Von Birgit Kelle

Wenn drei Parteien verhandeln, die alle auf Teufel komm raus regieren wollen, dabei die Union auch noch derart unter Druck ist, endlich eine Regierung zu bilden, wenn um Himmels Willen vermieden werden muss, an eine Minderheitenregierung auch nur zu denken, und es auf gar keinen Fall zu Neuwahlen kommen darf, weil dann alle drei verlieren, dann ist das Ergebnis dieses Koalitionsvertrages nicht wirklich eine Überraschung.
Die CDU ist über die Schmerzgrenze hinweg. Andererseits: Spürt der Unionsanhänger sie überhaupt noch, oder hat man ihn nicht längst über Jahre langsam, aber sicher sozialdemokratisch im roten Wasser gar gekocht?
Europa first, Deutschland second

Es war absehbar, dass es zu dieser GroKo kommen wird, und weil es absehbar war, ist das Ergebnis so, wie es ist: Wenig überraschend und in weiten Teilen ein Offenbarungseid konservativer Politik. Immerhin wissen wir schon mal, was der Regierung wichtig ist: Europa first. Deutschland second.
Ich halte es nicht für einen Zufall, dass das Kapitel zu Europa lang und breit vor den Vereinbarungen zu Deutschland steht. Ich weiß nicht, ob das noch ein anderes, europäisches Land fertig bringen würde, seine legitimen, nationalen Interessen hinter Europa zu stellen. Andererseits tun wir das ja bereits seit vielen Jahren, nur konsequent, wenn es dann auch so offen dasteht.
Ich suche nach der Familien- und Frauenpolitik und stelle fest, man hat das Kind wieder mal neu entdeckt. Die CDU/CSU ist gekippt in Sachen Kinderrechte in die Verfassung. Sie sollen kommen, obwohl kein Kind sie braucht, aber was nutzen die Expertisen von Rechtsexperten, wenn Ideologen am Werk sind.
Olaf Scholz wird nicht nur den Vizekanzler-Posten bekommen, sondern auch die lang geforderte „Lufthoheit über den Kinderbetten“. Da passt der beschlossene Rechtsanspruch auf eine Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder wie die Faust aufs Auge. Faktisch wird es darauf hinauslaufen, dass die Grundschulen sukzessive alle auf Ganztag umstellen, es also in absehbarer Zeit faktisch zur Pflicht wird, dass Grundschulkinder den ganzen Tag in der Schule verbringen, denn Eltern werden kaum mehr eine Schule finden, die in der Nähe nur den normalen Betrieb anbietet. In manchen Regionen ist das jetzt schon der Fall.
Da relativiert sich übrigens wenige Zeilen später bei der Offensive für Bildung das Budget für tatsächliche Bildung. Zwei Milliarden fließen in den Ganztagsausbau und die Betreuung, das bedeutet vor allem, dass sie nicht in die Qualität, sondern in die Quantität der Stunden investiert werden, die die Kinder auf dem Schulgelände verbringen. Masse schafft eben keine Klasse.
Aber wir wollen nicht nur jammern: Es gibt 25 Euro pro Kind pro Monat mehr Kindergeld. Und das Baukindergeld. Das wiederum ist nicht wirklich eine Errungenschaft, sondern ein Instrument, das die CDU einst selbst abgeschafft hat und jetzt wieder aus dem familienpolitischen Hut zieht.
Schön, aber irgendwie stellt man sich unter einem familienpolitischen Konzept etwas mehr vor als – um es mal grob zusammenzufassen - noch mehr Kitaausbau, noch mehr Ganztagsbetreuung, ergo noch mehr Zeit, die Kinder außerhalb ihrer Familien verbringen werden, und dann hat man noch die Chuzpe, das Ganze als Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu bezeichnen. Im Gegenzug greift man noch die Erziehungsrechte der Eltern an, indem man die Verteidigung der Rechte unserer Kinder demnächst dem Staat zur Aufgabe erklärt.
Den Satz, man wolle die Energiewende sauber, sicher und bezahlbar fortsetzen kann ich hingegen entweder nur als Satire oder als Drohung verstehen. Aus der Perspektive der Familienpolitik kann ich da nur sagen: Nichts schröpft Familien seit Jahren sicherer, als die ständig steigenden Energiekosten, von denen sie nicht runter kommen und denen sie ausgeliefert sind. Je mehr Kinder, umso höher die Stromrechnung, Wasser, auch Benzin. Fast bin ich geneigt zu sagen: Behaltet eure 25 Euro mehr Kindergeld und kümmert euch lieber darum, dass die Stromrechnungen noch bezahlbar sind. Das brächte den meisten Familien deutlich mehr.
"Kreativ-Punkt für Formulierungskunst beim Thema Zuwanderung"

Einen Kreativ-Punkt verdient aber unbedingt die Formulierungskunst rund um die Zuwanderungsproblematik. Es ist schließlich nicht einfach, den Eindruck erwecken zu wollen, dass man etwas verändert, während man in Wahrheit nicht einmal das Problem benennt. Man wolle eine „Wiederholung der Situation von 2015 vermeiden“ steht da und ich frage mich, welche „Situation“ genau man denn nun vermeiden will in der Zukunft. Den offenen Rechtsbruch? Die Öffnung der Grenzen? Das Ignorieren der Dublin-Vereinbarungen?
Immerhin steht da, man wolle Anstrengungen zur angemessenen Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung verstärken. Ich finde weder das Wort Grenze noch das Wort Schließung. Stattdessen will man die Zuwanderung steuern, indem wir unser humanitäres Engagement und unsere Friedensmissionen ausweiten - durch faire Handelsabkommen und Vermeidung von Waffenlieferungen in Krisenregionen.


