Die Balkanroute, erklären Politiker, sei dicht. Aber noch immer erreichen jeden Monat rund 15.000 Asylsuchende Deutschland – die meisten über die Balkanroute. Einer der wichtigsten Gründe dafür: EU-Mitgliedsstaaten wie Griechenland und Bulgarien sichern die Außengrenze bewusst nachlässig und winken Migranten entgegen den EU-Regeln weiter nach Mitteleuropa durch. Viele landen schließlich in Deutschland. Das zeigen Recherchen der WELT AM SONNTAG in Berlin und Brüssel.
Das Bundesinnenministerium erklärte offiziell: „Migrationsrelevante Feststellungen der Staaten entlang der Balkanroute sind ein Indiz für eine anhaltende Migrationauf dem Landweg aus Griechenland.“ Nahezu alle in Deutschland ankommenden Asylsuchenden seien zuvor in einem anderen Mitgliedsstaat gewesen. Statistische Auswertungen gebe es jedoch nicht.
Aus deutschen Sicherheits- und EU-Diplomatenkreisen heißt es, Griechenland mache falsche Angaben zur Zahl der Migranten im eigenen Land und täusche über das wahre Ausmaß der Abwanderung hinweg. Athen spricht von rund 62.000 Flüchtlingen auf dem Festland und den Inseln. Tatsächlich leben aber wohl nur noch rund 40.000 im Land – obwohl allein in diesem Jahr 20.000 neue Asylsuchende über die Ägäis hinzugekommen sind.

„Migrationsdruck in Richtung Deutschland weiterhin hoch“


Auf Anfrage erklärte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), man unterstütze in Griechenland nur 44.000 Migranten. Diese Zahlen würden der Regierung in Athen mitgeteilt. Laut Recherchen dieser Zeitung ist auch die Zahl der auf den Inseln in fünf sogenannten Hotspots untergebrachten Flüchtlinge offenbar geringer als die zuletzt von der Regierung ausgewiesenen 13.600. „Wir gehen von höchstens 10.000 aus“, sagte ein hoher EU-Beamter.
Laut dem Bundesinnenministerium hat Griechenland Mitte September eine Korrektur der „Zahl der auf dem Festland aufhältigen Migranten und Flüchtlinge“ angekündigt. Nachfragen der WELT AM SONNTAG in Athen blieben unbeantwortet. Die Regierung hatte in der Vergangenheit immer wieder beklagt, dass andere EU-Staaten weniger Migranten abnähmen als versprochen.
In internen Papieren deutscher Sicherheitsbehörden hieß es zuletzt deutlich: „In Griechenland ist der Migrationsdruck in Richtung Deutschland weiterhin unvermindert hoch.“ Durch die „anhaltenden verstärkten grenzpolizeilichen Maßnahmen an der griechisch-mazedonischen Grenze“ hätten „alternative Migrationswege“ an Bedeutung gewonnen.

Dazu gehörten insbesondere der Luftweg und die grüne Grenze zu Bulgarien. „Bulgarien ist neben Mazedonien vor allem für Migranten aus Afghanistan, Pakistan und Irak nach wie vor ein wichtiges Transitland auf ihrem Weg Richtung Westeuropa“, heißt es in einem Dokument. Die Hauptstadt Sofia diene als „Drehkreuz“. Das Migrationspotenzial der Flüchtlinge in der Türkei – vor allem von Nicht-Syrern – sei „grundsätzlich anhaltend hoch“.
Österreichs Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil beklagte eine neue Migrationsroute über die Slowakei. „Nach unseren Erkenntnissen entstehen auf dem Balkan neue Schlepperrouten“, sagte er. Entsprechende Erkenntnisse haben auch deutsche Behörden. Zuletzt wurden mehrere illegal Eingereiste im Osten Deutschlands aufgegriffen.
Hohes Dunkelfeld bei der illegalen Einreise

Europäische Behörden prüfen derzeit, inwieweit Migranten aus der Balkanregion, aus EU-Staaten oder direkt aus der Türkei nach Mitteleuropa kommen. Erwogen wird ein verstärkter Einsatz der EU-Grenzschutzagentur Frontex an der bulgarisch-türkischen Grenze. Die Behörden gehen von einem hohen Dunkelfeld bei der illegalen Einreise aus – auch aufgrund der „Korruptionsgefährdung der Grenzpolizisten“ dort. Bulgarien verfüge derzeit „nicht über die rechtlichen und faktischen Möglichkeiten“, dieser Entwicklung entgegenzuwirken.
CDU und CSU hatten sich in Gesprächen darauf geeinigt, dass die Aufnahme von Asylbewerbern jährlich nicht 200.000 übersteigen solle. 2017 wird dieser Wert wohl deutlich übertroffen. Das liegt zum einen an der aktuell hohen Zahl von Migranten, die per Familiennachzug kommen. Gleichzeitig addiert sich die akute Zahl von 15.000 Asylsuchenden pro Monat auf jährlich etwa 180.000. Am Montag hatte sich CSU-Chef Horst Seehofer aus rechtlichen Gründen gegen strikte Zurückweisungen an der deutschen Grenze ausgesprochen.
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