Vom Wutbürger zum Gutbürger in 100 Tagen

Robert von Loewenstern

Es ist Jahreswechsel, Zeit der Erinnerung und Besinnung. Zeit, sich selbst zu prüfen. Sagte auch die Bundeskanzlerin in ihrer Neujahrsansprache, und wenn sie das sagt, muss es stimmen. Als große Anführerin ist sie mit gutem Beispiel vorangegangen und hat sich geprüft, wie sie erklärte. Nämlich, was sie „auch ganz persönlich“ beitragen könne zum „inneren Frieden und Zusammenhalt unseres Landes“.


Das Ergebnis ihrer Prüfung war, dass sie „nach Ende dieser Legislaturperiode keine politischen Ämter mehr ausüben“ werde. Das war die beste Nachricht des Jahres, allerdings zum gegebenen Zeitpunkt nicht mehr ganz aktuell, newstechnisch gesehen. Neu daran war aber doch, dass die Kanzlerin in aller Offenheit und Öffentlichkeit eingestand, selbst das Problem zu sein und nicht die Lösung. Merkel hatte erkannt und bekannt: Merkel muss weg.


Eine tolle Sache, finde ich. Klar, es hat etwas lang gedauert. Acht oder zehn oder dreizehn Jahre zu lang, je nach Standpunkt. Plus nochmal ein, zwei oder drei Jahre, bis das Elend ein Ende hat. Trotzdem, ich hätte mir etwas mehr Beifall und Anerkennung für die Kanzlerin gewünscht. Da hätten die Demonstranten mit den „Merkelmussweg“-Schildern auch mal sagen können: Hossa, geht doch!
Aber vielleicht kommt das noch. Vielleicht haben die Allermeisten gar nicht mitbekommen, was ihre Kanzlerin ihnen da mitgeteilt hat. Ist ja nicht jeder so ein eingefleischter Fan von Kanzlerinnen-Reden wie ich.
Mein Vorsatz: mehr fühlen, weniger denken

Wie auch immer. Das mit dem Zusammenhalt erinnerte mich an die Silvesterpredigt vom letzten Jahr. Damals rief die Kanzlerin zu „mehr Gemeinsamkeit” auf. Und zur Überwindung der Spaltung im Land. Gut, sie vergaß zu erwähnen, dass sie höchstpersönlich für diese Spaltung verantwortlich war. Aber, bitte, wir wollen nicht kleinlich sein mit Blick aufs große Ganze. Wir dürfen uns nicht ewig nach hinten orientieren, wir müssen nach vorne schauen. Sagen doch immer alle, zumindest dann, wenn es um das eine oder andere dumme Fehlerchen der Vergangenheit geht.


Mich jedenfalls bewegte Angela Merkels Rede. Und ich fühlte mich beschämt. Denn ich hatte selbst vor einem Jahr beschlossen, endlich „auch ganz persönlich“ dazu beizutragen, die schlimme Spaltung im Land zu überwinden. Ich wollte vorangehen, ein starkes Beispiel sein für andere, schwächere Naturen.
Die Lösung lag auf der Hand: Ich musste von der dunklen Seite ins Helle treten. Ich musste raus aus der muffigen rechten Ecke und hinein in die neue Mitte, also die alte Linke. Das kann nicht so schwer sein, dachte ich. Ein bisschen mehr Empathie und Toleranz, ein bisschen weniger Zahlen und Fakten. Einfach mehr fühlen und weniger denken. Ich kannte doch genug andere, die das Wenigerdenken mit großem Erfolg praktizierten.

Mein Freund, der Gutmensch

Da war zum Beispiel mein alter Freund und Weggefährte P. Ein selbstständiger Bestverdiener, ein Kunstversteher und Vorstadt-Heimeigner, vormaliger PDS- und jetziger Grünen-Wähler, religiös bei Sozialengagement, Kirchgang und Mülltrennung. Und mit drei Autos für zwei Erwachsene, darunter ein alter Volvo mit dem cw-Wert einer Schrankwand und dem Schadstoffausstoß eines mittelgroßen Braunkohle-Kraftwerks. Ein klassischer Gutmensch also, der die biodeutsche Erbschuld für alles Ungemach auf diesem Planeten aus vollem Herzen anerkennt.


