Man könnte diese Aussage eines neu Zuzogenen, dazu noch eines Ausländers, als anmaßend empfinden, denn nicht jeder, der in Sachsen lebt, ist ein Sachse. Die Sachsen sind ein Volksstamm mit unverwechselbaren Merkmalen und Eigenschaften. Kein Deutscher anderer Regionen würde sich, wenn er nach Chemnitz oder Dresden zieht, als Sachsen bezeichnen.

Eines jedoch habe ich noch nicht erlebt: Viele Leute mit Klumpfuß, geschätzt die ganzen letzten 10 Jahre keinen mehr und zwar viele Syrer, aber keine Deutschen, die diese auf öffentlicher Strasse beschimpfen. Ich war offenbar immer zur falschen Zeit an der falschen Stelle.

"Ich bin jetzt ein Sachse"

Wie der syrische Flüchtling Dimon Alawad mit seiner Schauspiel-Leidenschaft Chemnitz zu seiner neuen Heimat gemacht hat.

Es könnte ein schöner Tag sein: Die Sonne scheint, das Chemnitzer Zentrum wirkt belebt. Der Mann mit dem Klumpfuß scheint jedoch schlechte Laune zu haben. Erst brummt er irgendwas hinter Dimon Alawad her, dann ruft er unvermittelt "Sau du". Der junge Syrer könnte sich nun herumdrehen und den Invaliden zur Rede stellen, aber er ignoriert ihn einfach. "Das bringt doch nichts, ich habe mich daran gewöhnt, an diese alltäglichen Beleidigungen ohne Grund", sagt der 20-Jährige, der vor zwei Jahren nach Chemnitz kam. "So ist das." Alawad lässt sich an einem Tisch im Café Alex nieder, an einem seiner Lieblingsplätze in der Sonne. "Trotzdem ist das nur ein Typ, die meisten Chemnitzer sind sehr freundlich, und seit der großen Demonstration mag ich sie noch mehr." Neben dem Café Alex sind das Kaufhaus Tietz und das Schauspielhaus seine liebsten Orte hier.


Bis zu seiner erfolgreichen Flucht vor dem Krieg, die der damals 17-Jährige alleine über den Libanon, die Türkei, Griechenland, Serbien und Ungarn teils mit dem Flugzeug, teils auf dem Boot, teils zu Fuß auf sich nahm, fand Alawad jede Stadt in Deutschland schön. Denn sie versprach Sicherheit. "Ich bin damals mit einem Schlag erwachsen geworden." Nach einer Odyssee durch neun verschiedene Flüchtlingsheime zwischen Passau und Mecklenburg-Vorpommern erhielt er 2016 schließlich seine für drei Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis und ließ sich in Chemnitz nieder. "Hier wohnten schon ein paar Freunde aus meinem Dorf und sagten mir, dass es hier leichter wäre, sich zurechtzufinden, als anderswo, zum Beispiel in Berlin." Er lernte die Stadt schätzen, geht jede Woche aus und erkundet die Umgebung.


Dimon Alawad, der schnell Deutsch lernte und fünf weitere Sprachen spricht, fand eine Wohnung auf dem Sonnenberg, die er inzwischen völlig allein durch mehrere Minijobs finanziert: als Dolmetscher, Bauarbeiter, Nachhilfelehrer und Arzthelfer. Doch seine größte Leidenschaft gilt dem Theater. "Als ein befreundeter Dichter nach Chemnitz kam, gründete er gleich eine Theatergruppe, mit der wir 'Woyzeck' von Georg Büchner gespielt haben. Obwohl ich eigentlich hatte Wirtschaft studieren wollen - danach gab es für mich nur noch die Bühne." Dimon spielte mit seiner Truppe "Turmbau 62" auf dem Sonnenberg, gastierte sogar in Dresden und am Chemnitzer Schauspielhaus. Die Faszination? "Beim Spielen kann ich sein, wie ich bin."


Dimon Alawad fackelte nicht lange und bewarb sich gleich an der berühmten Filmhochschule "Konrad Wolf" in Potsdam-Babelsberg. Dafür musste er zwei Klassiker - Goethe und Shakespeare - vorbereiten und ein Lied singen. "Das war furchtbar, ich bin durchgefallen". Im nächsten Jahr will er es in Potsdam wieder versuchen, und wenn das nicht klappt, erstmal nach Köln an die Schauspielschule gehen, von der er schon eine Zusage hat. Den vorläufigen Höhepunkt seiner Schauspielerkarriere bildete indes in diesem Jahr die Hauptrolle in dem Kurzfilm "Saleh und Maja", der im August in Chemnitz gezeigt wurde. "Ich kannte die Regisseurin, die mich zum Casting einlud, und dann habe ich die Titelrolle bekommen." Der Film thematisiert eine Liebesgeschichte zwischen einem syrischen Flüchtling und einer deutschen Studentin, die trotz interkultureller Probleme am Ende doch gut ausgeht. Autobiografische Bezüge stellten sich ganz wie von selbst ein.

Geflohen ist Dimon Alawad nicht nur vor dem herannahenden Krieg, in dem es seiner Meinung nach vor allem um das in Syrien lagernde Erdöl geht, sondern vor seiner drohenden Einberufung zum Militär. "Wer nicht studiert, wird sofort eingezogen. Auf Arabisch sagt man nicht wie hier 'ich gehe zur Fahne', sondern 'ich gehe in den Tod'."


