Man höre und staune: In Berlin haben die Kinder eine sechsjährige Verweilgarantie in der Mittelstufe und dürfen damit auch 3 mal in einer Klasse sitzenbleiben, ohne dass dies Konsequenzen hat.

Diesterweg-Gymnasium

96% Muslime: Berliner Schule kämpft für Integration unter schwierigsten Umständen

Staatliche Brennpunkt-Schule in Berlin-Wedding. Nahezu alle Schüler sind muslimisch und haben eine Zuwanderungsgeschichte. Drei Viertel der Kinder aus dem Einzugsgebiet sind auf staatliche Sozialleistungen angewiesen. Hier zeigt sich, wie schwierig die Umstände sind, unter denen erfolgreiche Integration gelingen muss - und gelingen kann.

Drei Mädchen mit Kopftuch überqueren eine Straße in Berlin-Wedding. Unflätige Botschaften aus der Dose verzieren die heruntergelassenen Rollläden der Nachbarschaft. Shisha-Bar und Schule liegen hier nur wenige Meter auseinander.
Schulleiter Volker Lehmann zupft seinen schwarzen Rollkragenpulli zurecht und steckt die Hände in die Hosentaschen. Es ist frisch. Seinen Besuchern zeigt er sein Diesterweg-Gymnasium aber gerne erstmal von außen. Schüler haben die Wände vor einiger Zeit kunstvoll verziert, um Graffiti-Schmierereien zu übermalen und Farbe in den grauen Blockbau-Kiez zu bringen. Nun steht das Projekt als Beleg dafür, wie die Schule mit viel Fleiß aus großen Problemen bewältigbare Herausforderungen macht.

96 Prozent der Schüler am Diesterweg-Gymnasium sind muslimisch, 93 Prozent haben eine Zuwanderungsgeschichte. 75 Prozent der Kinder aus dem Einzugsgebiet sind auf finanzielle Hilfe des Staates angewiesen.


Eine gesellschaftliche Minderheit ist hier in der Mehrheit. Das birgt kulturelles Konfliktpotential.


Da war mal ein Mädchen mit Kopftuch, 16 Jahre jung. Sie hatte einen festen Freund. In dem Alter eigentlich etwas ganz Nachvollziehbares. Für andere orthodoxe Muslima war sie deswegen aber Zielscheibe für verbale Schikane auf der Schultoilette. Das Mädchen sah sich gezwungen, das Gymnasium zu verlassen.

Kopftuchträgerin als Mephisto im Theater

Da war aber auch mal ein anderes Mädchen mit Kopftuch. Das trug roten Lippenstift und Teufelshörner. Dafür gab es Applaus. Sie spielte im Schultheater den Mephisto aus Johann Wolfgang von Goethes "Faust". Lehmanns Augen leuchten, als er sich daran erinnert.

"So unterschiedlich wie wir Menschen sind, so unterschiedlich ist auch das Verhalten mit dem Kopftuch", stellt der Schulleiter klar. Er und seine Lehrkräfte schaffen als Antwort darauf ein Umfeld der Toleranz und Akzeptanz. Acht Stunden Ganztagsschule können und sollen hier auch acht Stunden Freiheit sein.

So hat eine Lehrerin die schuleigene Halle blickdicht machen lassen, sodass die Schülerinnen im Sportunterricht die schwarzen geflochtenen Haare fliegen lassen können - wenn ihnen danach ist. Manche muslimische Mädchen legen ihr Kopftuch im Laufe der Schulzeit von sich aus ab. Oder sie entscheiden sich ganz bewusst dafür, es weiterhin zu tragen.

An Lehmanns Gymnasium vermischen sich derartige kulturelle Herausforderungen mit bildungspolitischen.

Kein Gymnasialniveau bei 50 Prozent der Siebtklässler

So entscheidet der Elternwille, ob ein Kind nach sechs Jahren Grundschule auf das Gymnasium oder die integrierte Sekundarschule wechselt. Gymnasium bedeutet Prestige und auch viele Eltern aus dem türkisch-arabischen Kulturkreis sehen den Besuch der bestmöglichen Schule als Grundvoraussetzung für den späteren Erfolg des Kindes an.

So kommt es, dass nur 50 Prozent der Schüler an Lehmanns Gymnasium tatsächlich gymnasiales Niveau haben. Berlinweit zählt die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie 30,2 Prozent Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache im ersten Gymnasialjahr.

