Gute Ängste, schlechte Ängste

Markus Vahlefeld

Ängste, so lautet die Binse aller Merkelschen Sonntagsreden, sind ein schlechter Ratgeber. Gerade eben erst hat die Bundeskanzlerin diesen Satz wieder vor CDU-Mitgliedern in Thüringen vom Stapel gelassen. So schön der Satz klingt, so falsch ist er doch. Nach dem Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel ist es die Aufgabe der Politik, den „empirisch vorfindbaren Volkswillen zu veredeln“. Dieser empirisch vorfindbare Volkswille speist sich jedoch zu erheblichen Teilen aus Ängsten. Sie zu veredeln, heißt also: Maßnahmen zu treffen und zu ergreifen, um die Ängste nicht in Hysterie umschlagen zu lassen.


Eine der am leichtesten zu aktivierenden Ängste der Deutschen ist die Angst vor der Naturzerstörung, wie sie heute in der Furcht vor der Klimakatastrophe und der Atomkraft ihren zeitgemäßen Ausdruck findet. Eine andere Angst ist die vor Krieg, die sich seit den Tagen des Nato-Doppelbeschlusses und der Stationierung atomar bestückter Pershings in Deutschland mit der Angst vor der atomaren Katastrophe aufs Vortrefflichste kombinieren lässt.


Um das Potpourri an Ängsten der „moralisch Hochbegabten“ zu vervollständigen, darf natürlich die „Angst vor Rechts“ nicht fehlen. Sie speist sich aus dem größten Wunsch der Deutschen, dass es Hitler nie gegeben haben dürfte. Und wenn es ihn schon gegeben hat, dann aus dem zweitgrößten Wunsch der Deutschen: zu beweisen, dass man ihm unbedingten Widerstand geleistet hätte, was, je weiter das Dritte Reich zurückliegt, mit umso größerer Inbrunst gezeigt werden muss.


Überfremdung, Islamisierung und sozialer Abstieg

In einem kontinentalen Durchgangsland wie Deutschland, das im Lauf der Geschichte zudem noch eine kollektive Ich-Schwäche herausgebildet hat, ist die Angst vor Identitätsverlust und Überfremdung ebenfalls eine dieser Ängste, die recht schnell in Hysterie umschlagen können. Ihr an die Seite gesellt sich spätestens seit dem 11. September 2001 eine Angst vor der Islamisierung, die an das Gefühl der Überfremdung andocken kann. Gemeinsam mit der Angst vor sozialem Abstieg sind das die Ängste, über die die moralisch Hochbegabten nur mit dem Kopf schütteln können, weswegen sie den etwas hochnäsigen Begriff der „Abgehängten“ prägten. Deren Erkennungszeichen sind eben die Ängste vor Überfremdung, Islamisierung und sozialem Abstieg.


Natürlich gehört es zum Spiel der Ängste, dass man dem politischen Gegner das Recht auf dessen Angst abspricht und sie eine „eingebildete“ nennt, während nur die eigenen Ängste als „echt“ und „begründet“ anerkannt werden. Dieses Ritual kann man erleben, wenn wieder einmal ein Religionist des Friedens einige Menschen vom Leben in den Tod befördert hat.


So sicher wie das Amen in der Kirche wird irgendjemand von der Süddeutschen Zeitung oder der Bertelsmann-Stiftung um die Ecke kommen und darauf hinweisen, dass von der Leiter zu stürzen wahrscheinlicher sei, als einem islamischen Attentat zum Opfer zu fallen. Dass vom Atomtod hinweggerafft zu werden, noch um ein Vielfaches unwahrscheinlicher ist, auf diese Erwähnung sollte man jedoch tunlichst verzichten, will man im besten Deutschland aller Zeiten noch als seriös gelten.


Der große Unterschied zwischen den Ängsten der moralisch Hochbegabten und denen der Abgehängten ist allein der, dass die guten Ängste zur Regierungspolitik erhoben wurden, während die schlechten Ängste als „nicht hilfreich“ abgestempelt und derart aus der Sachdebatte ausgeschlossen wurden.


Deutschland ist scheiße, Deutschland ist Dreck!

Nicht Ängste sind schlechte Ratgeber, sondern: Die Herrschaft hat inne, wer über die Ängste der Menschen bestimmen kann.


