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    Der Rechtsbruch hat viele Gesichter (1): Das Grundgesetz (und Fortsetzungen)

    Der Rechtsbruch hat viele Gesichter (1): Das Grundgesetz

    Rainer Grell

    Der Rechtsbruch hat viele Gesichter (1): Das Grundgesetz

    Fangen wir ganz oben an, bei der Verfassung. Das Grundgesetz (GG) war als „Provisorium“ gedacht, weil nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches nicht das gesamte deutsche Volk, der eigentliche Verfassungsgeber, in der Lage war, eine Verfassung zu beschließen: Die Deutschen in der sowjetischen Besatzungszone waren gehindert, an einem solchen Prozess teilzunehmen. Den unter alliierter Kontrolle stehenden westdeutschen Staaten fehlte die für einen solchen Vorgang erforderliche Souveränität: Der Parlamentarische Rat hatte die Vorgaben der drei Besatzungsmächte zu beachten, deren Militärgouverneure das GG auch genehmigen mussten (was mit Schreiben vom 12. Mai 1949 an den Präsidenten des Parlamentarischen Rates, Dr. Konrad Adenauer, unter einigen Vorbehalten geschah). Deshalb hieß es in der Ursprungsfassung der Präambel ausdrücklich, dass das GG beschlossen wurde, „um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“ (Hervorhebung vom Verfasser).
    Der Artikel 146

    Mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 waren der provisorische Charakter des GG hinfällig und der Weg für die Verabschiedung einer Verfassung frei. Für diesen Fall bestimmte Artikel 146 GG in der ursprünglichen Fassung:

    „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“


    Durch den Einigungsvertrag wurde daraus:

    „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“


    Wie kam es zu dieser Änderung? Der völkerrechtliche „Vertrag zwischen der Bundesrepu.blik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag –“ vom 31. August 1990, in Kraft getreten am 29. September 1990 (BGBl. 1990 II, S. 1360), enthält gleich in Artikel 1 Absatz 1 die merkwürdige Formulierung vom „Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990“ (Hervorhebung vom Verfasser). Noch merkwürdiger ist, dass dieser Artikel 23 durch Artikel 4 Nr. 2 des kurz zuvor in Kraft getretenen Einigungsvertrages aufgehoben worden war. Ein Beitritt also aufgrund einer nicht mehr existierenden Vorschrift? Diese lautete in ihrer ursprünglichen Fassung:


    „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“ Aus den Ländern Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern wurde 1952 der „Südweststaat“ Baden-Württemberg, und 1956 kam das Saarland hinzu (nach Artikel 1 Absatz 1 des Saarvertrages wurde der Beitritt zum 1. Januar 1957 wirksam). Jetzt waren’s ihrer elf; nach der Wiedervereinigung „die alten Bundesländer“. Normalerweise arbeiten Juristen in derartigen Situationen mit dem Konstrukt der „logischen Sekunde“, d.h. einer faktischen Gleichzeitigkeit, das aber bei einem Zeitraum von drei oder vier Tagen (vom 29. September bis 3. Oktober) schlechterdings nicht in Stellung gebracht werden kann.


    Nun kann man sicher die Auffassung vertreten, dass der Zeitdruck nach dem Fall der Mauer einfach zu groß war, um eine Verfassung für „Gesamtdeutschland“ auszuarbeiten und das deutsche Volk in freier Entscheidung darüber beschließen zu lassen. Worüber man meines Erachtens dagegen nicht streiten kann, ist, warum dies nicht anschließend in aller Ruhe geschehen ist. Man muss darin nicht unbedingt einen Verfassungsbruch sehen, aber eine Missachtung der Volkssouveränität (Artikel 20 Absatz 2 Satz 1 GG) ist es allemal. Wer sich näher über das Thema informieren möchte, dem sei die Abhandlung des GG-Kommentators Horst Dreier, „Das Grundgesetz - eine Verfassung auf Abruf?“ zur Lektüre empfohlen.
    Der Artikel 29

    Dass Regierung und Parlament das GG auch sonst nicht immer so ernst nehmen, wie es gemeint ist und wie sie bei jeder Gelegenheit gerne betonen, zeigt außerdem die Geschichte des Artikels 29 zur Länderneugliederung. Ich habe an anderer Stelle ausführlich geschildert, wie aus dieser ursprünglichen „Muss-Bestimmung“ (mit einer drei-Jahres-Umsetzungsfrist) zunächst eine „Kann-Vorschrift“ wurde, bis diese dann schließlich eine Form erhielt, die mit der Ursprungsfassung nur noch entfernte Ähnlichkeit hat.


    Ziel der Neugliederung sollte sein, Länder zu schaffen, „die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können.“ Wer sich „Länder“ wie Berlin und Bremen (kleiner als Stuttgart) sowie das Saarland (kleiner als Köln) anschaut, die nur an der Herz-Lungen-Maschine des Länderfinanzausgleichs (von dem die Väter und Mütter des GG noch nichts wussten) überleben können – wegen der Einzelheiten verweise ich auf das „Gesetz über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern (Finanzausgleichsgesetz - FAG)“ vom 20. Dezember 2001 –, erkennt sofort die Bedeutungslosigkeit dieses GG-Artikels gegenüber der Urfassung.


    Nach Artikel 29 Absatz 8 GG können auch die Länder eine Neugliederung für das jeweils von ihnen umfasste Gebiet oder für Teilgebiete durch Staatsvertrag regeln. Berlin und Brandenburg haben von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht, wobei sie sich auf die Sonderregelung des Artikels 118a GG stützen konnten, der eine Zustimmung des Bundestages entbehrlich macht, wurden aber bei den erforderlichen Volksentscheiden von der Bevölkerung in Brandenburg im Stich gelassen: JA-Stimmen Berlin 53,4 Prozent, JA-Stimmen Brandenburg 36,57 Prozent.


    Wird fortgesetzt. Im nächsten Teil morgen geht es u.a. um den Solidaritätszuschlag.



    - - - Aktualisiert oder hinzugefügt- - - -

    Der Rechtsbruch hat viele Gesichter (2): Der Solidaritätszuschlag

    Da wir im letzten Teil von Provisorium gesprochen haben, möchte ich noch den Solidaritätszuschlag erwähnen, liebevoll auch „Soli“ genannt. Er wurde zunächst durch das Solidaritätszuschlaggesetz (SolZG) vom 24. Juni 1991 eingeführt. Das Gesetz ist von erfrischender Kürze (nur fünf Paragraphen) und galt nur „für die Veranlagungszeiträume 1991 und 1992“. Wer darin nach dem Zweck dieser Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und Körperschaftssteuer (das ist die Einkommensteuer von juristischen Personen) sucht, der sucht vergeblich. Zur Begründung heißt es in der Gesetzesvorlage der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: „Vor dem Hintergrund der jüngsten Veränderungen in der Weltlage (Entwicklungen im Mittleren Osten [Kuwait, Irak], in Südost- und Osteuropa [Ostblock und UdSSR] und in den neuen Bundesländern [Wiedervereinigung]), die die Bundesrepublik Deutschland verstärkt in die Pflicht nehmen, müssen zur Finanzierung der zusätzlichen Aufgaben die Haushaltseinnahmen des Bundes verbessert werden.“

    1993 und 1994 wurde mangels gesetzlicher Grundlage kein Solidaritätszuschlag erhoben.