8.55 Uhr, Besuch in der Biologiestunde einer siebten Klasse. Gymnasialunterricht, wie er nicht sein sollte. Die Schüler melden sich kaum. Wenn sie sprechen, zelebrieren sie den "Sch"-Laut und eine undeutliche Sprechweise. Sie sollen einen Merksatz für die Vermehrung einer Bakterienpopulation formulieren und haben dafür 20 Minuten Zeit. Die zu verwendenden Fachbegriffe sind vorgegeben.

"Jeder Fachunterricht in den unteren Klassenstufen ist bei uns auch Deutschunterricht. Sprachbildung ist hier das A und O", flüstert Lehmann, der in der letzten Reihe des Klassenzimmers Platz genommen hat.

Die meisten Jugendlichen trauen sich anschließend zuerst nicht, ihren Satz vorzulesen. Der junge Referendar muss sie immer wieder dazu ermutigen. Die grammatikalischen Schwächen sind offensichtlich. Mal wird der Artikel falsch verwendet, mal das Verb falsch gebeugt, mal stimmt die Aussprache nicht. Der Referendar korrigiert geduldig jeden Fehler, wieder und wieder. Irgendwann ist die Stunde vorbei, ohne dass die eigentliche Aufgabe erfüllt worden wäre.

Politische Instrumente versagen

In den letzten sechs Jahren lag die Erfolgsquote in den Abiturjahrgängen am Diesterweg-Gymnasium fast immer bei etwa 96 Prozent. Die Durchschnittsnote pendelt zwischen 2,58 und 2,89. Angesichts der Umstände ein sehr respektables Ergebnis.

"Wir könnten unsere Gymnasiasten viel schneller an das Abitur heranführen, wenn nicht so viele von ihnen nicht gymnasial wären. So arbeiten wir aber mit Kindern, die einen Misserfolg nach dem anderen erleben", muss Lehmann resümieren. Darum ist die siebte Klasse des Gymnasiums auch ein Probejahr, in dem die Schüler genau beobachtet werden. Wer zu schlechte Noten bringt, wechselt in die achte Klasse der integrierten Sekundarschule, hat dann aber später immer noch die Chance, das Abitur zu machen.


Dennoch funktioniert das nicht immer. Auch am Diesterweg-Gymnasium gibt es frustrierte Schüler,die die achte Klasse nun bereits das dritte Mal wiederholen. Die Schule kann nichts tun, da die Jugendlichen eine gesicherte Aufenthaltsdauer von sechs Jahren in der Mittelstufe haben - eine Berliner Eigenheit. Die Eltern sind uneinsichtig. "Man kann ihnen nicht klar machen, dass das für das Kind eine absolute Katastrophe ist", sagt Lehmann hadernd.

Viele arabisch- und türkischstämmige Eltern haben ein deutsches Gymnasium nie besucht, kennen sich dementsprechend mit den internen Abläufen nicht aus und halten sich lieber raus. Lehmann klagt darüber, dass die Eltern immer wieder der Schule gerne die "alleinige Verantwortung" für den Bildungserfolg der Kinder übertragen.

Sie interessieren sich zu wenig, kennen in einigen Fällen nicht mal die Namen der Klassenlehrer. Dabei ist erwiesen, dass es die schulische Leistung des Kindes steigert, wenn Eltern aktiv nachfragen und dem Schulalltag einen Wert einräumen.

Muslimische Schülerschaft, kulturelle Homogenisierung

Problematisch ist darüber hinaus das soziale Umfeld. Es gibt am Diesterweg-Gymnasium zwar keine Probleme mit Gewalt, Mobbing oder Drogen wie an anderen Brennpunkt-Schulen. Dafür aber eine zunehmende Ghettoisierung im Kiez. In Wedding leben mehr als 86.000 Menschen, jeder Dritte kommt aus dem Ausland. Tendenz steigend.

Viele Kinder kommen so nicht raus aus ihrer nicht-deutschen kulturellen Prägung, sie bleiben weitgehend unter sich, konsumieren Medien aus der Heimat ihrer Eltern und sprechen lediglich in der Schule Deutsch. Für muslimische Eltern ist das Diesterweg-Gymnasium gerade wegen der religiösen Homogenität im Einzugsgebiet erste Wahl.

Lehmann und sein Team ermuntern die Eltern zwar immer wieder, Bildungs- und Freizeitangebote außerhalb der Schule für ihr Kind auch in anderen Stadtteilen zu nutzen. Doch das ist manchen muslimischen Eltern nicht recht. Sie wollen die Kontrolle über ihr Kind, es soll nicht über ihren eigenen Lebensradius hinausgehen. Veränderungen an diesem Modell oder pädagogische Tipps lehnen viele Elternteile schlicht ab, teils aus Stolz, teils aus Scham, teils aus kulturellen Gründen.