Nicht zu vergessen: Durch verstärkten Klimaschutz. Ja, der Klimaschutz wird es rausreißen. Das Wort Grenzsicherung findet sich wiederum nur im europäischen Kontext, als eine europäische Aufgabe der Sicherung der EU-Außengrenze. Ich sagte es ja bereits: Wer die nationalen Interessen hinter die europäischen denkt, sichert konsequenter Weise auch nicht die nationalen, sondern die europäischen Grenzen.
Nebelkerze Obergrenze

Großes Kino ist auch die Formulierung zur Obergrenze, die bekanntlich von der CSU gefordert war und die die SPD nicht geben wollte. Jetzt steht dort die Zahl 180.000 bis 200.000 als Nebelkerze, aber ohne eine Begrenzung. Sondern als Feststellung. Mein alter Deutschlehrer wäre ohnmächtig geworden.
Der Satz ist so schön, dass ich ihn ganz zitieren muss: „Wir stellen für die Zuwanderungszahlen fest, dass sie basierend auf der Erfahrungen der letzten 20 Jahre sowie mit Blick auf die vereinbarten Maßnahmen und den unmittelbar steuerbaren Teil der Zuwanderung die Spanne von jährlich 180.000 bis 200.000 nicht übersteigen werden.“
Im Klartext: Nach unseren Erfahrungswerten der letzten Jahre, und wir ignorieren mal die Dramatik seit 2015 und rechnen lieber mit dem Zeitraum der letzten 20 Jahre, werden wir wohl weiterhin rund 200.000 Menschen im Land aufnehmen. In diese Prognose, die natürlich auch falsch sein kann - denn schließlich basiert sie nicht auf harten Fakten oder Zielsetzungen, sondern auf unseren „Erfahrungen“ - haben wir aber schon unsere Maßnahmen eingerechnet wie die Ankündigung, dass wir dann doch abschieben wollen, wenn sich jemand illegal im Land aufhält, was nicht heißt, dass wir das durchziehen.
Außerdem reden wir sowieso nur über den „unmittelbar steuerbaren Teil der Zuwanderung“, in der Hoffnung, dass die meisten dies Detail überlesen werden. Alle, die illegal über die Grenze kommen, können wir ja nicht steuern, die sind hier gar nicht in der Berechnung drin. Das ist ein Bonbon extra. Und natürlich ist der Familiennachzug da auch nicht mit drin, der kommt noch obendrauf. Ja, manchmal drängt sich schon der Verdacht auf, dass unsere Regierung ihre Wähler für komplett blöde hält.
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Kommen wir noch zu meinem Lieblingsbereich Gender und Geschlechtervielfalt. Homosexuellen- und Transfeindlichkeit wird nicht geduldet. Bravo. Hoffentlich gilt das auch für die Vielfalt der anderen Geschlechter, nicht dass sich da jemand missachtet fühlt. Wunderbar auch, dass man die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hierzu umsetzen will, indem gesetzlich klargestellt wird, dass „geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe an Kindern nur in unaufschiebbaren Fällen zulässig sind“.
Das ist gut, hat aber mit Homosexuellen und Transsexuellen nichts zu tun. Da geht es nämlich um Intersexuelle. Irgendwie wundert es mich nicht, dass bis in Regierungskreise immer noch nicht verstanden worden ist, dass Biologie und Gender eben unterschiedliche Dinge sind.
Realsatire zum Thema Gender-Politik

Leider könne wir nicht davon ausgehen, dass sich an der phantasievollen Forschung zu Gender-Fragen mehr Erkenntnisgewinn durch konsequente Qualitätssicherung und -überprüfung ergeben wird, denn der Koalitionsvertrag möchte lieber auf Frauenquoten-Erfüllungs-Programme setzen. Wissenschaftseinrichtungen sollen auf eine Steigerung des Frauenanteils „verpflichtet“ werden, und damit das auch schön flutscht mit den Beförderungen und dem Gender-Budgeting, wird die staatliche Förderung von Wissenschaft und Forschung demnächst an die Bedingung geknüpft, dass Gleichstellungspläne vorliegen mit verbindlichen Zielgrößen zur Erhöhung des Frauenanteils. Also entweder Frauenquote erhöhen, oder die Gelder werden gestrichen.
Der Satz hier muss dann aber wirklich Realsatire sein. Danke liebe GroKo, ich habe herzlich gelacht: „Daneben liefert insbesondere die Geschlechterforschung wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse über Ursachen und Mechanismen, die die Gleichstellung behindern.“ Ja, gebt mir nochmal 100 Gender-Lehrstühle.
https://www.focus.de/politik/experte...d_8433335.html