    Durch das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 (SolzG 1995) wurde erneut ein Soli eingeführt, dieses Mal unbefristet, und zwar als Artikel 31 des „Gesetz(es) über Maßnahmen zur Bewältigung der finanziellen Erblasten im Zusammenhang mit der Herstellung der Einheit Deutschlands, zur langfristigen Sicherung des Aufbaus in den neuen Ländern, zur Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs und zur Entlastung der öffentlichen Haushalte (Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms – FKPG – )“ vom 23. Juni 1993. Diese Regelung gilt bis heute.

    In der Gesetzesbegründung heißt es:

    „Die wichtigste wirtschafts- und finanzpolitische Aufgabe in Deutschland besteht heute in der Anpassung von Staat und Wirtschaft an die veränderten Bedingungen und Aufgaben nach Herstellung der Einheit. Mit dem Gesetzentwurf zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms wird ein Konzept vorgelegt, durch das die notwendige Anpassung im staatlichen Bereich vollzogen wird. Dabei geht es vor allem um

    - die dauerhafte Finanzierung des Aufholprozesses in Ost-Deutschland,

    - die Bewältigung der Erblastschulden der sozialistischen Herrschaft in der ehemaligen DDR,

    - die gerechte Verteilung der daraus resultierenden Finanzierungslasten auf die öffentlichen Haushalte und

    - die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte als Grundlage einer gesunden gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.“
    Jahrzehntelanges Aufholen

    Nun kann man durchaus die Frage stellen, ob 28 Jahre nach Herstellung der Einheit der „Aufholprozess in Ost-Deutschland“ nicht beendet ist, ja ob nicht die neuen Bundesländer vielleicht sogar besser dastehen als zumindest Teile der alten. Hierzu stellte die Bundesregierung am 30.09.2015 in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE fest:

    „25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ist die Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft und des Arbeitsmarktes erfolgreich. Der Aufholprozess der vergangenen Jahrzehnte ist insgesamt beeindruckend, wenngleich noch nicht abgeschlossen.“

    Sie überging dabei allerdings, dass der Soli keiner festen Zweckbindung unterliegt (anders als der „Solidarpakt“) und keineswegs ausschließlich für den Aufholprozess in Ostdeutschland eingesetzt wird (sonst wäre dieser vielleicht schon abgeschlossen).

    Rechtstechnisch kann man daher in diesem Zusammenhang nicht von einem Rechtsbruch reden. Politisch drängt sich der Eindruck jedoch durchaus auf, wenn Geld, das für einen bestimmten Zweck gedacht war, mittlerweile für einen anderen verwendet wird und Regierung und Parlament sich hartnäckig weigern, daran etwas zu ändern. Aber wie heißt es so treffend: „Nichts hält länger als ein Provisorium“. Oder in der Version von Henry Miller („Wendekreis des Krebses“): „Aber auf dieser Erde ist, wie die Franzosen zu sagen pflegen, nichts dauerhaft – nur das Provisorium.“

    Dagegen sieht das Gesetz über die Errichtung eines Fonds „Deutsche Einheit“ in § 11 Satz 1 vor: „Mit Ablauf des Jahres 2019 wird der Fonds aufgelöst.“ Warten wir mal ab, ob es dabei bleibt (in Baden-Württemberg gab es mal ein Gesetz [§ 25 Kreisreformgesetz vom 26. Juli 1971], durch das die vier Regierungspräsidien zum 1. Januar 1977 aufgelöst wurden. Bevor die Regelung in Kraft trat, wurde sie jedoch wieder aufgehoben. Heute haben die Regierungspräsidien mehr Kompetenzen denn je.

    Wird fortgesetzt. Im nächsten Teil geht es um den Atomausstieg.

    https://www.achgut.com/artikel/der_r...itaetszuschlag
    Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.
    Gustav von Rochow (1792 - 1847), preußischer Innenminister und Staatsminister

  2. #2
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    AW: Der Rechtsbruch hat viele Gesichter (1): Das Grundgesetz (und Fortsetzungen)

    Der Rechtsbruch hat viele Gesichter (3): Der Atomausstieg

    „Nach monatelangem Streit über das Energiekonzept der Bundesregierung hat der Bundestag am Donnerstag, 28. Oktober 2010, mit den Stimmen der Koalitionsmehrheit die Gesetzesvorlagen der Regierungskoalition zur Novelle des Atomgesetzes angenommen. Danach will die Regierung bis 2050 etwa 80 Prozent des Stroms aus Öko-Energien erzeugen sowie die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke um durchschnittlich zwölf Jahre verlängern.“

    Am 11. März 2011 passierte der Reaktorunfall von Fukushima. Er veranlasste Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Tag später vor Journalisten zu diesen Aussagen: Jeder wisse, dass sie die Atomkraft „als Brückentechnologie für vertretbar halte“. Und dass dabei aber die Sicherheit immer oberstes Gebot sei. Da dürfe es „keine Kompromisse geben“. Und: „An so einem Tag darf man sicher nicht sagen, unsere Kernkraftwerke sind sicher“, um gleich hinzuzufügen: „Sie sind sicher“. In einem „Pressestatement“ vom 14. März 2011 erläuterte sie dann einen Beschluss ihres Kabinetts vom selben Tag, in dem unter anderem ein dreimonatiges „Atom-Moratorium“ für die sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke beschlossen worden war: „Wir wissen, wie sicher unsere Kraftwerke in Deutschland sind. Aber ebenso bleibt richtig, dass wir auf die friedliche Nutzung der Kernenergie als Brückentechnologie noch nicht verzichten können, wenn wir unseren Energieverbrauch als größte Wirtschaftsnation Europas weiter eigenständig und zuverlässig decken wollen und wenn wir auch den Anforderungen des Klimaschutzes weiter gerecht werden wollen. Auch der Wandel des Klimas ist eine Herausforderung für die Menschheit.“ „Dennoch: Es war und es ist kein leeres Wort, wenn ich sage: Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und die bisherige unbestrittene Sicherheit unserer kerntechnischen Anlagen zum Maßstab auch des künftigen Handelns machen, ohne dass wir infolge der jüngsten Ereignisse einmal innehalten.“ „Wir haben deshalb am Samstag veranlasst, dass im Lichte der Erkenntnisse, die wir aus Japan haben, alle deutschen Kernkraftwerke einer umfassenden Sicherheitsprüfung unterzogen werden. Ich sage ganz deutlich: Es gibt bei dieser Sicherheitsprüfung keine Tabus. Genau aus diesem Grunde werden wir die erst kürzlich beschlossene Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke aussetzen. Dies ist ein Moratorium. Dieses Moratorium gilt für drei Monate.“