Die Hoffnung, dass ihr Sohn leben statt sterben solle, und sei es fernab von zu Hause, ließ seine Eltern schweren Herzens Abschied nehmen: Der Vater bezahlte den Teil der Reise, der planbar schien. "Es war sehr schwierig, es war ein großes Abenteuer, aber es war leider auch der einzige Weg." Das Heimatdorf der Familie liegt in der Nähe der syrischen Stadt Homs, etwa zwei Autostunden von der Hauptstadt Damaskus entfernt. Dimon Alawad hat keine Schwierigkeiten, es aus dem Gedächtnis zu beschreiben: "Dort gibt es Restaurants, Kaufhäuser, die nicht ganz so groß wie das Rote-Turm-Center sind, ein kleines Schwimmbad und viele Felder rundherum, auf denen die Menschen Kartoffeln und Gemüse anbauen." Da es ein christliches Dorf sei, gebe es auch sechs Kirchen - katholische, syrisch-orthodoxe und eine evangelische. Auch seine Familie bestehe aus Christen, "aber ich habe auf der Flucht meine Religion verloren". Zudem habe der IS viele uralte syrische Kirchen zerstört. "Vor dem Krieg hatten wir 25.000 Einwohner, jetzt sind es noch 15.000. Eine lange Zeit waren unsere Häuser noch ganz, aber erst vor kurzem wurde in der Nähe ein Militärflugplatz bombardiert, inzwischen ist sehr viel kaputt", sagt er. "Ich habe seit 2015 zwei Cousins und fast 20 Freunde verloren, wurde auch selbst in den Rücken geschossen." Haben seine zurückgelassenen Eltern, die das Land nicht mehr verlassen können, und die beiden Brüder Angst? "Alle haben Angst. So ist das."


"So ist das." - Diesen kurzen Satz sagt Dimon Alawad oft, wenn es um die harten Realitäten geht. Fast wirkt es so, als wolle er sich damit selbst bestätigen, dass es gut ist, nun in Sicherheit zu sein. Dass er oft an seine Familie denkt, Angst um sie hat, liest man nur in seinen Augen. Er will nicht larmoyant sein. "So ist das" - das soll wohl heißen, man könne es nicht ändern, müsse den Blick nach vorn richten. Dass 2015 sehr viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, liegt nach Dimon Alawads Einschätzung daran, dass der Bürgerkrieg in dieser Zeit besonders heftig war. "Zuerst flohen die Menschen im Landesinneren von Stadt zu Stadt, aber irgendwann reichte das nicht mehr, es wurde immer schlimmer - und der Exodus international." Viele Rechte in Deutschland machten sich gar nicht bewusst, dass hunderttausende Syrer ja nicht nur hierher, sondern in die ganze Welt geflohen seien.


Dass die Menschen hierzulande Skepsis, Misstrauen, teilweise sogar Hass empfinden, scheint Alawad sogar zu verstehen. "Vordergründig ist es die Angst, das eigene Land zu verlieren, vielleicht ist es aber auch eine Angst vor sich selbst. Dabei müsste man doch die Chance erkennen, dass in Zukunft integrationswillige Zuzügler Arbeit verrichten, die hier keiner mehr erledigen möchte." Das Hauptproblem sei dabei die Sprachbarriere: Deutsche und Ausländer würden sich seiner Erfahrung nach schon füreinander interessieren, aber niemand traue sich, zu kommunizieren. "Seit ich Deutsch kann, verstehe ich zwar auch die Beleidigungen besser, aber ich merke auch, wie offen sehr viele sind. So wie es nicht den Flüchtling gibt, gibt es auch nicht den Deutschen", sagt Dimon Alawad. "Wir müssen uns die Achtung der Deutschen erst verdienen." Obwohl er selbst Araber sei, habe er vor allem deutsche Freunde.


Dementsprechend wütend ist er auch auf jene, die in Chemnitz den Deutschkubaner getötet haben sollen. "Ich würde den Mördern gerne sagen, dass wir in ein sicheres Land gekommen sind, um Liebe zu verteilen, aber doch nicht, um Leuten zu schaden! Wir suchten hier Sicherheit. Warum tötet man dann?" Natürlich hänge das Verbrechen nun allen Ausländern in Chemnitz an, "und es war klar, dass es für die Rechten ein gefundenes Fressen sein würde". Angst, selbst angegriffen zu werden, auch wenn ihm und ein paar anderen Sonnenbergbewohnern nach der deutschlandweit bekannten Demo einige Rechte mit Messern hinterhergerannt seien, hat Dimon Alawad trotzdem nicht. "Es ist schlimm, was in Chemnitz passiert ist, aber nirgendwo kann es zurzeit so schlimm sein wie in Syrien", sagt Dimon Alawad. "So ist das."


Vielleicht kann er seine Familie irgendwann einmal besuchen - als Tourist. "Wenn ich jetzt hinfahre, werde ich sofort in die Armee geholt." Deswegen will er auch auf Dauer in Deutschland bleiben. Wenn er demnächst wegzieht, wird Dimon Chemnitz aber sehr vermissen. "Hier bin ich groß geworden, diese Stadt ist meine neue Heimat. Ich bin jetzt ein Sachse."

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