Die für die deutsche Alltagspolitik wirkmächtigste und am schnellsten zu aktivierende Angst, die bereits im Anfangsstadium nicht mehr von Hysterie zu unterscheiden ist, ist die „Angst vor Rechts“. Da paktiert dann der deutsche Bundespräsident gerne mit Linksfaschisten vom Schlage „Feine Sahne Fischfilet“, ohne dass sich auch nur irgendjemand der herrschenden Klasse dazu bemüßigt fühlte, darauf hinzuweisen, dass a) rechts nicht gleichzusetzen sei mit rechtsradikal und dass b) Sängerbarden, die „Gewalt gegen Bullen“ besingen und „Deutschland ist scheiße, Deutschland ist Dreck“ brüllen, in einer funktionierenden Demokratie von keinem Präsidenten anempfohlen werden sollten.


Gleichwohl, seit 2015 hat die Bundesregierung den bessermeinenden Deutschen einen ihrer größten Träume erfüllt: 365 Tage im Jahr Widerstand gegen Rechts leisten zu dürfen. Was unter dem Markennamen „Aufstand der Anständigen“ firmiert, ist in Wahrheit die entscheidende Bruchlinie, die Deutschland seit 2015 spaltet: Wer nicht gegen rechts aufsteht, hat sich bereits als unanständig erwiesen. Und noch nie hat es einen deutschen Bundeskanzler gegeben, der Ängste derart als Ratgeber seiner Politik eingesetzt hätte wie Angela Merkel. Die Angst vor Rechts ist der entscheidende Baustein ihres Machterhalts.


Die westdeutsche Linke war schon immer von zwei Mythen der DDR fasziniert: zum einen von der vollständigen Gleichstellung der Frau im sozialistischen Arbeitsprozess und zum anderen vom Antifaschismus der DDR. Wenn es etwas gab, was die DDR weit vor der Bundesrepublik Deutschland als besseren Staat auszeichnete, dann: mit dem Erbe des deutschen Faschismus aufgeräumt zu haben. Angela Merkel als Frau bedient beide Mythen der Linken aufs Vortrefflichste.


Die Sommerpressekonferenz der Kanzlerin

Die Sommerpressekonferenz der Bundeskanzlerin vom 20. Juli 2018 ist leider im deutschen Mediengetöse etwas untergegangen, obwohl deutsche Medien doch gerne jeden Pups des US-Präsidenten live übertragen und alles, was Donald Trump sagt und macht, zu skandalisieren bereit sind. Bei Angela Merkel jedoch scheint ein neuer Verhältnismäßigkeitsvorsatz zu herrschen.


Denn diese Sommerpressekonferenz vom 20. Juli hatte es in sich und ließ wie in einem Brennglas einen Blick auf den Geist Merkels zu. Sie fand ja nicht nur kurz nach dem heftigen Streit zwischen Merkel und Seehofer statt, sie war zudem noch an einem in der deutschen Geschichte bedeutsamen Datum angesetzt. Auf die Bedeutung des 20. Juli kam Angela Merkel dann auch zu sprechen, als sie im Verlauf der Pressekonferenz auf den Streit mit Seehofer angesprochen wird.
„Die Frage, wie wir in Europa vorgehen, ob wir das einseitig machen, ob wir das unabgestimmt machen, ob wir das zu Lasten Dritter machen, ja oder nein, ist für mich eine zentrale Frage meiner Politik.“ So weit die kurze Zusammenfassung der Kanzlerin zu ihrer Auseinandersetzung mit dem Innenminister. Dass Angela Merkel, die wirklich jede europäische Abgestimmtheit in der Flüchtlingsfrage hatte vermissen lassen und im Alleingang meinte handeln zu können, darauf hinweist, wie wichtig abgestimmtes Handeln nun ist – geschenkt! Zu Lasten Dritter ist ihre Politik ja wirklich nicht gegangen, sondern höchstens zu Lasten ihres eigenen Landes.


Sterben für Europa?

Viel interessanter ist, was dann im Anschluss aus dem Munde Merkels folgt: „Diese Pressekonferenz findet am 20. Juli statt. Der 20. Juli ist nicht irgendein Tag in der deutschen Geschichte. Viele Menschen haben ihr Leben für Europa, für ein gemeinsames Europa gelassen. Das sehe ich schon als einen wichtigen Auftrag an.“


Was Angela Merkel hier macht, ist Geschichtsfälschung vom Allerfeinsten. Als überzeugte Europäer sind Claus Schenk Graf von Stauffenberg und die anderen Attentäter des 20. Juli 1944 nicht wirklich in die Geschichtsbücher eingegangen. Und ihr Leben haben sie ganz sicher nicht für ein „gemeinsames Europa gelassen“. Hier also von einem Auftrag zu sprechen, den Merkel direkt von den Attentätern des 20. Juli erhalten zu haben meint, grenzt schon an den Versuch, der eigenen Politik eine mythenhafte Entrücktheit zu bescheinigen.