    Aufschrei unter Juristen

    Eine rechtliche Begründung für diese Entscheidung wurde bei der Gelegenheit nicht gegeben. Drei Tage später meldete deshalb das Handelsblatt: „Mit ihrem Atom-Moratorium hat die Kanzlerin einen Aufschrei unter Juristen provoziert: Führende Rechtsexperten halten den Beschluss, die ältesten Atommeiler ohne Gesetzesänderung vom Netz zu nehmen, für unzulässig.“

    Der Staatsrechtler Joachim Wieland (Speyer) hielt das Moratorium sogar für verfassungswidrig: „Die Laufzeitverlängerung ist als Gesetz des Bundestages in Kraft getreten und kann nur durch ein Gesetz zeitlich begrenzt oder dauerhaft außer Kraft gesetzt [werden]. Die Regierung ist nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes Art. 20 Abs. 3 GG nicht befugt, Gesetze des Parlaments außer Kraft zu setzen.“ Merkel berief sich später auf § 19 Absatz 3 Nr. 3 des Atomgesetzes.

    In ihrer Regierungserklärung vom 17. März 2011 zur aktuellen Lage in Japan betonte die Kanzlerin: „Ja, es bleibt wahr: Wir wissen, wie sicher unsere Kernkraftwerke sind. Sie gehören zu den weltweit sichersten, und ich lehne es auch weiterhin ab, zwar die Kernkraftwerke in Deutschland abzuschalten, aber dann Strom aus Kernkraftwerken anderer Länder zu beziehen. Das ist mit mir nicht zu machen.“ „Und dennoch: Die Bundesregierung konnte und kann trotz all dieser unbestrittenen Fakten nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, und zwar aus einem alles überragenden Grund: Die unfassbaren Ereignisse in Japan lehren uns, dass etwas, was nach allen wissenschaftlichen Maßstäben für unmöglich gehalten wurde, doch möglich werden konnte.“ „Deshalb haben wir im Lichte der Ereignisse in Japan veranlasst, dass alle deutschen Kernkraftwerke noch einmal einer umfassenden Sicherheitsprüfung unterzogen werden – im Lichte der neuen Lage! Dazu setzen wir die Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke aus, indem wir für den Zeitraum eines dreimonatigen Moratoriums alle Kernkraftwerke, die 1980 und früher in Betrieb gegangen sind, vom Netz nehmen.“

    Eben diese Aussetzung der vom Bundestag beschlossenen Laufzeitverlängerung kann die Regierung aber nicht verfügen. Doch die Nicht-Juristin Merkel fährt ungerührt fort: „Bund und Länder sind sich einig, dass diese Abschaltung durch rechtliche Verfügung der Aufsichtsbehörden der Länder angeordnet wird. Das Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren, kurz ‚Atomgesetz‘ genannt, sieht genau das vor, also eine Anlage vorübergehend stillzulegen, bis sich die Behörden Klarheit über eine neue Lage verschafft haben.“

    Dagegen klagte RWE, Betreiber des KKW Biblis, vor dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof. Und dieser entschied am 27. Februar 2013 (6 C 824/11.T und 6 C 825/11.T): „Die Anordnungen des Hessischen Ministeriums für Umwelt, Energie, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vom 18. März 2011 zur dreimonatigen Betriebseinstellung der Kernkraftwerke Biblis A und B – sogenanntes Moratorium – sind formell und materiell rechtswidrig.“ Begründung: „Die Anordnung sind formell rechtswidrig, weil der Beklagte die Betreiberin des Kraftwerks vor dem Erlass nicht ordnungsgemäß angehört hat“. Und: „Die Anordnungen sind materiell rechtswidrig, da die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage – § 19 Abs. 3 Satz 1 Atomgesetz (AtG) – nicht vorliegen“.

    „Beschleunigung des Atomausstiegs“

    Zwischenzeitlich hatten die Regierungsfraktionen fünf Monate nach der im Oktober 2010 erfolgten Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke den Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes vorgelegt, das am 31. Juli 2011 vom Bundestag verabschiedet wurde. Danach wird das letzte KKW mit Ablauf des 31. Dezember 2022 seinen Betrieb einstellen.

    Auf die Verfassungsbeschwerden einiger KKW-Betreiber hat das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 6. Dezember 2016 entschieden:

    „Das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes mit dem Ziel der Beschleunigung des Atomausstiegs steht weitgehend im Einklang mit dem Grundgesetz.
    “ Die Darlegung der mit Artikel 14 GG (Eigentumsgarantie) nicht vereinbaren Regelungen würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen. Wer sich schnell informieren möchte, lese die Pressemitteilung des Gerichts.

    Mit ihrer zitierten Erklärung, sie lehne es auch weiterhin ab, zwar die Kernkraftwerke in Deutschland abzuschalten, aber dann Strom aus Kernkraftwerken anderer Länder zu beziehen, hatte die Kanzlerin, vorsichtig formuliert, allerdings den Mund etwas zu voll genommen. Am 2. Januar 2015 meldete die Wirtschaftswoche: „Atomstrom-Importe aus Frankreich erreichen Rekordhoch“, und: „Deutschland ist seit Jahren einer der Hauptabnehmer für französischen Atomstrom“. Damit hat Merkel zwar nicht das Recht gebrochen, aber das Parlament und die Öffentlichkeit entweder bewusst belogen oder ihre Ignoranz und Naivität dokumentiert. Dass Deutschland trotz Ausstiegs aus der Atomenergie 24 Prozent mehr Strom in das Ausland exportiert als von dort importiert, hängt mit den CO2-Verschmutzungszertifikaten und den Besonderheiten der Stromversorgung zusammen (zeitweise Überproduktion, unzureichender Netzausbau, jederzeitige Verfügbarkeit).

