Große Koalition will Menschen mit geistiger Behinderung zu Wahlrecht verhelfen

Mehr als 80.000 Deutsche dürfen nicht wählen, weil sie eine Behinderung haben. Die Große Koalition will das nach der Sommerpause ändern.
BerlinAls sich die Innenexperten der Koalitionsfraktionen Ende Juni zu ihrer regelmäßigen Runde mit Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) trafen, brachten die SPD-Politiker ein Anliegen mit, das sie in der vergangenen Legislaturperiode nicht durchsetzen konnten. Die Sozialdemokraten pochten darauf, den 81.000 Menschen in Deutschland das Wahlrecht zu geben, denen wegen einer geistigen Beeinträchtigung ein Betreuer in allen Angelegenheiten zur Seite gestellt ist.
Die also nicht geschäftsfähig sind und keine Rechtsgeschäfte tätigen können und die deswegen einen Betreuer haben, der für sie entscheidet.

Der Wahlrechtsausschluss bei Bundestags- und Europawahlen sei eine unzulässige Diskriminierung, argumentieren die Sozialdemokraten. Außerdem stehe die Rechtslage in der Bundesrepublik im Widerspruch zur Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen.
In der letzten Großen Koalition beharrten CDU und CSU darauf, die Frage im Rahmen einer umfassenden Wahlrechtsreform zu lösen, bei der auch die Länge der Legislaturperiode und die Begrenzung der Bundestagsmandate auf den Prüfstand sollte. Auf ein solches Gesamtpaket konnten sich Union und SPD aber bisher nicht einigen.


Bei der Koalitionsrunde Ende Juni verständigten sich die Parteien nun darauf, den Wahlrechtsausschluss von Behinderten gesondert anzugehen, wie das Handelsblatt von Teilnehmern erfuhr. Auch Seehofer habe seine Unterstützung für eine Reform signalisiert.
Einen eigenen Gesetzentwurf will das Innenministerium nicht vorlegen, da Wahlrechtsänderungen traditionell Sache des Bundestags sind. Über den Sommer soll Seehofers Haus dem Vernehmen nach aber eine Formulierungshilfe für einen Entwurf erarbeiten, den Union und SPD dann im Herbst in das Parlament einbringen könnten.
Die Bundesregierung werde daher das Bundeswahlgesetz und das Europawahlgesetz entsprechend ändern:

„Es ist höchste Zeit, dass auch alle Menschen mit geistiger Behinderung wählen können“, sagte Burkhard Lischka, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, dem Handelsblatt. „Wählen ist ein Grundrecht.“ Daher werde die Koalition das Bundeswahlgesetz und das Europawahlgesetz entsprechend ändern. Ziel sei, dass alle Menschen mit Behinderungen zur Europawahl im Mai 2019 ihre Stimme abgeben könnten.
Union und SPD hatten in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, sich für ein „inklusives Wahlrecht“ einzusetzen. Mit dem Ende des Wahlrechtsausschlusses von Behinderten mit Vollbetreuung wollen die Parteien einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zuvorkommen, das sich mit Beschwerden von mehreren Betroffenen befasst. „Wir werden von uns aus aktiv“, sagte Lischka.
Aus der Unionsfraktion hieß es, man stehe einer entsprechenden Änderung des Wahlgesetzes wohlwollend gegenüber. Über die konkrete Ausgestaltung bestehe aber noch Beratungsbedarf mit der SPD. Ausklammern will die Große Koalition bei der Reform rund 3.300 schuldunfähige Straftäter, die sich in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden und ihr Wahlrecht verloren haben.
Die SPD-Sozialpolitikerin Kerstin Tack forderte, dass auch alle Bundesländer in ihren Wahlgesetzen Behinderten mit Vollbetreuung die Stimmabgabe bei Landtags- und Kommunalwahlen ermöglichen müssten. „Daneben sind unterstützende Maßnahmen wie Wahlinformationen in einfacher Sprache oder barrierefreie Zugänge zu Wahllokalen nötig.“
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