Nachdem die Kanzlerin im September 2015 die neue globale Reisefreiheit eingeleitet hatte, meinte ich ihn aufrütteln zu müssen. Es war die Zeit, als täglich bis zu zehntausend Wanderer unkontrolliert über bundesdeutsche Grenzen schlenderten. Wo denn bitte in Deutschland heimlich jeden Monat eine Großstadt für 300.000 Neueinwohner gebaut werde, fragte ich provozierend. Wo monatlich ein neues Dax-Unternehmen in der Größenordnung der Deutschen Post entstehe, um die vielen hunderttausend Spitzenkräfte in Lohn und Brot zu bringen?
Mein Freund nahm die Tirade schweigend hin, während er starr seinen Bildschirm fixierte. Und dann, als ich Luft holen musste, wandte er sich mir zu und sprach mit treuherzigem, beinah merkeleskem Dackelblick die Worte, die all meine Einwände und Bedenken verpuffen ließen: „Aber wir müssen doch helfen!“ Was konnte ich darauf noch entgegnen? Genau, nichts.
Vom Wutbürger zum Mutbürger

Zwei Jahre später, Ende 2017, war ich bereit zur Aufgabe. Ich wollte nicht mehr der Widerständler sein, der ewige Nörgler und Besserwisser. Es hatte ja ohnehin keinen Sinn. Die willkommensbewegten Wenigerdenker hatten sich als erstaunlich zählebig und beratungsresistent erwiesen. Sie waren zwar die Minderheit, wie alle Umfragen zum Thema bewiesen. Aber sie waren die herrschende Minderheit. Besserung war nicht in Sicht.


Ich beschloss daher mein ganz eigenes Programm zur Persönlichkeitsoptimierung. Ich wollte mich fügen und das Unvermeidliche akzeptieren. Denn unglücklich macht allein die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die zielführende Frage lautet nach Bertolt Brecht: „Was, meinst du, ändert sich leichter? Ein Stein oder deine Ansicht darüber?“ Kleiner Tipp: Es ist nicht der Stein.
Ergo, folgert die moderne Psychologie pragmatisch, passe deine Ansprüche der Wirklichkeit an, und schwupps bist du auf der Sonnenseite des Lebens. Übersetzt in die fromme Nutzanwendung: Wenn du mit deinem abgebrochenen Hauptschulversuch meinst, man könne erst ab 200 k Jahresnetto glücklich werden, dann wirst du mit hoher Wahrscheinlichkeit zeitlebens ein Problem haben. Mit positiver Einstellung à la „Hartz IV, und der Tag gehört dir!“ sieht es da wesentlich besser aus.

Vom Wutbürger zum Gutbürger in 100 Tagen, so lautete daher mein Vorsatz für das Jahr 2018. Jetzt denke ich zurück und versuche mir zu erklären, wann und wo ich gescheitert bin.
Ich war auf einem guten Weg

Im letzten Februar, etwa zur Halbzeit meines Projektes, war ich noch guter Dinge. Ich hatte hervorragende Fortschritte erzielt, zum Beispiel bei der Polygamie. Da war der syrische Beduine Ahmad A., der mit seinen zwei Ehefrauen und sechs Kindern wohlversorgt in Pinneberg lebt. Zeit für Erwerbstätigkeit oder einen Deutschkurs hatte der stets gutgelaunte Analphabet nicht, er musste sich schließlich um die kleinen Racker kümmern. Auf diesem Feld war Ahmad Experte, denn seine erste Frau war bei der Eheschließung 14, die zweite 13 Jahre alt.
Früher hätte ich mich über den fröhlichen Ahmad und die verständnisvollen Behörden erregt. Polygamie ist hierzulande eine Straftat, blablabla und so weiter. Aber mein neues Ich war bereit, die Realitäten anzuerkennen. Schließlich schätzten Fachleute bereits vor Jahren, dass fast ein Drittel aller arabischstämmigen Männer in Berlin mit zwei Frauen verheiratet ist, mit der einen staatlich, mit der anderen islamisch. Dabei muss die Zweitfamilie nicht darben, denn sie wird von den Behörden als eigene Bedarfsgemeinschaft anerkannt und versorgt. So sieht’s nun mal aus. Wenn wir ehrlich sind, ist ein kraftvolles Bekenntnis des Bundespräsidenten längst überfällig: „Die Vielehe gehört zu Deutschland!“


Nein, von meinem Weg ins Positive wollte ich mich nicht ablenken lassen, auch nicht durch noch so perfide rechtspopulistische Propaganda. Da war zum Beispiel, ebenfalls im letzten Februar, der Fall der Essener Tafel. Die beschränkte die Neuaufnahme zeitweise auf deutsche Staatsbürger. Angeblich, weil rücksichtslose Migrantengruppen wehrlose Deutschomas aus der Warteschlange kegelten. Damit hatte sich der Tafelchef einen gewaltigen Río de kaka eingehandelt. Zu Recht, fand ich, denn das war empörend.