    Endlagerung radioaktiver Abfälle

    „Die Länder haben Landessammelstellen für die Zwischenlagerung der in ihrem Gebiet angefallenen radioaktiven Abfälle, der Bund hat Anlagen zur Sicherstellung und zur Endlagerung radioaktiver Abfälle einzurichten; § 24 der Bundeshaushaltsordnung [BHO] findet für Anlagen zur Endlagerung radioaktiver Abfälle keine Anwendung“ (Kursiv vom Verfasser), § 9a Absatz 3 Satz 1 Atomgesetz. § 24 BHO macht die Veranschlagung von Haushaltsmitteln für Baumaßnahmen von der Vorlage von Plänen, Kostenermittlungen und Erläuterungen sowie Kostenschätzungen abhängig; von dieser Pflicht wird der Bund bei der Endlagerung von „Atommüll“ befreit, nicht aber von der Planfeststellung (§ 9b Absatz 1 Satz 1 Atomgesetz).

    Die Einzelheiten sind im „Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle (Standortauswahlgesetz – StandAG)“ vom 5. Mai 2017 geregelt. § 1 Absatz 2 Satz 1 dieses denkwürdigen „Regelwerkes“, das stellenweise an ein Parteiprogramm erinnert, lautet: „Mit dem Standortauswahlverfahren soll in einem partizipativen, wissenschaftsbasierten, transparenten, selbsthinterfragenden und lernenden Verfahren für die im Inland verursachten hochradioaktiven Abfälle ein Standort mit der bestmöglichen Sicherheit für eine Anlage zur Endlagerung nach § 9a Absatz 3 Satz 1 des Atomgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland ermittelt werden.“

    Ich vergaß übrigens ganz zu erwähnen, dass es schon mal ein Standortauswahlgesetz gab, nämlich das „Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und zur Änderung anderer Gesetze (Standortauswahlgesetz – StandAG)“ vom 23. Juli 2013. In den vier Jahren danach hat man offenbar dazugelernt, denn der frühere § 1 Absatz 1 Satz 1 lautete: „Ziel des Standortauswahlverfahrens ist, in einem wissenschaftsbasierten und transparenten Verfahren für die im Inland verursachten, insbesondere hoch radioaktiven Abfälle den Standort für eine Anlage zur Endlagerung nach § 9a Absatz 3 Satz 1 des Atomgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland zu finden, der die bestmögliche Sicherheit für einen Zeitraum von einer Million Jahren gewährleistet.“ Der eine-Million-Jahre-Zeitraum ist in dem Gesetz von 2017 ebenfalls enthalten, wenn vermutlich auch niemand weiß, wie die Gewährleistung erreicht werden soll. Aber wer das Weltklima bis 2050 beeinflussen will, der schreckt auch vor solchen „Herausforderungen“ nicht zurück (soll doch zur Verantwortung gezogen werden wer will, wenn sich herausstellt, dass es am Ende nur 750.000 Jahre waren).

    Was unter einem „partizipativen“ Verfahren zu verstehen ist, erklärt § 5 Absatz 1: „Ziel der Öffentlichkeitsbeteiligung ist, eine Lösung zu finden, die in einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wird und damit auch von den Betroffenen toleriert werden kann. Hierzu sind Bürgerinnen und Bürger als Mitgestalter des Verfahrens einzubeziehen.“ Formen der Beteiligung sind eine „Internetplattform“, ein „pluralistisch zusammengesetztes Nationales Begleitgremium“, eine „Fachkonferenz Teilgebiete“, „Regionalkonferenzen“ sowie eine „Fachkonferenz Rat der Regionen“. „Die Bundesregierung legt dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat den Standortvorschlag in Form eines Gesetzentwurfs vor“, § 20 Absatz 1 Satz 1. In zwölf Anlagen zum Gesetz werden dann die maßgeblichen Auswahlkriterien in Tabellenform festgelegt.
    Nur illegale Kernkraftwerke?

    Was haben diese Ausführungen über eines der kompliziertesten Probleme, das die Politik je zu lösen hatte (der Bau des BER wirkt dagegen wie ein Kleinkinder-Puzzle) nun mit dem Thema „Rechtsbruch“ zu tun? Dazu muss man einen Blick in § 9a Absatz 1 Satz 1 Halbsatz 1 des Atomgesetzes werfen: „Wer Anlagen, in denen mit Kernbrennstoffen umgegangen wird, errichtet, betreibt, sonst innehat, wesentlich verändert, stillegt oder beseitigt, außerhalb solcher Anlagen mit radioaktiven Stoffen umgeht oder Anlagen zur Erzeugung ionisierender Strahlen betreibt, hat dafür zu sorgen, daß anfallende radioaktive Reststoffe sowie ausgebaute oder abgebaute radioaktive Anlagenteile den in § 1 Nr. 2 bis 4 bezeichneten Zwecken entsprechend schadlos verwertet oder als radioaktive Abfälle geordnet beseitigt werden (direkte Endlagerung).“ Kein einziges KKW erfüllt diese Anforderung und hätte demzufolge gar nicht genehmigt werden dürfen. Oder verstehe ich da etwas falsch?

    Ja, sicher! Denn nach § 9a Absatz 1 Satz 1 Halbsatz 2 kann „die Pflicht nach Satz 1 erster Halbsatz ... an einen vom Bund mit der Wahrnehmung der Zwischenlagerung beauftragten Dritten nach § 2 Absatz 1 Satz 1 des Entsorgungsübergangsgesetzes übergehen.“ Und in dem Fall gilt die Pflicht, einen „Entsorgungsvorsorgenachweis“ zu führen (§ 9a Absatz 1a Satz 1), nicht (§ 9a Absatz 1a Satz 2).

    Das Entsorgungsübergangsgesetz ist keine Übergangsregelung, wie der Name vielleicht vermuten lässt, sondern regelt den „Übergang der Handlungspflicht für die Entsorgung radioaktiver Abfälle“ auf „einen vom Bund mit der Wahrnehmung der Zwischenlagerung beauftragten Dritten“ (§ 2).

    Nun will ich mich hier nicht als Experte für Atomrecht aufspielen. Die Komplexität des Themas wird allein durch die vielen Buchstaben-Paragraphen und -Absätze des Standortauswahlgesetzes deutlich: § 7a bis 7g, § 9a bis 9i, § 12a bis 12d; § 9a enthält zwischen Absatz 1 und 2 die Absätze 1a bis 1e und erweckt eher den Eindruck einer Kurzgeschichte als einer Gesetzesvorschrift.