Der SPIEGEL-Kolumnist Jan Fleischhauer schreibt am 26. Juli 2018 dementsprechend: „Aber es ging ihr erkennbar auch nicht um historische Wahrheiten, es ging darum, ihre Politik in eine Traditionslinie zu stellen, die in diesem Fall von einem Sommertag in einem Befehlsstand in Ostpreußen bis in die deutsche Regierungszentrale im Juli 2018 reicht. Wenn man Angela Merkel richtig versteht, dann sieht sie sich als eine Art Erbfolgerin des Widerstands gegen Hitler, nicht anders lässt sich das Wort „Auftrag“ deuten, das sie im Zusammenhang mit dem 20. Juli benutzte.“


Wer sich noch immer fragen sollte, woher diese spätestens seit 2015 hysterisch irrlichternde Angst vor Nazis kommen mag und von wem die „Angst vor Rechts“ und dem „Wiedererstarken des Faschismus“ geschürt werde, findet hier die Antwort: Es ist der viel gerühmte Antifaschismus der DDR, der mit Angela Merkel seine mächtige Wiederauferstehung feiert. Angela Merkel befindet sich in einem ständigen Kampf gegen die dunklen faschistischen Kräfte Deutschlands. Sich selbst empfindet sie dabei als Wiedergängerin der Helden von 1944 – und bedient damit die größte Sehnsucht aller gutmeinenden Deutschen, die ebenfalls nichts lieber wären als ewige Helden des Widerstands.


Merkel personifiziert den „Widerstand gegen Rechts“

Die entscheidende Frage, die an diesem 20. Juli 2018 keiner der anwesenden Journalisten zu fragen sich traute, lautet: Wenn nun Angela Merkel in einer Linie mit den Attentätern des 20. Juli 1944 zu stehen gedenkt, gegen wen kämpft diese Frau mit dieser Heldengeschichte im Gepäck eigentlich an? Wer ist ihr erklärter Feind, den es aus der Geschichte zu tilgen gilt? Dass ihre Antwort direkt auf die Frage nach Horst Seehofer kommt, dürfte dabei kein Zufall sein. Auch ihr Streit mit dem Innenminister verfolgte die Bruchlinie des hellen Deutschlands gegen das dunkle Deutschland.


Und wer sich noch immer fragen sollte, warum die mediale Hetzjagd auf Horst Seehofer einfach kein Ende nimmt; warum ein abgehalfteter Kapitän eines Flüchtlingsschiffes mit dem Vorwurf, Horst Seehofer sei ein Verbrecher, am 16. Juli 2018 den Anfang machen durfte; warum dann die Grünen ihr Koalitionsangebot an die Kanzlerin als Offensive gegen die „testosterongesteuerten Männer“ erneuerten; warum sowohl die protestantische wie auch die katholische Kirche mit ins Anti-Seehofer- und Anti-CSU-Horn bliesen; warum selbst ein so belangloser Fall wie der um die Abschiebung von Sami A. eine Oberverwaltungsrichterin dazu bemüßigte, den Innenminister frontal anzugreifen; warum schließlich selbst der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, die Wortwahl von Horst Seehofer meinte maßregeln zu müssen; und warum die Umfrageergebnisse für die CSU vor der Bayernwahl bei 33 Pozent lagen, während die Partei dann schließlich mehr als 37 Prozent einfuhr – wer sich all diese Fragen stellt, findet hier die Antwort: Angela Merkel ist die Personifizierung des „Widerstands gegen Rechts“. Und wer „rechts“ ist, entscheidet immer noch die Kanzlerin.



Und solange das so ist, kann Angela Merkel die Demokratie in Deutschland fröhlich weiter aushöhlen. Denn für die Gutmeinenden ist der glorreiche „Widerstand gegen Rechts“ weitaus wichtiger als so etwas Schnödes wie Demokratie.

Dieser Text ist ein kurzer Auszug aus dem neuen Buch von Markus Vahlefeld: „Macht Hoch die Tür – Das System Merkel und die Spaltung Deutschlands“, Oktober 2018, hier erhältlich.