Nicht die Verdrängung von Omas, die war für einen Wirtschaftsliberalen wie mich selbstverständlich okay. Aber der willkürliche Eingriff der Essener Tafel in naturgesetzliche Prozesse, das war purer Rassismus.
Und dann kam der Rückfall

Etwas irritierend, das gebe ich zu, waren die Ausführungen des Wattenscheider Tafelchefs. Er sprach von „gleichen Problemen“ wie bei der Essener Tafel, die „schon 2015 massiv“ gewesen seien. „Die sagen: ‚Ich bin jetzt hier, gib, gib, gib.' In deren Augen sind wir minderwertig“, was sich der Bundesverdienstkreuzträger mit einer „anderen Denkweise“ der Menschen aus fremden Kulturen erklärte.
Das klingt nicht gut, fand ich bereits deshalb, weil es sich mit meinen früheren, voraufgeklärten Empfindungen deckte. Aber solch vorurteilsgeprägter Denke wollte ich nicht mehr nachhängen. Die künstliche Trennung zwischen „wir“ und „die“ musste ein Ende haben. „Das Volk sind alle, die hier leben“, hatte die Kanzlerin gesagt. Gut, unser Grundgesetz sieht das ein bisschen anders, aber das Grundgesetz ist ja auch von früher. Und überhaupt, Gesetze… nein, ich wollte positiv bleiben.


Tja, und dann hat es doch irgendwie nicht geklappt. Ich weiß nicht, was mich in den Rückfall getrieben hat. Waren es die täglichen Meldungen über „Gruppen“ und „Männer“ und deren teilweise etwas unorthodoxe Freizeitgestaltung? Die Messerstechereien, Vergewaltigungen und Morde? Der BAMF-Skandal? Oder Susanna-Killer Ali B., dessen komplette Familie mit falschen Identitäten hier lebte – soweit normal – und überraschend geschmeidig mit richtigen Identitäten ins „Verfolgerland“ ausreisen konnte? Oder alles zusammen?
Ich gebe nicht auf

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eins: Irgendwann fing ich wieder an, den Wald statt der vielen Bäume zu sehen. Ein fataler Fehler, denn Einzelfall ist Einzelfall, und es darf keinen Generalverdacht geben. Außer natürlich bei alten weißen Männern, zum Beispiel, wenn ein amtlich zertifizierter Irrer in Bottrop und Essen gezielt Migranten ummäht. Da dürfen dann auch irgendwelche Politologen ungehemmt über „typische rechtsterroristische Täter“, nämlich „vereinsamte Männer mittleren Alters“ fern- und generalpsychologisieren. Und das Pflichtwort „mutmaßlich“ ist in solchen Fällen sowieso entbehrlich.


Klar, das ist nachvollziehbar, denn wütende weiße Männer in den Fünfzigern sind nun mal naturgemäß die größte Gefahr für jede Gesellschaft, das ist allgemein bekannt. Genau deshalb will ich nicht mehr zu den weißen Wüterichen gehören. Und wenn sogar alte weiße Frauen sich für dieses Jahr vornehmen, Mangelmenschen wie mich zu umarmen, dann will ich nicht nachstehen. Zugegeben, für einen Drücker von Anja Reschke bin ich noch nicht bereit. Da gibt es Grenzen des guten Geschmacks.


Aber bei den Vorsätzen will ich mithalten. Denn die kleinen Kulturschrullen der Nochnichtsolangehierlebenden – ihre Vorliebe für Stich- und Schneidwerkzeuge, der ungezwungene Umgang mit dem weiblichen Geschlecht oder auch mal ein paar spontane körperliche Zuwendungen in der Amberger Fußgängerzone – sind doch im Grunde sehr sympathisch. Mit ein wenig gutem Willen finden wir einen Weg. Beziehungsweise wir gewöhnen uns und geben nach, aber das ist ja auch eine Art Kompromiss.


Deswegen will ich es unbedingt noch einmal versuchen. Vom Wutbürger zum Mutbürger in 100 Tagen. Ich bin sicher, dieses Jahr wird es klappen. Ganz bestimmt. Genau wie die Sache mit dem Rauchen.

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