So viele Jubelartikel wie seit 2015 habe ich in der gesamten Pressehistorie der Bundesrepublik Deutschland nicht gelesen:

Abdullah räumt ab: Verkehrserziehung für Flüchtlinge
Osnabrück. Andere Länder, andere Verkehrsregeln: Während gute Radler in Somalia möglichst viele Leute auf einem Rad mitnehmen können, ist das in Deutschland tabu. Eine Stunde Verkehrserziehung für Flüchtlinge in Osnabrück.
Manchmal ist es wichtig, die Kurve zu kriegen. Wer könnte das besser wissen, als die jungen Männer aus Somalia, Afghanistan und dem Sudan, die ihre Heimat verlassen haben, um in Deutschland neu zu beginnen. Für sie hat Thomas Mäster vom Präventionsteam der Polizeiinspektion Osnabrück einen Fahrradparcours aufgebaut. Kurve-Kriegen mal anders: Die jungen Männer, alle mit Helm und Rad ausgestattet, starten in Serie und schlängeln sich um Hütchen und Stangen. „Stopp, stopp, bremsen, sonst fährst Du auf“, ruft Mäster Jamal hinterher. Glück gehabt. Das Hütchen wackelt, aber steht. Der Vordermann auch. So soll es sein.
Kommen sich die Schreiber solcher Artikel nicht selber dämlich vor? Zuletzt wurden solche immerhin vor mehr als siebzig Jahren geschrieben.

Der Parcours auf dem Gelände des Berufsfortbildungswerks (bfw) in Osnabrück ist eine Einheit, bei der die Flüchtlinge im fünfmonatigen Kurs „Flow“ richtig in Fahrt kommen. Sonst stehen in erster Linie Sprachkurse und Berufsbildung auf dem Plan. „Wir freuen uns, wenn wir die Männer – meistens sind sie geduldet, selten anerkannt – zum Beispiel in Praktika vermitteln können“, sagt Stephan von Höfen, Job-Coach beim bfw. „Dafür müssen sie sich aber sicher im Straßenverkehr bewegen können.“ Mobilität ist immer auch ein Pedaltritt in Richtung Integration. Seit 2016 kümmert sich das Präventionsteam der Polizei Osnabrück um Verkehrserziehung für Flüchtlinge. Einrichtungen, die Bedarf haben, sprechen das Team direkt an. Die Polizisten waren inzwischen mit insgesamt 20 Aktionen zum Beispiel im Flüchtlingshaus, im Haus Johannes (Flüchtlingshilfe Rosenplatz), bei der Jugendhilfe Don Bosco oder beim bfw im Einsatz, um Flüchtlinge fit für den Straßenverkehr zu machen – in Theorie oder Praxis.
Die Teilnehmer kommen aus Ländern, in denen ganz andere Regeln im Verkehr gelten“, sagt Thomas Mäster als Verkehrssicherheitsbeauftragter. Nicht nur andere Regeln – „weniger Regeln“, betont Bashir Ahmed lachend. In Somalia zum Beispiel, einem Land, das von Anschlägen der Terrormiliz Al-Shabaab, Bürgerkrieg und Dürrekatastrophen gezeichnet ist, sind alle froh, wenn möglichst viele Kanister mit Wasser auf ein Fahrrad geladen werden können – völlig egal, ob die nun am Lenker baumeln oder auf dem Gepäckträger neben zwei Kindern gestapelt werden. „Das ist dort absolut verständlich“, findet Mäster. „In Deutschland ist das anders.
Auf Augen- und Sattelhöhe zeigt Mäster, selbst auf Rad gestiegen, das Basiswissen: rechts vor links, kein Fahren entgegengesetzt der Fahrtrichtung, Radwege nutzen, eine Person pro Rad, Ampeln achten, abbiegen, toter Winkel. Für die Theorie nutzt sein Team das bildreiche Grundschulmaterial – auf die Handpuppe kann Mäster verzichten, auf einen Dolmetscher nicht. Inzwischen gibt es auch mehrsprachige Unterstützung im Internet: Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat hat mit Unterstützung der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung die Kampagne „German Road Safety“ an den Start gebracht – hier wird per kostenloser App in kurzen Filmen zum Beispiel auf Paschtu oder Farsi erklärt, wie der Verkehr in Deutschland läuft oder steht. Auch die ADAC Stiftung hat aus dem deutschen Schilderwald die 18 wichtigsten nebst Vorfahrts- und Radfahrregeln rausgezogen und auf Arabisch erklärt.
Egal, welche Sprache die Teilnehmer sprechen, eins verstehen alle sofort: Spaß bringt der Praxistest. Nur, wer die Theorie durchzieht, darf bei Mäster in den Parcours. Abdullah Hassan hat an diesem Vormittag ein bisschen zu stark in die Pedale getreten. Er kann in einer schmalen Gasse aus Holzklötzen nicht mehr rechtzeitig bremsen und räumt ab. „Super Abdullah“, johlt die Gruppe und applaudiert. Endlich macht mal einer Alle Neune. Nach drei Übungsrunden fahren am Ende alle fehlerfrei durch den Parcours. „Ihr habt das klasse gemacht“, lobt Mäster. Die Jungs klatschen. Vielleicht ist Mäster der erste Polizist, der sie lobt – bestimmt der erste, der ihnen Plastikhütchen hinterherträgt.
Und nun das Totschlagargument, wobei den Flüchtlingen eine Versicherung für 1,50 Euro pro Monat angeboten wird, was eben die meisten ausschlagen (über dieses Sonderangebot der Gemeindeversicherungen wurde in vielen Artikeln der Vergangenheit bereits berichtet wie auch davon, dass die Flüchtlinge diese Versicherung nicht zahlen wollten). Die Verantwortung gibt die Presse nun an die Stadt weiter, die dies tun müßte (warum nicht die Flüchtlinge von ihrem Taschengeld von 150,-- Euro und warum wird dies nicht obligatorisch für die gemacht, die ein Fahrrad geschenkt bekommen?)

