellungen von einer besseren politischen Ordnung nach der Wende. Sie war gegen die sofortige Auflösung der DDR, sie plädierte für eine Übergangszeit, in der beide deutsche Staaten in guten Beziehungen, aber noch getrennt, koexistieren sollten, im Osten schwebte ihr etwas vor wie eine Regierung des Runden Tischs. Der Runde Tisch war ein provisorisches Gremium, in dem Vertreter aller möglichen oppositionellen Gruppen zusammenkamen und diskutierten. Peter Schneider und ich hielten diese Runde für nicht regierungsfähig. „Ihr blickt nicht durch“, sagte sie. „Typisch westliche Arroganz.“


    Wir verstanden wirklich manches nicht. Ich beschäftigte mich damals, im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Freien Universität, mit den Akten des DDR-Schriftstellerverbands und war entsetzt über die lückenlose Überwachung und Bespitzelung, die schon im Keim erstickte Meinungsfreiheit, die „innere Zensur“, der sich die Schreibenden unterworfen hatten und die – der heutigen political correctness vergleichbar – bereits die Wege ihres Denkens auf ungesunde Weise lenkte und behinderte. Ich konnte nachverfolgen, wie Regulierung von Sprache, Themen, Meinungen ihre Rückwirkung nimmt auf die Psyche. Wie Menschen daran krank werden. Ich nannte es „Stacheldraht im Gehirn“.


    „Das ständige Lügen wird wiederkommen“

    Sofort war Übereinstimmung hergestellt. Und nun sagte sie etwas, was ich nie vergaß. „Alle diese Untersuchungen“, sagte sie, „die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen.“


    Als wir verblüfft schwiegen, fuhr sie fort: „Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“


    An diese Sätze denke ich oft. Wir haben bald nach diesem Abend Berlin verlassen, sind nach Israel gegangen. Ich habe noch ein paarmal mit Bärbel telefoniert, ich konnte ihr helfen, einen guten Anwalt zu finden zur Abwehr der Gerichtsverfahren, Klagen und Einstweiligen Verfügungen, mit denen sie überschwemmt wurde – langwierige, kostspielige Prozesse, die ihr sehr geschadet haben. Für sie war das Leben im Westen kein Aufatmen. Sie hatte sich, in den kurzen Monaten der Euphorie, der Hoffnung und der Wahrheit, die auf den Fall der Mauer folgten, eine Offenheit angewöhnt, ein lautes Aussprechen unliebsamer Gedanken, die sie auch im Westen zur Unperson machten.


    Ich denke oft an sie. Wenn ich davon lese, wie seltsame Einrichtungen, sagen wir: die von der deutschen Regierung finanzierte Amadeu Antonio Stiftung, das Beobachten von Kindergarten-Kindern suggerieren, wie die Vorsitzende dieser Stiftung, unsere alte Ost-Berliner Bekannte Netty, mit ihren Mitarbeitern Listen zusammenstellt, in denen Unliebsame, unter dem Vorwand eines „Kampfes gegen rechts“ oder der Prävention gegen „Rassismus“, namhaft gemacht, zur Ausgrenzung empfohlen, stigmatisiert werden – dann denke ich an Bärbel Bohley. An ihre prophetischen Worte vor fast dreißig Jahren.

    https://www.achgut.com/artikel/baerb...e_es_voraussah
    Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.
    Gustav von Rochow (1792 - 1847), preußischer Innenminister und Staatsminister

  2. #2
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    AW: Bärbel Bohley: Die Frau, die es voraussah

    das hat der Chaim super gut geschrieben, und ich hoffe, auch in Israel veröffentlicht, damit die Menschen dort wissen, was in der ehemaligen Heimat vieler von ihnen, mittlerweile leider abgeht. Auch interessant, das vor ein paar Tagen ebenfalls auf der 'achse' veröffentlichte Kahane Dossier, dem man entnehmen kann, dass sich nicht viel an der Tätigkeit der professionellen Menschenjägerin seit SBZ Zeiten verändert hat. Es scheint typisch für den deutschen Staat zu sein, Extremisten zu instrumentalisieren. Nach WW1 die Freikorps, nach WW2 lies man die Kommunisten auf die Bevölkerung los, um sie kurz danach postwendend zu verbieten. und seit dem unseligen Anschluss der totalitären SBZ instrumentalisiert man die Kommunisten schon wieder, die auch gerne bereit sind, sich instrumentalisieren zu lassen. Das wirft eine ganze Menge Fragen auf.

