Der Reportagenerfinder und frühere Spiegel-Starjournalist Claas Relotius biegt in einem Interview wieder die Wirklichkeit zurecht, um das System und die Verantwortlichen in den Redaktionen zu entlasten. Er und seine Tendenz-Geschichten waren nur möglich in dem deutschen Medien-Biotop.
Übeltäter haben letztendlich nur zwei leidlich plausible Erklärungen für ihre Missetaten: ihre kranke Seele oder das kaputte System. Der eine Weg bedeutet, sich mehr oder minder für unzurechnungsfähig zu erklären, sich als psychisch schwer angeschlagenen Menschen zu schildern. Oder man begründet die üblen Vergehen mit extremen äußeren Bedingungen. Raffinierte Angeklagte geben noch ein Lippenbekenntnis über die große eigene Verantwortung ab – um dann doch nur immer wieder auf die tückische Psyche oder den Druck von außen zu kommen.

Die tragische Figur des Claas Relotius, der für den Spiegel und andere deutsche Leitmedien über viele Jahre hinweg oft unfassbare Münchhausen-Geschichten aus einer woken Phantasiewelt erfand, offeriert nun in einem endlos langen Interview der Schweizer Zeitschrift Reportagen eine besonders originelle Erklärung für sein Tun. Die Ende 2018 durch den Spiegel-Kollegen Moreno aufgedeckte Hochstapelei von Relotius gilt als größter Betrugsskandal im deutschen Journalismus der letzten Jahrzehnte.
Nun bietet ihm Reportagen eine neue Bühne zur Selbstdarstellung. Zum einen soll der weitgehende Seelenstriptease und die Schilderung seines Weges durch Psychiatrie und Therapien belegen, dass bei ihm dunkle, dämonische Kräfte – und nicht etwa die biblischen Laster von Gier und Ruhmessucht – am Werk waren. „Laut psychiatrischer Diagnostik erleben Sie dissoziative, psychosenahe und auch psychotische Zustände“, zitiert die Zeitschrift aus der Krankengeschichte des gefallenen Medienhelden. Zum anderen beschreibt Relotius zwar, wie aberwitzig gutgläubig und naiv Redaktionen und Journalisten seine tendenziösen, oft kitschig-sentimentalen Schilderungen, die meist schlicht erfunden waren, abnahmen. Gleichzeitig will Relotius uns heute aber auch weismachen, dass er stets von ehrenwerten, erstklassigen und kritischen Journalisten umgeben war. Er schwärmt von den „hervorragenden Kollegen“ vorbildlichen Ressortleitern beim Spiegel, von einer „liberalen Redaktion“ – ohne überzeugend zu erklären, wieso alle auf seine „großen, sinnlosen Fehler“ und die oft befremdlich-melodramatischen Schilderungen reinfielen.
Die Lügen des Relotius reloaded
Aber Relotius lügt schon wieder. Während manche DDR-Korrespondenten nach dem Fall der Mauer in den 90er Jahren kleinlaut ihre Kollegen in den westlichen Medien um Verständnis für ihre jahrelangen Lügen-Berichte baten, weil der politische Druck der Redaktionen und der SED auf sie extrem gewesen sei, hält Relotius an der Schimäre eines ideologie-fernen, freien und unabhängigen Journalismus im Spiegel und anderen Medien fest. Natürlich war die politische Kontrolle der Journalisten in der DDR vom totalitären System geprägt, während Mechanismen des Drucks, der Kontrolle und der Erwartungen in unseren freien Medien – auch beim Spiegel – nur teilweise funktionieren und oft sehr subtil sind.

Relotius tut in dem Interview alles, um das System und die Verantwortlichen in den Redaktionen zu entlasten. Dabei ist es offensichtlich, dass er und seine vielfach preisgekrönten, hochgelobten Tendenz-Stories nur möglich wurden in dem deutschen Medien-Biotop, das seit langem in einigen Bereichen ideologisch vergiftet scheint und in dem viel zu oft ein parteiischer Gesinnungsjournalismus dominiert, gerne „Haltungs“-Journalismus genannt.

Die Konsequenz, mit der der heute 35-jährige Relotius nach dem enormen Skandal noch heute versucht, seine Linie der Fälschung und des Betrugs fortzusetzen, könnte einem sogar Respekt abnötigen. Aber beim Versuch, zu erklären, warum er jahrelang ein Lügengebäude errichtet hat, warum er in seinen Texten gelogen, verschleiert und verdreht hat, verheddert er sich erneut in Widersprüche.