    Angesichts dieser Problematik der Endlagerung von Atommüll, dessen Ende (das heißt das Einbringen des letzten Atommüll-Behälters) Experten „erst „zwischen 2075 und 2130“ erwarten, erscheint es zumindest merkwürdig, dass die Kanzlerin die Fukushima-Katastrophe zum Anlass nahm, die Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke infrage zu stellen (obwohl sie nach ihren eigenen Worten sicher sind). Wir erinnern uns: Von 1994 bis 1998 hieß die Bundesumweltministerin Angela Merkel. Als Kanzlerin ließ sie vor Fukushima verlauten: „Wir wollen eine Energiepolitik, die eben nicht Kernkraftwerke abschaltet, wenn sie noch bestens geeignet sind und Strom liefern, sondern die diesen Ausstieg aus der Kernenergie stoppt, meine Damen und Herren.“ „Kein Wort von ihr [als Bundesumweltministerin] über die Zustände bei der Endlagerung von Atommüll in Deutschland“, so die ARD-Sendung „Kontraste“ vom 28. Mai 2009 (Abruf am 08.09.2018).

    Honi soit qui mal y pense – Ein Schelm/Schuft, wer Böses dabei denkt. Oder: Schämen sollte sich, wer schlecht darüber denkt.

    https://www.achgut.com/artikel/der_r...r_atomausstieg
    Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.
    Gustav von Rochow (1792 - 1847), preußischer Innenminister und Staatsminister

  3. #3
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    AW: Der Rechtsbruch hat viele Gesichter (1): Das Grundgesetz (und Fortsetzungen)

    man hat ab 1990 in der BRD die Konsequenzen totalitärer Sozialisation und Prägung des Sozialismus sträflich missachtet.

  4. #4
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    AW: Der Rechtsbruch hat viele Gesichter (1): Das Grundgesetz (und Fortsetzungen)

    Der Rechtsbruch hat viele Gesichter (5): Die „Flüchtlingskrise”

    An den Anfang dieses Abschnitts möchte ich eine Mahnung von Prof. Dr. Ferdinand Gärditz (Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Uni Bonn) stellen:

    „Was in aufgeplusterter Rhetorik zur ‚Herrschaft des Unrechts‘ erklärt wurde, entpuppt sich also als ein Knäuel diffiziler Rechtsfragen, über die sich ganze Dissertationen schreiben ließen. Für die Zulässigkeit wie für die Unzulässigkeit einer Zurückweisung von Schutzsuchenden an der deutschen Außengrenze lassen sich – wie meistens bei unerwarteten Szenarien – jeweils gute Argumente anführen. Schon dies sollte davor bewahren, das migrationspolitische Handeln der Bundesregierung seit dem Herbst 2015 vereinfachend als fortgesetzten Rechtsbruch zu diffamieren, aber auch (sachlich vorgetragene) rechtliche Kritik pauschal als Rechtspopulismus oder Ausdruck einer inhumanen Gesinnung abzuqualifizieren. Gefordert ist Nüchternheit und ein Quäntchen politische Weitsicht – auch über den 14. Oktober 2018 hinaus.“ Ein Hinweis auf die Landtagswahl in Bayern.
    Die Sprache der Rechtsgutachten

    Diese durchaus beherzigenswerte Mahnung erfordert allerdings ein paar Klarstellungen.

    Der seinerzeitige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, den Gärditz bei seiner Äußerung offenbar im Auge hat, hat die Formulierung von der „Herrschaft des Unrechts“ im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise nicht aus dem hohlen Bauch getroffen. Er konnte sich dabei auf das Rechtsgutachten des früheren Richters am Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Dr. Udo di Fabio, „Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem“ vom 8. Januar 2016 stützen, der darin (Seite 82) zusammenfassend konstatiert: „Doch um eine Feststellung kommt man auch beim besten Willen, pauschale Verantwortungszuweisungen zu vermeiden, nicht herum: Das geltende europäische Recht nach Schengen, Dublin und Eurodac wird in nahezu systematischerweise nicht mehr beachtet, die einschlägigen Rechtsvorschriften weisen ein erhebliches Vollzugsdefizit auf.“ Ob man angesichts dieser Aussage die von Seehofer verwendete Formulierung gut heißt, ist wohl letztlich eine Frage des Geschmacks.

    Dr. Ulrich Vosgerau, Privatdozent für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Universität Köln, hat ein ganzes Buch über „Die Asylkrise, die Krise des Verfassungsstaates und die Rolle der Massenmedien“ geschrieben und ihm den Titel „Die Herrschaft des Unrechts“ gegeben. Er geht dabei auf das „Knäuel diffiziler Rechtsfragen“ in einer Weise ein, die den Gärditz’schen Vorwurf „aufgeplusterter Rhetorik“ zum Verstummen bringen sollte.

    Wenn Rechtsfragen so kompliziert sind, dass sich darüber „ganze Dissertationen schreiben ließen“, dann könnte man von einem Universitätslehrer für öffentliches Recht erwarten, dass er zu der Frage Stellung nimmt, wie sich das mit der Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach „Normenklarheit“ (Randnr. 184) vereinbaren lässt:

    „Das Gebot der Normenbestimmtheit und der Normenklarheit ... soll die Betroffenen befähigen, die Rechtslage anhand der gesetzlichen Regelung zu erkennen, damit sie ihr Verhalten danach ausrichten können. Die Bestimmtheitsanforderungen dienen auch dazu, die Verwaltung zu binden und ihr Verhalten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß zu begrenzen sowie, soweit sie zum Schutz anderer tätig wird, den Schutzauftrag näher zu konkretisieren. Zu den Anforderungen gehört es, dass hinreichend klare Maßstäbe für Abwägungsentscheidungen bereitgestellt werden. Je ungenauer die Anforderungen an die dafür maßgebende tatsächliche Ausgangslage gesetzlich umschrieben sind, umso größer ist das Risiko unangemessener Zuordnung von rechtlich erheblichen Belangen. Die Bestimmtheit der Norm soll auch vor Missbrauch schützen, sei es durch den Staat selbst oder - soweit die Norm die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander regelt - auch durch diese. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, soweit Bürger an einer sie betreffenden Maßnahme nicht beteiligt sind oder von ihr nicht einmal Kenntnis haben, so dass sie ihre Interessen nicht selbst verfolgen können. Schließlich dienen die Normenbestimmtheit und die Normenklarheit dazu, die Gerichte in die Lage zu versetzen, getroffene Maßnahmen anhand rechtlicher Maßstäbe zu kontrollieren.“