Mästers Verkehrserziehung in der Grundschule endet mit einer Fahrradprüfung im richtigen Verkehr, die der Flüchtlinge mit der Testfahrt auf dem Speditionsgelände des bfw. „Wir können die Teilnehmer nicht für den Realverkehr versichern“, erklärt der Polizist das Ende im Gelände. 2016 hatten einige deutsche Kommunen in Erwägung gezogen, Gruppen-Haftpflichtversicherungen für ihre Flüchtlinge abzuschließen. „Die Stadt Osnabrück hat das – wie viele andere auch – nicht gemacht“, sagt Stadt-Sprecher Sven Jürgensen. Das Argument: Der Abschluss einer Haftpflichtversicherung ist in Deutschland freiwillig, insgesamt besitzen rund 15 Prozent der Bürger laut Statistischem Bundesamt keine. Für unversicherte Flüchtlinge gilt, was für jeden anderen Nicht-Versicherten in Deutschland auch gilt: Im Falle eines Schadens kann der Geschädigte auf seinen Kosten sitzen bleiben.


Die Versicherung bleibt ein Hindernis bei Fahrradkursen. Beim Frauen-Fahrradkurs „Integration erfahren“, den die Integrationslotsen Osnabrück anbieten, war die Versicherungsfrage auch entscheidend, erzählt Organisatorin Frauke Barske: „Mit der Versicherung steht und fällt das Projekt.“ Über eine Kooperation mit dem TSV Osnabrück seien die Frauen nun versichert. „Eine riesige Erleichterung“, bewertet Barske diesen Schritt. Schließlich fahren die Frauen am Ende auch im richtigen Verkehr. Viele Frauen, die teilnehmen, haben – anders als die Männer – noch nie zuvor auf einem Fahrrad gesessen. In vielen arabischen Kulturkreisen gilt es als Todsünde, wenn Frauen in die Pedale treten. Steigen sie jetzt aufs Rad, dann geht es um mehr als um Mobilität. Sie erstrampeln sich nicht weniger als ein Stück neue Freiheit.
https://www.noz.de/lokales/osnabruec...ery&0&0&974109