1. Psychose oder Ideologie hinter den Texten?
Hat Relotius wirklich, wie er sagt, bestärkt von seinem Psychiater, das realitätsferne, lediglich von seiner wilden Phantasie beflügelte Schreiben als Therapie für seine tiefe psychotische Störung benutzt? Es war also nur eher zufällig, dass seine Texte Begeisterung in seinem professionellen Umfeld und in der Öffentlichkeit auslösten? Die einzig plausible Erklärung, die es zu geben scheint, lautet, dass er keineswegs vogelwild herumphantasiert hat, sondern genau das geschrieben hat, wonach sich seine Vorgesetzten und Leser offenbar sehnten, was sie liebten: die scheinbar authentische Schilderung von konkreten Zuständen und Ereignissen in der Welt und in der Gesellschaft, die trotz der unterschiedlichsten Themen die Gemeinsamkeit hatten, ein ganz bestimmtes Weltbild zu bestätigen und glanzvoll auszuschmücken.
Wie kann aber ein von inneren Dämonen und wirren Phantasien geplagter Mann, der ausführlich von seinen Wahnvorstellungen und verrückten Alltags-Handlungen berichtete (die er aber angeblich über Jahre all seinen Freunden und Kollegen verheimlichen konnte) exakt das produzieren, wonach sich jahrelang die Chefredaktionen und die Großkopferten des Journalismus, die Gremien für Medienpreise, sehnten? Ein Mann bedient geradezu genial die Bedürfnisse einer weitgehend weltanschaulich festgelegten Branche und beschreibt seine Werke dann als Resultat innerer Not und Verzweiflung, wirklich? Das ist genauso plausibel, wie die Begründung des Dealers, er verkaufe seine Drogen aus innerer Zerrissenheit und wegen einer tiefen Persönlichkeitsstörung.
2. „Unpolitische“ Geschichten über die modernen Konfliktthemen?
Relotius versteigt sich zu der Behauptung, seine Geschichten seien meist „vollkommen unpolitisch“ gewesen, „bei den allermeisten Themen“ hätten „Weltbilder gar keine Rolle“ gespielt. Kann es wirklich sein, dass er immer noch nicht die enorme politische Bedeutung seiner zahlreichen Stories über Kriegsflüchtlinge, Migranten, Trump-Wähler, US-Gefängnisse oder das Lager in Guantanamo sieht? Bestätigen sie nicht alle das Weltbild, das heute in den deutschen Redaktionen das einzig erlaubte zu sein scheint? Reportagen, in denen jeder Insasse eines Flüchtlingslagers tatsächlich nur vor Krieg und Terror floh, alle Migranten beseelt sind von dem Gedanken, mit ehrlicher Arbeit in Europa den Aufstieg zu schaffen, die amerikanische Gesellschaft geprägt ist von kaputten Strukturen und Unmenschlichkeit, von waffenverrückten, rassistischen Weißen usw. usw.

Er habe geglaubt, so Relotius, Reportagen müssten nicht die Realität widerspiegeln, es seien weniger Tatsachenberichte als „Geschichten, also verdichtete, konstruierte Wirklichkeiten“. Es sei darum gegangen, den Lesern ein Thema nahe zu bringen. Die Wahrheit ist, dass es in erster Linie darum ging, eine ganz bestimmte Sichtweise zu transportieren – völlig egal, ob das die Realität hergab oder nicht.
„Ich weiß nicht, wie man ambivalent über Kriegswaisen schreiben soll“, meint Relotius. Vielleicht würde es ihm helfen, über die deutschen Kriegswaisen nach dem Zweiten Weltkrieg nachzudenken – niemand will die menschlichen Tragödien ignorieren, aber gehört zu diesen Dramen nicht auch der Blick auf deutsche Kriegsverbrechen und deutschen Völkermord in den Nazi-Jahren? Ist das heute im Gaza-Streifen, in Afghanistan oder Syrien anders? Selbstverständlich sind die „Bösen“ und die Verantwortlichen in Relotius-Geschichten in der Regel die üblichen Verdächtigen: der imperialistische Westen und die gierigen Kapitalisten vornweg.
3. Relotius-Skandal entlarvt auch Fehlentwicklungen der Medien
Mit Relotius will heute in der Branche niemand mehr etwas zu tun haben – ich vermute auch deshalb, weil eben so viele Journalisten in Wirklichkeit sehr viel mit ihm zu tun haben. Relotius tut zwar so, als sei er ein Einzelfall, einer, der klammheimlich auf üble Weise die Standards des Journalismus verletzt habe. Dabei scheint er nur ein ungewöhnlich dreistes Exemplar seiner Journalistengeneration zu sein.
„Die Jüngeren haben eine tiefe Sehnsucht nach neuer Subjektivität“, beschrieb kürzlich sogar der Intendant des höchst umstrittenen, eindeutig linkslastigen Deutschlandradios, Stefan Raue, die jungen Journalisten heute. Sie hätten eine „andere Perspektive“ auf den journalistischen Beruf, sagte der Chef von vielen hundert Journalisten ganz offen und behauptet ganz unschuldig, er könne das nicht „par ordre du mufti“ ändern. In das Bild gehört, dass eine Umfrage unter ARD-Volontären im Mai 2020 gezeigt hat, dass unfassbare 80 Prozent des Nachwuchses Grün oder links wählen.
Claas Relotius ist unter den jüngeren Journalisten das, was Uli Hoeneß einmal unter Managern, Spekulanten und anderen Finanzjongleuren war. Hoeneß hatte mit seinen Steuer-Betrügereien zum einen enorme Summen bewegt und der Steuer hinterzogen, zum anderen hat er sich auch noch erwischen lassen. Jeden Tag lässt sich in den deutschen Medien eine Berichterstattung erkennen, in der es eine erschreckend hohe Zahl von einseitigen, geframten, tendenziösen und parteiischen Berichten, Nachrichten und Reportagen gibt. Vermutlich wird hier meist nicht gelogen: aber bewusst werden Aspekte, Argumente und ganze Themen weggelassen oder aber hochgepusht, gezielt gewertet oder diskreditiert.