    „Hunderttausendfachen Rechtsbruch“ habe die Kanzlerin begangen, als sie die Grenzen öffnete, sagt Medienanwalt Prof. Dr. Ralf Höcker von der CDU-Initiative „Konrads Erben“. Das klingt zunächst polemisch. Doch nach § 95 Absatz 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz macht sich strafbar, wer „entgegen § 14 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 in das Bundesgebiet einreist“, also ohne Pass oder den erforderlichen Aufenthaltstitel. § 96 Absatz 1 Nr. 1 Buchstabe b bedroht denjenigen mit Strafe, der ihm zu dieser illegalen Einreise Hilfe leistet („wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern“). Auch hierzu wäre eine Stellungnahme von Gärditz angebracht gewesen. Insbesondere angesichts dieser Feststellung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz in seinem Urteil vom 14. Februar 2017 (Aktenzeichen: 13 UF 32/17, Randnr. 58): „Die rechts.staatliche Ordnung in der Bundesrepublik ist in diesem Bereich ... seit rund eineinhalb Jahren [also seit September 2015] außer Kraft gesetzt und die illegale Einreise ins Bundesgebiet wird momentan de facto nicht mehr strafrechtlich verfolgt.“

    Angesichts dieser Sach- und Rechtslage kann man schwerlich von „aufgeplusterter Rhetorik zur ‚Herrschaft des Unrechts‘“ sprechen, ohne sich selbst dem Vorwurf unsachlicher Polemik auszusetzen. Gefordert sind in der Tat „Nüchternheit und ein Quäntchen politische Weitsicht“ – auf allen Seiten.

    Der Schutz der deutschen Außengrenzen

    Der GG-Kommentator („Maunz/Dürig/Herzog/Scholz“) und frühere Vorsitzende des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (1988-2002), Prof. em. (seit SS 2005) Dr. Rupert Scholz, hat sich zum Schutz der deutschen Außengrenzen wie folgt geäußert:

    „Entschieden widersprach der renommierte Staatsrechtler der vielfach geäußerten Behauptung, eine Schließung der Grenzen innerhalb der EU wäre rechtswidrig. Das Gegenteil sei der Fall: Das Schengen-Abkommen sehe zwar offene Grenzen zwischen den EU-Staaten vor, jedoch ausdrücklich nur unter der Voraussetzung, dass die Außengrenzen der EU wirksam geschützt würden. Dies sei derzeit aber offensichtlich nicht gegeben, sodass die einzelnen Mitgliedsstaaten nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht hätten, ihre jeweiligen Landesgrenzen zu schützen. Folgerichtig hätten in jüngster Zeit zahlreiche EU-Staaten die Grenzkontrollen gegenüber ihren Nachbarn wiedereingeführt – während sich die deutsche Regierung immer noch weigere, diesen Schritt zu tun. ‚Frau Merkel behauptet, es wäre gar nicht möglich, die deutschen Landesgrenzen effektiv zu schützen‘, bemerkte Prof. Scholz. ‚Das zu beurteilen, liegt aber gar nicht in ihrer Kompetenz.'

    Es sei ein Grundsatz des Staatsrechts, dass die Existenz eines Staates von drei Kriterien abhänge: dem Vorhandensein eines Staatsvolks, eines Staatsgebiets und einer Staatsgewalt. Das Staatsgebiet definiere sich jedoch anhand seiner Grenzen; daher sei es für die Souveränität eines Staates unerlässlich, dass er willens und in der Lage sei, seine Grenzen zu sichern.“

    Nur am Rande sei vermerkt, dass die Bundeskanzlerin zwar behauptete, man könne die (3.714 Kilometer lange) deutsche Grenze nicht schützen, gleichzeitig aber von der türkischen Regierung genau dies für ihre Grenzen verlangte. Dabei ging es weniger um die 2.816 lange Grenze der Türkei zu ihren Nachbarstaaten, sondern um die 7.200 km lange Küste zum Mittelmeer, wovon der besonders zerklüftete Teil auf die Ägäis entfällt, wo ein Dutzend griechischer Inseln teilweise in Sichtweite zur Türkei liegt. Eine bemerkenswerte Logik für eine promovierte Physikerin. Auch der EU mutete sie die entsprechende Leistung zu, so dass Innenminister de Maizière am 6. Oktober 2016 verkünden konnte: „Schutz der EU-Außengrenzen wird Realität“ oder was man in der Regierung Merkel so Realität nennt. Nur damit das klar ist: Die Küstengrenzen der Europäischen Union haben eine Länge von rund 66.000 Kilometern, wenn die Schutzmaßnahmen sich auch auf die südlichen Teile beschränken.
    Akte der Selbstermächtigung?

    Der frühere Präsident (1994 bis 2013) des Verfassungsgerichtshofs für Nordrhein-Westfalen, Dr. Michael Bertrams, hat Kritik an der „Selbstherrlichkeit“ von Kanzlerin Merkel in der Flüchtlingsfrage geübt:

    „Merkels Vorgehen werfe die verfassungsrechtliche Frage auf, ob sie dazu überhaupt legitimiert war. ‚In unserer repräsentativen Demokratie liegen alle wesentlichen Entscheidungen – gerade auch solche mit Auswirkung auf das Budget – in den Händen der vom Volk gewählten Abgeordneten‘, so Bertrams mit Hinweis auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Parlamentsvorbehalt für den Einsatz bewaffneter deutscher Truppen im Ausland.

    Ohne parlamentarische Zustimmung dürfe es solche Einsätze nicht geben. ‚Kann also schon die Entsendung einiger Hundert Soldaten nach Mali nur mit Zustimmung des Bundestags erfolgen, dann ist diese erst recht erforderlich, wenn es um die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge geht‘, so Bertrams.

    ‚Merkels Alleingang war deshalb ein Akt der Selbstermächtigung‘, betonte er und sprach von einer ‚selbstherrlichen Kanzler-Demokratie‘.“

    Auch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages haben sich mit der Frage der unterbliebenen Parlamentsbeteiligung durch die Bundeskanzlerin befasst und sind dabei zum Ergebnis gekommen:

    „Normativer Anknüpfungspunkt für eine Beteiligung des Bundestages im Zusammenhang mit der Einreise von Asylsuchenden aus sicheren Drittstaaten könnte die als Wesentlichkeitslehre bezeichnete und aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip folgende Verpflichtung des Gesetzgebers sein, in grundlegenden normativen Bereichen, insbesondere im Bereich der Grundrechtsausübung, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.“

    Ob die Bundesregierung gegen diese Wesentlichkeitslehre verstoßen hat, wird nicht explizit gesagt: „Dass der Legislative bei der Entscheidung über den Zuzug von Ausländern eine gewisse Begrenzungsfunktion zukommt, wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Familiennachzug deutlich. Dort heißt es:

    ‚Es [erg. das Grundgesetz] schließt weder eine großzügige Zulassung von Fremden aus, noch gebietet es eine solche Praxis. In dem von ihm gesteckten weiten Rahmen obliegt es der Entscheidung der Legislative und – in den von dieser zulässigerweise gezogenen Grenzen – der Exekutive, ob und bei welchem Anteil Nichtdeutscher an der Gesamtbevölkerung die Zuwanderung von Ausländern ins Bundesgebiet begrenzt wird oder ob und bis zu welchem Umfang eine solche Zuwanderung geduldet oder gefördert wird ; [...].'“
    Ein Blick ins Grundgesetz, Artikel 16a

    Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig selbst führende Politiker das Grundgesetz kennen, obwohl sie sich ständig darauf berufen. Ein besonders krasses Beispiel lieferte die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Claudia Roth, die offenbar den Asylrechts-Artikel noch seit seiner Änderung im Jahr 1993 noch nie gelesen hat. Guckst Du hier (ab 2:00)!

