Hetzjagd, Hasenjagd und Staatsjagd

Peter Grimm

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel am Freitag zum Kurzbesuch in Chemnitz weilte, gab es viele wohlmeinende und um Harmonie bemühte Worte – sowohl von ihr als auch von den Chemnitzer Bürgern, die ausersehen waren, mit der Kanzlerin ganz direkt in den viel beschworenen Dialog treten zu dürfen. Auch heikle Themen wurden bekanntlich angesprochen.


Jedes Statement nahm die deutsche Regierungschefin zum Anlass, zu sagen und zu demonstrieren, dass sie dem Bürger ihre an sich gute, richtige und ohnehin alternativlose Politik nur besser erklären müsse und dann werde alles gut. Auf diese Weise hat sie sich auch zu ihrem Satz „Wir schaffen das“ bekannt. Nur ein Wort nahm keiner in Mund, obwohl es vor wenigen Wochen quasi zu einem regierungsamtlichen Etikett für die Vorgänge in Chemnitz gemacht wurde und so eine absurde Regierungskrise auslöste: „Hetzjagd“.


Sie erinnern sich: Nachdem ein Chemnitzer von Asylbewerbern getötet und zwei schwer verletzt wurden, gab es eine Reihe von Protesten – auch Rechtsradikale und Rechtsextremisten waren auf den Chemnitzer Straßen unterwegs. Der getötete Chemnitzer war politischen Verantwortungsträgern fortan nur noch eine Randnotiz wert, denn jetzt war die Gefahr von rechts aufgetaucht, und die ist bekanntlich immer die größte Bedrohung. Da müssen alle anderen Gefahren hintan stehen.


Spätestens als Leitmedien – allen voran die öffentlich-rechtlichen Sender – und die Bundesregierung eine „Hetzjagd“ auf Ausländer beklagten, fragte kaum einer mehr wirklich nach Abläufen und genauen Verhältnissen. Gegen „Hetzjagden“ muss man Haltung zeigen und diese nicht hinterfragen. Wenn tatsächlich einmal die Frage aufkam, ob denn der Begriff „Hetzjagd“ angemessen sei, dann erklärten die Kanzlerin und ihr Regierungssprecher, dass man darüber nicht mehr diskutiere. Dafür, dass es so sei, gab es ja schließlich den Videobeweis, auch präsentiert von der altehrwürdigen Tagesschau als solchen – eine 19 Sekunden lange Sequenz, die eine Gruppe „Antifa Zeckenbiss“ ins Netz gestellt hatte.


Dass dieses Video-Stückchen, auf dem man einen Mann sieht, der offenbar einem anderen nachsetzt, während eine Frauenstimme energisch sagt: „Hase, Du bleibst hier“, als Beweis für eine Hetzjagd gelten sollte, war ja schon absurd genug. Dass aber ein solches Stückchen aus der Quelle „Antifa Zeckenbiss“ von Tagesschau und Kanzleramt als beweiskräftig präsentiert wurde, machte es noch absurder.
Als am Ende der Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen nach zwei Koalitionskrisen aus dem Amt scheiden musste, weil er dieser regierungsamtlichen Darstellung widersprochen hatte und von eigenen Erkenntnissen sprach, die dem offiziellen Bild zuwiderliefen, schien der Gipfel der Absurdität erreicht. Doch die abwegige Geschichte dieser „Hetzjagd“ ist noch nicht zu Ende. Es folgen jetzt offenbar spannende weitere Kapitel.


Vom „Hasen“ und seiner Frau

Als Maaßen Anfang September via Bild öffentlich anzweifelte, dass die Video-Sequenz „Hetzjagden“ beweisen würde, was auch an der unklaren Herkunft des Videos liege, empfanden Freund wie Feind, dass er sich damit weit aus dem Fenster gelehnt habe. Zumal er offenbar bei den folgenden Ausschusssitzungen im Bundestag, bei denen er sich erklären und seine Zweifel belegen sollte, nichts Neues präsentieren konnte, was die Herkunft des Hase-du-bleibst-hier-Videos angeht. Zumindest das hatten auch seine Unterstützer von ihm erwartet. Kannte der Verfassungsschutz dessen Urheber und Entstehungsgeschichte?


Offenbar hatte ja eine Frau gefilmt, die ihren „Hasen“ am Losrennen hindern wollte. Und „Hase“ war bestimmt keiner von der Antifa. Maaßen sagte dazu nichts. Aber auch die sich inzwischen zahlreich in Chemnitz tummelnden Journalisten lieferten keine erhellende Antwort. Ging denn keiner auf Hasen-Jagd, um den Hetzjagd-Vorwurf aufzuklären? Waren alle mit dem Haltung-zeigen zu beschäftigt? Oder zu sehr von dem absurden Schmierenstück gefesselt, das die deutsche Staatstheaterführung über Aus-, Auf- und Wiederausstieg eines Verfassungsschutzpräsidenten aufführte?


Vielleicht hatten die Investigativjournalisten der schlagkräftigen Rechercheverbünde einfach besseres zu tun oder nicht so viel Glück und Geschick wie Holger Douglas von Tichys Einblick. Ihm gelang es, die Urheber des Hasen-Videos ausfindig zu machen und zu befragen. Die Aussagen der 35-jährigen „Urheberin“ des 19-Sekunden-Videos und ihres 38-jährigen Ehemanns („Hase“) zeichnen ein ganz anderes Bild als regierungsamtlich verkündet und von Maaßen angezweifelt.