Wirklich zu erreichen sind viele Eltern für die Schule nur, wenn es ein Problem gibt, wie etwa schlechte Noten. Doch ein nachhaltiger Effekt lässt sich in den Unterredungen nur selten erzielen. Aus der Unwissenheit und Hilflosigkeit heraus üben die Eltern nach Informationen der Pädagogen dann Druck auf die Kinder aus.

Sie suchen nach Bestrafungsmöglichkeiten. Handyentzug gilt etwa als probates Mittel. In einigen Fällen wissen die Lehrer auch von häuslicher Gewalt. Die Gräben zwischen Eltern und Schule sind manchmal sehr tief.

Schulleiter fordert mehr Elternarbeit

"Wir wären erfolgreicher, wenn wir intensivere Elternarbeit leisten könnten", sagt Lehmann. Doch vor dieser Herausforderung stehen alle sogenannten Brennpunkt-Schulen. Das Diesterweg-Gymnasium hat aber Ansätze gefunden, mit denen es das Elternproblem angehen kann.

So gibt es die Bilanz- und Zielgespräche, ein Elternsprechtag in neuer Form. In jedem Halbjahr kommen Lehrer, Eltern und Schüler zu einem verbindlichen Gespräch zusammen und arbeiten dann gemeinsam an einer Verbesserung der Situation. Alle Parteien bereiten sich explizit auf das Treffen vor, die Lehrer passen die Gesprächsdauer individuell an Situation und Schüler an.

Lehmann und sein Team haben so einen Weg gefunden, zumindest von Zeit zu Zeit in Kontakt zu den Eltern zu treten, Druck und Unwissenheit abzubauen, die Kinder und ihre Familie zu entlasten und Missverständnisse auszuräumen.


Lehmann achtet auch genau darauf, dass es immer wieder neue Möglichkeiten für die Eltern gibt, mit Schule, Sozialarbeitern und Lehrkräften in Kontakt zu treten. Es gibt das Elterncafé, das zu lockerem Austausch einlädt oder auch den Schülerkalender des Diesterweg-Gymnasiums. Er beinhaltet alle wichtigen Adressen, Ansprechpartner, Termine und auch eine Notenübersicht. Eltern sollen so einen besseren Überblick über das Schulleben und die Leistungen ihrer Kinder bekommen.

Syrischer Sozialarbeiter als Bindeglied

Und dann ist da noch Herr Gharib. Der Syrer, der bereits 1985 nach Deutschland kam, betreut zusammen mit einer Kollegin die knapp 600 Schüler als Ansprechpartner für Probleme aller Art. Die dunklen Augen des Sozialarbeiters strahlen männliche Autorität und gleichzeitig angenehme Ruhe aus. Gharib spricht die Sprache der meisten Schüler, er kennt ihre Probleme und Nöte. Wenn er erklärt, warum in Deutschland bestimmte Dinge so und nicht anders geregelt sind, dann verstehen das die Kids.

Er ist auch das entscheidende Bindeglied zwischen Schule und Elternhäusern. "Sprechen und offen zu anderen Menschen zu sein, ist in der türkischen, arabischen und kurdischen Kultur gang und gäbe", sagt Gharib. "Wenn die Eltern die Sprache des anderen nicht sprechen können, ist das für sie beschämend. Sie schämen sich, wenn sie sich auf Deutsch nicht fließend und auf Augenhöhe unterhalten können. Dann halten sie lieber den Mund und sagen nichts."

Schulleiter Lehmann nickt. Mit seiner Perspektive schafft Gharib schon seit mehr als elf Jahren am Diesterweg-Gymnasium Verständnis zwischen beiden Kulturen.

Vierte Stunde, 11.15 Uhr. Politikunterricht in der Oberstufe. Gymnasialunterricht, wie er sein sollte. Ein Dutzend Schüler diskutiert in Gruppenarbeit die Effekte von Globalisierung. Selbstbewusst präsentieren die Schüler in sauberem Deutsch ihre Erkenntnisse vor dem Kurs. Es ist ein eindrucksvoller Unterschied im Vergleich zu der siebten Klasse vom Morgen, der Lehmann in der letzten Reihe sichtlich stolz macht.

https://www.focus.de/politik/deutsch..._10048130.html


Natürlich kann keine Geschichte ohne Happy End "Am Ende wird alles gut" enden. Früher hießen solche letzten Sätze: "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute"