Interview mit Kardinal Woelki „Gott ist Mensch geworden, nicht ‚Bio-Deutscher‘




Zur Weihnachtsgeschichte gehören die Herbergssuche und die Flucht vor Verfolgung. Aber wird unsere Gesellschaft nicht doch überfordert, wenn etwa der UN-Migrationspakt ausdrücklich alle Länder zu „Herkunfts-, Transit- und Zielländern“ erklärt? Vielleicht nicht ökonomisch, aber kulturell?



Migration ist global betrachtet eine Tatsache. Sie ist eine der größten Herausforderungen unseres noch jungen Jahrtausends. Deshalb ist es wichtig, dass die Staatengemeinschaft sich auf globaler Ebene darüber verständigt, wie man gemeinsam zu guten Lösungen kommt. Wem es gut geht, der muss auch Verantwortung für Schwache übernehmen. Dieser zentrale Gedanke der Katholischen Soziallehre gilt auch hier.

Denn obwohl wir in Europa seit dem Jahr 2015 selbst stark von Migration betroffen sind, müssen wir anerkennen, dass die weit umfangreicheren Bewegungen nicht bei uns in Europa stattfinden, sondern die ärmeren Länder - z.B. die in Afrika - weit mehr treffen. Aus unserem weltkirchlichen Engagement heraus wissen wir, wie groß die Not dort ist. Dafür braucht es das Engagement aller und gerechte, solidarische Lösungen in der einen Weltgemeinschaft. Deshalb ist der UN-Migrationspakt ein gutes Abkommen.


Im Rückblick auf ein Jahr voller Polarisierungen stellt sich auch die Frage nach der drohenden Spaltung der Gesellschaft und danach, welche Aufgabe dadurch der Kirche zuwächst



Mich hat es schon erschüttert, dass demokratische Politiker der Mitte sich im vergangenen Jahr eines Vokabulars zu bedienen begonnen haben, dem extremistische Kräfte applaudieren und in aller Öffentlichkeit dankbar auch noch mit eigenen Hassparolen anreichern.


Wer Menschen, die vor Krieg und Vertreibung, Vergewaltigung und Tod Schutz suchen, als „Asyltouristen“ entwürdigt und ganze Bevölkerungsgruppen ausdrücklich vom bundesrepublikanischen Wir ausschließt, tritt eine Entwicklung in Gang, deren Auswirkungen nicht abzusehen sind. Als vorrangige Aufgabe betrachte ich es deshalb, gemeinsam anzupacken und konkrete Hilfe für Integration und Inklusion zu leisten, damit unsere Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderdriftet.


Daran wollen wir als Kirche mitwirken und das ist uns auch seit 2015 dank unserer verschiedenen sozialcaritativen Träger gelungen. Unser Klarissenkloster in Köln-Kalk etwa ist so ein Beispiel für gelungene Integration und hat dafür sogar eine Auszeichnung der KFW-Bank erhalten, was mich besonders bestärkt hat in diesem Jahr. Das Christentum ist nicht nur ein frommer Glaube, es ist auch eine ganz konkrete Haltung gegenüber Mitmenschen. Deshalb wollen wir auch ein geistiges Klima befördern, das uns daran erinnert: Gott ist Mensch geworden, nicht „Bio-Deutscher“. Jeder Mensch darf sich darauf berufen, egal wo er herkommt.


Wie kriegen wir wieder Frieden in den Diskurs?





