Warum fällt es den Politikern so schwer die Wahrheit zu sagen? Sigmar Gabriel hatte einige interessante Einsichten zu offenbaren................


Vom französischen Philosophen Alain Finkielkraut ist eine gute Definition von „politischer Korrektheit“ überliefert: „Nicht sehen wollen, was zu sehen ist“. So verstanden ist political correctness also weder ein zivilisierter Sprachgebrauch noch ist die Kritik an ihr gleichzusetzen mit der Missachtung gesellschaftlicher Normen und Wertvorstellungen. Sondern es geht um Wirklichkeitsverweigerung. Um das Schließen der Augen vor unbequemen Realitäten aus Sorge, falsch verstanden zu werden, Beifall von der falschen Seite zu bekommen, aus Mutlosigkeit oder Rücksichtnahme und leider oft auch aus Gleichgültigkeit.
In diesem Sinn erleben wir hoffentlich gerade das Ende der Zeit „politischer Korrektheit“. Schlimm genug, dass uns die Rechtspopulisten zwingen, über Teile der Wirklichkeit zu reden, die wir bislang gern im liberalen Diskurs ausgeblendet haben oder von denen wir dachten, wir könnten sie im Stillen bewältigen. Wir sind diesen Teilen der deutschen (und europäischen) Wirklichkeit zu lange ausgewichen. Nicht zuletzt weil der größere Teil der politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten dieser Wirklichkeit im eigenen Lebensalltag nicht begegnet. Das war bequem für uns und für die, die wir haben gewähren lassen. Und immer unbequemer für die, die in ihrem Lebensalltag nicht die Chance hatten, auszuweichen.............Die Antwort auf den neuen Konservativismus des Jens Spahn darf also nicht die Änderung der Blickrichtung sein, um einfach auf das Gute und Funktionierende im Land zu schauen und das andere weiterhin zu übersehen. Sondern jede Antwort muss zuerst die schwierigen Realitäten in den Blick nehmen. So wie es Kommunalpolitiker wie der frühere SPD-Bezirksbürgermeister Neuköllns, Heinz Buschkowsky, oder der Gelsenkirchener Oberbürgermeister Frank Baranowski seit Jahren tun. Oder wie es jüngst die Verantwortlichen der Essener Tafel getan haben, denen wir Dank und keine staatlich verordnete Kritik schulden.
Beschreibungen dieser Realitäten gibt es seit Jahren genug. Allerdings hat im wahrsten Sinne des Wortes auch die Entfernung vieler Entscheidungsträger von diesen Realitäten ebenso zugenommen. Biografisch, räumlich und intellektuell. Unsere Kinder gehen zumeist nicht in Kitas und Schulen mit mehr als 80 Prozent Migrantenanteil, wir gehen nicht nachts über unbewachte Plätze oder sind auf überfüllte öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, leben nicht in der Rigaer Straße in Berlin und wenn wir zum Arzt gehen, bekommen wir schnell Termine und Chefarztbehandlung selbst dann, wenn wir Kassenpatienten sind. Und vor allen Dingen: Wir ahnen nicht, wie man sich fühlt, wenn man jeden Tag arbeiten geht und trotzdem nicht vorankommt. Oder wie es ist, nach 45 Jahren Arbeit mit weniger als 1000 Euro im Monat klarkommen zu müssen.............
https://www.tagesspiegel.de/politik/erwiderung-von-sigmar-gabriel-wo-jens-spahn-recht-hat-und-wo-nicht/21153002.html