Ihre Darstellung passt aber wiederum genau zu dem, was auf dem Video zu sehen ist. Am Sonntag, nach der Nacht, in der Daniel Hillig umgebracht wurde, sei das Video um 16.52 Uhr aufgenommen worden. Das Paar war in dem Trauerzug mitgelaufen, und man befand sich kurz vor Erreichen des nächtlichen Tatorts. Douglas zitiert die Frau:
Es war sehr eng geworden auf dem Trauerzug, weshalb die Frauen in die Mitte des Zuges genommen wurden. Und es gab auch keine ausländerfeindlichen Rufe. Nichts Rechtsradikales. Aus der Ferne haben wir ‚Wir sind das Volk‘ gehört.“



Ihr Mann, also „Hase“, habe bedauert, dass seine Frau zu spät begonnen habe, mit dem Mobiltelefon zu filmen. Gut wäre es gewesen, man hätte das ganze Geschehen nahe der Bushaltestelle, die der Trauerzug passierte, zeigen können. „Hase“ wörtlich:


„… vorausgegangen war der Videoaufzeichnung eine böse Provokation gegenüber uns Trauernden. Durch zwei junge Migranten, die zunächst an der Bushaltestelle gestanden hatten und eigentlich aussahen wie wir.“



„Sie waren aggressiv auf uns zugekommen und hatten uns angepöbelt und wohl auch, aber eben schwer verständlich, ‚Verpisst euch‘ gerufen. So haben wir das in Erinnerung.“,
ergänzt Frau „Hase“ in Tichys Einblick und beschreibt, wie es zu der in den 19 Sekunden zu sehenden vermeintlichen Jagdszene gekommen sei:

„Dann kam es zu einem körperlichen Kontakt mit den beiden, wobei einem unserer Freunde der Inhalt eines Bierbechers über seine Kleidung und wohl auch ins Gesicht geschüttet wurde.“



Drohgeschrei ohne Stinkefinger

Jetzt, so habe die Frau gedacht, könne die Situation eskalieren und habe deshalb ihr Mobiltelefon herausgeholt, um zu filmen. Und weil sie fürchtete, auch ihr Mann könnte sich nun auf den Angreifer stürzen wollen, habe sie, wie in der Sequenz zu hören, gerufen: „Hase, Du bleibst hier!“



Frau „Hase“ wird in dem Artikel von Holger Douglas noch einmal zusammenfassend mit ihrer Sicht auf das Umfeld, in dem sich all das abspielte, zitiert:


„Es war möglicherweise nicht der einzige Angriff von Migranten auf unseren Trauerzug, denn aus der Ferne war schon Drohgeschrei in wohl arabischer Sprache zu hören. Allerdings: ‚Stinkefinger‘, von denen andere Trauerzugteilnehmer später berichteten, haben wir am Ort des provokativen Geschehens nicht erkennen können. Aber auch keine ‚Hetzjagden‘ oder gar ‚Menschenjagden‘! Wir sind auch bereit, unsere Aussage eidesstattlich zu versichern.“



Familie „Hase“ habe die Video-Sequenz in einer eigentlich geschlossenen Whats-App-Gruppe verbreitet. Wie genau es seinen Weg zu Antifa-Zeckenbiss fand, ist ungeklärt. Bild hatte im September berichtet, die Gruppe selbst habe erklärt, das Video von einer „rechtsextremistischen Internetplattform“ heruntergeladen zu haben.


Nun können hier nicht alle Angaben von Familie „Hase“ überprüft werden. Sie klingen alleridngs plausibel und deutlich plausibler als alles andere, was in diese Video-Sequenz ansonsten hineininterpretiert worden ist. Wie Douglas schreibt, will das Paar auf jeden Fall anonym bleiben, was vollkommen verständlich ist, da ihr kleines Filmwerk ja zum Ausgangspunkt einer absurden Regierungskrise wurde, an deren Ende ein entlassener Verfassungsschutzpräsident stand. Aus der Hetzjagd war keine Hasenjagd, aber dafür eine Staatsaffäre geworden. Sie als Staatsjagd zu bezeichnen, ist sicherlich übertrieben, aber angesichts der nun schon vielfach genutzten Jagd-Metapher war es zu verlockend, auch diesen Begriff einmal kurz zu verwenden.


Welchen Fehler machte Maaßen?

Selbst wenn die Angaben von Familie „Hase“ auch nur zu einem Teil zutreffen sollten, so geben sie dem entlassenen Verfassungsschutz-Präsidenten mit seinen Zweifeln an der Hetzjagd im Nachhinein recht. Hatte er dennoch nur im Nebel gestochert oder waren die Verfassungsschutzämter über Quelle, Weg und Aussagekraft des Zeckenbiss-Videos schon im September voll im Bilde?


Vielleicht wollte der Verfassungsschutzpräsident seine Aussagen anfangs wirklich mit belastbaren Fakten unterlegen, kam jedoch ins Zweifeln, weil bei einem Geheimdienst natürlich immer die Frage nach der Quelle auftaucht. Wäre es so gewesen, hätte er natürlich mit seinem Vorpreschen ziemlich unprofessionell gehandelt. Es sei denn, er hatte die Hoffnung, dass es – seinem Beispiel folgend – auch von wichtigen Vertretern anderer Institutionen laute Kritik an der offiziellen Hetzjagd-Version geben würde.


Rechnete er ernsthaft damit, eine breite Hetzjagd- und damit auch eine Merkel-Debatte lostreten zu können? Es ist letztlich in den meisten Medien und in der Politik nur eine Maaßen-Debatte geworden, mit bekanntem Ausgang. Lag es an fehlerhaften Informationen, dem Glauben an falsche Zusicherungen oder Illusionen, wenn er dennoch darauf setzte? Letztlich ist das egal, denn keine der drei Varianten würden gut zu einem Verfassungsschutzchef passen.


Der Beitrag erschien auch hier auf sichtplatz.de

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