Ein Artikel aus dem Focus:


Die Inflation wird falsch gemessen

Von wegen stabile Preise: In Wirklichkeit liegt die Inflationsrate mittlerweile bei fast sechs Prozent. Bei deren Messung wird jedoch geschummelt.
EZB-Präsident Mario Draghi verweist stolz auf die historisch niedrige Inflation. Die Preise sind nahezu stabil, ist sein Credo. Hingegen sehen viele Bürger, dass sie sich weniger leisten können. Ihre Kaufkraft schwindet. Wie passt das zusammen?
Die Kaufkraft wird in der EU mit dem harmonisierten Konsumentenpreisindex gemessen. Dafür erfasst das Statistische Bundesamt über 300.000 Einzelpreise von 600 Waren und Dienstleistungen. Mieten haben einen Anteil von 32 Prozent, Ausgaben für Verkehr von 13 Prozent. Ausgaben für Freizeit, Unterhaltung und Kultur fließen mit elf Prozent ein, Nahrungsmittel mit zehn Prozent usw. Der Index ist in Deutschland seit 1999 mit durchschnittlich 1,4 Prozent pro Jahr etwas weniger als die Löhne (1,7 Prozent) gestiegen. Das suggeriert, dass sich die Kaufkraft erhöht hat.

Wichtige Güter bleiben im Index unberücksichtigt


Aber viele Güter sind gar nicht im Index vertreten. Ihre Preisentwicklung wird in der offiziellen Inflationsrate nicht erfasst. Beispiel Wohnimmobilien: Deren Preise sind seit 1999 im Schnitt um zwei Prozent pro Jahr gestiegen, in den sieben größten Städten seit 2005 sogar um 5,8. Für Aktien musste man seit 1999 pro Jahr durchschnittlich 7,7 Prozent mehr berappen. Auch öffentliche Güter wie Straßen, Bildung und Finanzmarktstabilität, deren Anteil am Verbrauch immerhin 45 Prozent beträgt (gemessen an der Staatsquote), bleiben in der Statistik unberücksichtigt.
Dabei müssen die Bürger für diese öffentlichen Güter oft mehr bezahlen. So stieg beispielsweise der Preis des Neubaus der EZB-Zentrale in Frankfurt von 850 auf 1300 Millionen Euro. Der Berliner Flughafen BER wird statt ursprünglich zwei Milliarden Euro wohl mehr als sieben Milliarden Euro kosten. Insgesamt ist die Steuerlast der Bürger seit 1999 um durchschnittlich drei Prozent pro Jahr gestiegen, die gesamten Zahlungen an den Staat (einschließlich Sozialbeiträgen) um 2,6 Prozent.

Die Qualität vieler Produkte sinkt

Ein zweiter Knackpunkt ist die Qualität. Während die Ämter bei Qualitätsverbesserungen (zum Beispiel bei Computern) die Preise nach unten korrigieren und so geringere Inflationsraten errechnen, setzen sie bei schlechterer Qualität die Preise nicht nach oben. Doch da der Preisdruck groß ist, nimmt bei vielen Gütern die Qualität ab. Einige ältere Bürger glauben, dass Obst und Gemüse nicht mehr so gut schmecken wie früher. Kinderspielzeug ist zunehmend aus Plastik statt aus Holz. Die Kleidung verschleißt schneller.


Auch bei Dienstleistungen sinkt die Qualität. Die Hausmeister sind aus den Mietshäusern verschwunden. Bei Vapiano und Starbucks bedienen wir uns selbst. Möbelhäuser laden zur mühsamen Selbstmontage ein. Fahrkarten buchen wir selbst im Internet ohne Preisnachlass. In den Supermärkten werden Fleischtheken abgebaut. Verkaufspersonal ist vielerorts rar geworden.
Bürger bekommen weniger Leistung für Ihre Steuern

Dazu kommt eine wachsende Zahl an Staus und Staukilometern auf den Straßen. Die Bundeswehr ist nicht mehr einsatzfähig. Es fehlen Pfleger, Erzieher, Kita-Plätze – für ihre Steuern bekommen Bürger also weniger oder schlechtere Leistungen. Doch all das taucht in der offiziellen Messung der Kaufkraft nicht auf.
Die Inflation ist also versteckt! Während für Deutschland die offizielle Rate 2017 mit 1,8 Prozent angegeben wird, wären es 2,4 Prozent, wenn auch eigengenutzte Immobilien eingerechnet würden. Berücksichtigt man die steigenden Kosten für öffentliche Güter, läge die Inflation bei drei Prozent – und sogar bei 5,4 Prozent, wenn auch Aktien erfasst würden. Inklusive der Qualitätsverschlechterungen würde die Inflation nahe sechs Prozent liegen!

Draghi muss Zinsen anheben


EZB-Chef Draghi hat daher wohl schon lange sein Inflationsziel von knapp zwei Prozent überschritten. Er müsste die Zinsen anheben und dürfte zum Leidwesen von Macron, Salvini und Merkel keine Staatsanleihen mehr kaufen. Das Trio wird wohl alles dafür tun, dass Inflation weiter wie bisher gemessen wird

Zum Autor des Artikels:

Zur Person

Gunter Schnabl ist Leiter des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig.




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