  3. #3
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    AW: Bärbel Bohley: Die Frau, die es voraussah

    Ich erinnere mich noch sehr gut an die Zeit von vor 30 Jahren, als die Mauer fiel und nicht so recht klar war, was dann kommen würde. Plötzlich war das DDR-Fernsehen sehr mutig. Es wurde kritisiert, was 40 Jahre lang nicht angesprochen werden durfte. Die SED dachte wohl so ein Ventil öffnen zu können um die eigene Haut retten zu können. Vollbärtige, langhaarige Studenten saßen in Talk-Shows und erzählten, wie man den Sozialismus noch retten könnte. Die Wiedervereinigung wurde von sehr vielen DDR-Bürgern abgelehnt. Ab dem 9.November 1989 fuhren sehr viele Trabis durch den Westteil Berlins. Ein paar junge Leute hielten neben mir an und fragten wie sie zum Kudamm kämen. Ich stieg in ihre Rennpappe und dirigierte sie zum Kudamm. Auf dem Weg dorthin erzählten sie, dass der Sozialismus gar nicht so schlecht sei. Damals war den Leuten aus der DDR nicht klar, dass sie nicht wie im Kapitalismus leben und wie im Sozialismus arbeiten können.
    Wie wäre das machbar gewesen, die DDR künstlich am Leben zu halten, um den DDR-Bürgern die Landung so bequem wie möglich zu machen? Sie hatten es doch in der Hand. Ihre Betriebe sind auch deshalb kaputt gegangen, weil niemand mehr die Ost-Produkte haben wollte.
    Alle Texte, die keine Quellenangaben haben, stammen von mir.

  4. #4
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    AW: Bärbel Bohley: Die Frau, die es voraussah

    Zitat Zitat von Realist59 Beitrag anzeigen
    . Die Wiedervereinigung wurde von sehr vielen DDR-Bürgern abgelehnt.
    gemäß meiner Erfahrung lehnten die meisten Deutschen die Wiedervereinigung ebenso ab. Ich glaube nicht, das die Wiedervereinigung jemals zustande gekommen wäre, wäre Kohl der im GG verankerte Pflicht zur Volksabstimmung nachgekommen. So wie die Aufnahme angeblicher 'Flüchtlinge' heute rein ein Projekt der 'Elite' ist, so war damals die Wiedervereinigung ein reines Projekt der 'Elite'. dh. Tattergreise a la Willybrandt, nebst ordinär-bäuerlicher, Saumagen fressender, karrieregeiler Nulpen, a la die dumme Birne aus der Pfalz.

    Zitat Zitat von Realist59 Beitrag anzeigen
    Wie wäre das machbar gewesen, die DDR künstlich am Leben zu halten, um den DDR-Bürgern die Landung so bequem wie möglich zu machen? Sie hatten es doch in der Hand. Ihre Betriebe sind auch deshalb kaputt gegangen, weil niemand mehr die Ost-Produkte haben wollte.
    Hätte man damals den Anspruch der SBZ'ler auf die deutsche Staatsbürgerschaft endlich annuliert, und zugleich jede Hilfeleistung des Westens verboten, dann hätte sich die 'demokratisch' sozialistische SBZ, ohne sowjetische Bajonette, zunächst in eine Art Ultratotalitarismus a la Nordkorea inmitten Europas verwandelt, um dann in Bürgerkrieg, Hungersnöten und ökonomischen Zusammenbruch, den Sozialismus sozusagen auf den Begriff zu bringen, während sich in unserer Heimat alles zum Besten entwickelt hätte.

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