Relotius galt viele Jahre als Star einer neuen Journalistengeneration, die genau wie er, nur nicht so krass, journalistische Grundsätze der Unparteilichkeit, Ausgewogenheit, Fairness und Objektivität hinten anstellt, wenn es darum geht, die Welt so darzustellen, wie man sie als anständiger Mensch zu sehen habe: Die Welt leide unter Rassismus, Rechtsradikalen, Frauenfeindlichkeit und Kapitalismus, unter „Populisten“ wie Johnson, Trump und anderen alten, weißen Männern; die drohende Klimakatastrophe erfordere drastische Maßnahmen, eine Kritik an der Energie- und Klimapolitik, der Flüchtlings- und Migrationspolitik, der EU, der Corona-Strategie, an Quoten und Genderdeutsch, an LGBT-Forderungen, der Sinnhaftigkeit der öffentlich-rechtlichen Sender oder dem Islam in Europa provozierten vor allem die Frage nach der Nähe zu Rechtsradikalen und AfD.

Jeden Tag wirken unzählige Redakteure und Reporter unspektakulär, im Kleinen und unauffällig, aber ganz im Geiste von Relotius, getrieben von dem Bestreben, die Welt so zu beschreiben, dass sie in das große Narrativ einer verkommenen, neoliberal-ungerechten, unmenschlichen, rassistischen, frauenfeindlichen und letztendlich kriegstreibenden westlichen Welt passt.

Einen Relotius konnte es nur in dem Biotop des modernen Haltungsjournalismus geben. Die professionelle und gesellschaftliche Anerkennung, der bewusste Verzicht auf die Berücksichtigung des gesunden Menschenverstands angesichts der oft grotesken Lügen und Erfindungen in einer ganzen Branche und über viele Jahre hinweg zeigt wohl nur, wie weit wir uns in manchen Bereichen im freien Westen ideologisch verrannt haben.
Die Resultate des „neuen Journalismus“ von Reportern und Redakteuren mit „Haltung“ sind jederzeit, Tag und Nacht, nirgends besser zu besichtigen und zu hören als in den vielen ARD- und ZDF-Programmen. Sie zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass man nur bei größter Anstrengung die Parteilichkeit und Einseitigkeit der Themenauswahl, der Interviewpartner, des Tenors der Berichte und der Wortwahl verleugnen kann. Sehr selten, aber immer wieder, gibt es auch journalistische Feigenblätter im Programm, die die Schamlosigkeit des Tendenzjournalismus verbergen sollen: beispielsweise auch mal einen konservativen Gesprächspartner oder ausreichend Verweise auf andere Sichtweisen.
Der Spiegel, Hauptarbeitgeber des Hochstaplers Relotius, lässt sich nicht ganz so einfach kategorisieren. Noch immer – oder neuerdings sogar öfters – erfüllt das Magazin den Anspruch, eine breitere Palette von Sichtweisen und Inhalten anzubieten. Schließlich war es ja mit Juan Moreno auch ein Spiegel-Mitarbeiter, der den Fälscher schließlich entlarvte, trotz erster Widerstände und sogar von Intrigen im Verlag. Erstaunt liest der Leser der „Reportagen“ nun, dass Moreno und Relotius sich offenbar nie persönlich begegnet sind.

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