    Nach Artikel 16a Absatz 2 und 3 GG hätte auf dem Landweg kein einziger Flüchtling ein Recht auf Asyl in Deutschland, weil er entweder „aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften“ oder „aus einem anderen Drittstaat einreist“, in dem die Genfer Flüchtlingskonvention gilt (Schweiz). Wenn die Bundeskanzlerin vollmundig proklamiert „Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze; das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs zu uns kommen“, so hat sie zwar im ersten Halbsatz abstrakt-theoretisch Recht. Im konkreten Zusammenhang liegt sie jedoch genauso daneben wie mit dem zweiten Halbsatz. „Notsituationen wie Armut, Bürgerkriege, Naturkatastrophen oder Perspektivlosigkeit sind ... als Gründe für eine Asylgewährung gemäß Artikel 16a GG grundsätzlich ausgeschlossen“, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) klargestellt hat.

    Dass der Streit um die Obergrenze gleichwohl bis heute andauert, zeigt nur, wie wenig sich die politische Diskussion um die Rechtslage kümmert, mag sie auch noch so oft den „Rechtsstaat“ beschwören. Asyl nach Artikel 16a Absatz 1 GG kann nur beanspruchen wer auf dem Luft- oder Seeweg einreist. Demgemäß betrug die Zahl der 2016 nach § 16a Absatz 1 Anerkannten laut BAMF (Seite 47) 2.120, das sind 0,3 Prozent der „Gesamtschutzquote“.

    § 18 Absatz 2 Nr. 1 Asylgesetz bestimmt deshalb, dass einem Ausländer die Einreise zu verweigern ist, „wenn er aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a) einreist“. Sichere Drittstaaten sind außer den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Norwegen und die Schweiz (nach Anlage I zu § 26a).

    Gegen diese Bestimmungen wurde aufgrund des „freundlichen Gesichts“ der Kanzlerin hunderttausendfach verstoßen.
    Auf der Suche nach der Rechtsgrundlage

    Bis heute ist die Rechtsgrundlage, auf der die Einreise von Asylsuchenden im Herbst 2015 genehmigt wurde, nicht geklärt.

    Das haben auch Juristen der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages festgestellt. Dieser Bewertung liegt die folgende schriftliche Frage des Abgeordneten Stephan Stracke (CDU/CSU) zugrunde (Deutscher Bundestag, Drucksache 18/7510 vom 12.02.2016 Nrn. 39 u. 40):

    „Mit welchem Wortlaut hat das Bundesministerium des Innern [BMI] nach § 18 Absatz 4 Nummer 2 des Asylgesetzes (AsylG) angeordnet, von der Einreiseverweigerung gegenüber Asylsuchenden nach § 18 AsylG abzusehen, und wie lange gilt bzw. galt diese Anordnung (bitte unter Angabe des Zeitpunktes und der Art der Veröffentlichung)?“

    „Falls eine solche Anordnung nicht erfolgt ist, aus welchen Gründen hat das Bundesministerium des Innern von dieser Maßnahme abgesehen?“

    Diese klaren Fragen brachten das BMI in arge Verlegenheit; denn eine solche Anordnung wurde nie getroffen, wie mir das Ministerium auf meine Mail-Anfrage am 26. Januar 2016 mitgeteilt hat. Entsprechend vage fiel die Antwort von Staatssekretärin Dr. Emily Haber aus:

    „Maßnahmen der Zurückweisung an der Grenze mit Bezug auf um Schutz nachsuchende Drittstaatsangehörige kommen derzeit nicht zur Anwendung (§ 18 Absatz 2, 4 – AsylG). ... Die Regelungen in § 18 Absatz 2 bis 4 AsylG sind im Kontext des europarechtlichen Regelungsgefüges zu betrachten. Zurückweisungen an der Grenze sind im Rechtsrahmen der Dublin-III-Verordnung und des § 18 AsylG zulässig. ...

    Die Entscheidung, den betreffenden Personenkreis nicht zurückzuweisen, wurde im Zusammenhang mit der vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den deutschen Binnengrenzen im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten innerhalb der Bundesregierung getroffen.“

    Letzteres war insofern unrichtig, als die Entscheidung über die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den deutschen Binnengrenzen nach dem 4. September 2015 getroffen wurde, nämlich am 13. September.

    In dem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages heißt es zu der Antwort (auf Seite 11): „Andererseits wird die genaue Rechtsgrundlage des § 18 Abs. 4 AsylG in Bezug auf die Nr. 1 oder Nr. 2 gerade nicht benannt und das Vorliegen einer Anordnung des Bundesministeriums des Innern trotz der konkreten Fragestellung nicht ausdrücklich zurückgewiesen.“ (Kursiv von mir)

    https://www.achgut.com/artikel/der_r...echtlingskrise
    Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.
    Gustav von Rochow (1792 - 1847), preußischer Innenminister und Staatsminister

  5. #5
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    AW: Der Rechtsbruch hat viele Gesichter (1): Das Grundgesetz (und Fortsetzungen)

    Der Rechtsbruch hat viele Gesichter – die zweite Staffel (1)

    Einige Leserkommentare haben mich veranlasst, meine vorangegangene Serie zu den folgenden Punkten zu ergänzen. Bei der Gelegenheit danke ich allen Achse-Leserinnen und -Lesern für ihre kritischen und instruktiven Kommentare. Von dem verehrten Sir Winston Churchill stammt die Erkenntnis: “Criticism may not be agreeable, but it is necessary. It fulfils the same function as pain in the human body. It calls attention to an unhealthy state of things.” (Kritik mag nicht angenehm sein, aber sie ist notwendig. Sie erfüllt dieselbe Funktion wie der Schmerz im menschlichen Körper. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf einen ungesunden Zustand der Dinge)
    Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin

    Horst Hauptmann schrieb:

    Sehr gerne würde ich in diesem Zusammenhang einmal etwas über den sogenannten Fraktionszwang lesen, der eindeutig dem Grundgesetz widerspricht, aber im Bundestag zur täglichen Praxis gehört.