Es wird immer deutlicher, dass der Umgang mit Migration ein Top-Thema für viele Menschen ist. Aber anstelle der Debatte im Parlament tritt leider zunehmend der Clinch der Chat-bots. Anstatt über ein ordentliches Einwanderungsgesetzt zu sprechen lassen wir die Menschen in Meinungsblasen abwandern. So gewinnen nur die politischen Scharfmacher links wie rechts und die demokratischen Mechanismen verlieren an Bedeutung. Wir müssen mit Transparenz und Offenheit darüber sprechen, was Menschen bewegt. Daran führt kein Weg vorbei. Dazu gehört es auch, manche Probleme in Folge von Migration deutlich zu benennen. Die Last der Migration ist teilweise unterschiedlich stark verteilt - In Duisburg anders als in Prenzlauer Berg. Aber dazu gehört es genauso, rechten Gruppierungen entschieden
entgegenzutreten, die daraus Kapital schlagen wollen
. Die Debatte rund um den Migrationspakt war so ein Beispiel dafür, wie sensibel Menschen darauf reagieren, wenn sie das Gefühl haben, dass Vereinbarungen am öffentlichen Diskurs vorbei eingefädelt werden sollen.


So besinnlich Weihnachten ist und sein muss – wie revolutionär ist es in seiner Botschaft?



Die Geborgenheit des bevorstehenden Weihnachtsfestes basiert auf der Zusage, dass Gott bei uns ist. Über viele Jahrhunderte verstanden die Menschen hingegen unter „Gott“ immer einen über allem thronenden, unzugänglichen Herrscher. Die jüdisch-christliche Tradition spricht demgegenüber von einem Gott, der sich offenbar macht, sich den Menschen zeigt und bei ihnen sein will. Für uns Christen liegt Gottes Größe gerade darin, dass er sich selbst klein gemacht hat. Gott ist aus Liebe in einem kleinen Kind Mensch geworden, hat unter uns gewohnt und schließlich an Ostern für uns den Tod durchbrochen. Was könnte in Zeiten von Egoismen und Abgrenzung radikaler sein als dieses Bild: Wer unter Euch herrschen will, der sei der anderen Diener? Ich wäre sehr gespannt auf die Reaktion, wenn man das so manchem Staatschef vorschlagen würde.


Nach Berechnungen des amerikanischen Pew-Instituts dürfte der Anteil der Muslime in Europa je nach Ausmaß der Zuwanderung von heute 4,9 bis 2050 auf 7,4 bis 14 Prozent steigen. Manche Zeitgenossen verlangen da um der christlichen Identität willen eine Begrenzung der Migration. Was halten Sie davon?



Wir müssen uns genau dann und nur dann keine Angst um unsere christliche Identität machen, wenn wir selbst mit Überzeugung und Freude für unseren Glauben eintreten und ihn leben. Wir glauben an einen Gott, der die Liebe ist. Dementsprechend werben wir dafür, unserem Nächsten wertschätzend und offen gegenüber zu treten. Als Christen wollen wir Menschen für diese Botschaft gewinnen und sie zum Maßstab des Handelns machen. Aber die christliche Identität ist nicht dazu geeignet, ein demographisches Bollwerk gegen Zuwanderer zu errichten. Abgrenzung kann und muss ausschließlich gegenüber denjenigen stattfinden, die die Werte unseres Grundgesetzes nicht akzeptieren.



Die Rundschau hat kürzlich darüber berichtet, dass im einstmals heiligen Köln nicht einmal mehr die Hälfte der Einwohner einer der beiden großen Kirchen angehört. Die Weihnachtsbotschaft nur noch ein Programm für eine Minderheit?





Es bleibt dabei: Gott ist für alle Menschen auf die Welt gekommen. Das feiern wir an Weihnachten und sind fest davon überzeugt, dass diese Nacht vor 2000 Jahren etwas für alle Menschen aller Zeiten verändert hat. Die vollen Kirchen an Weihnachten sagen mir: Diese Botschaft vom Kind im Stall versteht einfach jeder, weil sie unser Herz anspricht. Es muss aber unser Anspruch bleiben, dass wieder mehr Menschen die Radikalität dieser Botschaft verstehen, sie für das eigene Leben annehmen können und bereit sind, durch ihr Lebenszeugnis selbst zu einem Zeichen für diese Botschaft zu werden. Dem stellen wir uns jeden Tag aufs Neue.


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