    „Der Fraktionszwang ist in Deutschland, Österreich, der Schweiz und vielen anderen Ländern verfassungswidrig, da er gegen das Prinzip des freien Mandats verstößt“, heißt es lapidar auf Wikipedia unter dem Stichwort „Fraktionsdisziplin“. Das klingt auf den ersten Blick überzeugend, bestimmt doch Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG): Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages „sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Von Fraktionsdisziplin oder gar Fraktionszwang ist im GG nirgends die Rede.

    Doch die Lösung einer Rechtsfrage ist selten so einfach, wie es zunächst aussieht. Das liegt an der Unvollkommenheit unserer Sprache, die es unmöglich macht, einen Gedanken so zu formulieren, dass sein Inhalt angesichts der Vielgestaltigkeit des Lebens stets über jeden Zweifel erhaben ist. So ist das Gebot in jedem Stadtpark „Hunde sind an der Leine zu führen“ vollkommen eindeutig. Ebenso eindeutig ist, dass ein Gepard oder ein Schwein kein Hund ist. Aber sollen sie deshalb frei rumlaufen dürfen? Das Gebot orientiert sich an der Tatsache, dass die Besucher eines Stadtparks üblicherweise ihren Hund, nicht aber ein anderes Tier mit sich führen, das Besucher belästigen oder gefährden könnte. Ist dies gleichwohl der Fall, kann das Gebot im Wege der Analogie auf andere Tiere ausgedehnt werden. Im Fall des Geparden könnte man auch auf den Schluss „argumentum a minori ad maius“ zurückgreifen: Wenn schon Hunde (unabhängig von ihrer Größe und Gefährlichkeit) an der Leine zu führen sind, dann erst recht Geparden und andere Raubtiere.

    Dieser kleine Exkurs macht deutlich, dass die Frage der Zulässigkeit des Fraktionszwangs auf jeden Fall einer differenzierten Prüfung bedarf.

    Diese setzt bei Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 GG an, wonach die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Im Bundestag geschieht das über die jeweiligen Fraktionen. Der Begriff kommt allerdings nur einmal im GG vor und zwar in Artikel 53a Absatz 1 Satz 2. Weitere Regeln enthält die Geschäftsordnung, die sich der Bundestag nach Artikel 40 Absatz 1 Satz 2 GG gibt. Dort ist allerdings ebenfalls nirgends von Fraktionsdisziplin die Rede.
    „Die Einbindung ist gewollt“

    In seinem Urteil vom 8. Dezember 2004 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aber festgestellt:

    „Der fraktionsgebundene Abgeordnete bewegt sich in einem Spannungsverhältnis zwischen seinem freien und gleichen Mandat und seiner Einordnung in die Fraktion.


    Die politische Einbindung des Abgeordneten in Partei und Fraktion im Bund und in den Ländern ist verfassungsrechtlich erlaubt und gewollt: Das Grundgesetz weist den Parteien eine besondere Rolle im Prozess der politischen Willensbildung zu (Art. 21 Abs. 1 GG), weil ohne die Formung des politischen Prozesses durch geeignete freie Organisationen eine stabile Demokratie in großen Gemeinschaften nicht gelingen kann. Die von Abgeordneten -- in Ausübung des freien Mandats -- gebildeten Fraktionen (vgl. BVerfGE 80, 188 [220]) sind im Zeichen der Entwicklung zur Parteiendemokratie notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und maßgebliche Faktoren der politischen Willensbildung (vgl. BVerfGE 80, 188 [219 f.]). Sie nehmen im parlamentarischen Raum Koordinierungsaufgaben wahr, bündeln die Vielfalt der Meinungen zur politischen Stimme, wählen aus und spitzen Themen als politisch entscheidbar zu. Diese Aufgaben sind angesichts der Vielzahl und Vielschichtigkeit der im Parlament zu behandelnden Regelungsbedürfnisse für die parlamentarische Arbeit unabdingbar. Wenn der einzelne Abgeordnete im Parlament politischen Einfluss von Gewicht ausüben, wenn er gestalten will, bedarf er der abgestimmten Unterstützung anderer Abgeordneter. Das freie Mandat und die Gleichheit der Abgeordneten werden deshalb durch die Anforderungen der in Fraktionen organisierten parlamentarischen Arbeit mit geprägt, ohne jedoch den Grundsatz der Gleichheit und Freiheit des Mandats zu verdrängen.“

    Diese sibyllinische Formulierung lässt auf jeden Fall erkennen, dass das in Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 GG verankerte freie Mandat nicht jedwede „Bündelung“ und „Koordination“ der Meinungen in einer Fraktion kategorisch ausschließt. Dem trägt die parlamentarische Praxis insofern Rechnung, als sie abweichende Stimmabgaben einzelner Abgeordneter immer wieder sanktionslos zulässt. So stimmten zum Beispiel im Februar 2015 22 Unionsabgeordnete gegen die Griechenland-Hilfe. Auch bei anderen Themen machten Abgeordnete von ihrem freien Mandat Gebrauch und stimmten gegen die Fraktionslinie.

    Grenzen der Fremdbestimmung

    Etwas deutlicher haben es die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages in einer gutachtlichen Äußerung zum Thema „Fraktionsdisziplin und Abgeordnetenstatus gemäß Art. 38 Grundgesetz“ vom 22. März 2013 formuliert (Seite 6): „Mit seiner Fraktionsmitgliedschaft gibt der Abgeordnete seine Freiheit in der Ausübung des Mandats nicht auf, unterwirft sich aber einer „Fraktionsdisziplin“. Diese beruht nicht auf Rechtszwang, sondern ist als eine sich selbst freiwillig auferlegte Disziplin Bedingung parlamentarischer Wirksamkeit und eigener Aufgabenerfüllung. In seiner Fraktion unterliegt der Abgeordnete der „Fremdbestimmung“ nur insoweit, als er sich freiwillig der Mehrheit fügt, zu deren Zustandekommen er wie alle anderen Fraktionsmitglieder beigetragen hat. Bereits begrifflich liegt darin keine Einschränkung des Abgeordneten in seiner Mandatsfreiheit.“

    Fraktionszwang ist danach in der Tat verfassungswidrig. Aber nicht jede Bemühung der Fraktionsführung um eine einheitliche Stimmabgabe ist deshalb unzulässig. Kein Abgeordneter ist gehindert, seinem Gewissen zu folgen, wie auch § 13 der GO des Bundestages nochmals bekräftigt: „Jedes Mitglied des Bundestages folgt bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen.“ Ob er es dann auch tatsächlich tut, steht auf einem anderen Blatt.

    https://www.achgut.com/artikel/der_r...eite_staffel_1
    Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.
    Gustav von Rochow (1792 - 1847), preußischer Innenminister und Staatsminister

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