Die Stuttgarter Zeitung startet eine Kampagne:

Unterschriftenaktion in Tamm
Perfekt integriertem Afghanen droht Abschiebung


Mubarak Shah Qasim nimmt sein Schicksal gern in die eigene Hand. Foto: factum/Granville
Er spricht gut Deutsch, obwohl er keinen Kurs besuchen darf. Er hat in Tamm vom ersten Tag an nach Arbeit gefragt und könnte eine Ausbildung beginnen. Doch Mubarak Shah Qasim soll abgeschoben werden. Der Ort wehrt sich dagegen.

Tamm - Der junge Mann hat unglaublich dunkle Augen und unglaublich dichtes schwarzes Haar. Sein Gesicht ist freundlich und drückt die unbändige Lebensfreude und Energie aus, für die er in Tamm bekannt ist. Dabei hat Mubarak Shah Qasim Dinge erlebt, die außerhalb jeglicher Vorstellungskraft eines Mitteleuropäers liegen. Er ist 60 Tage durch Asien und Europa gelaufen. Seine Familie wurde in der Heimat von Taliban bedroht, Freunde wurden ermordet. Er wurde auf der Flucht bestohlen und hat auf dem Mittelmeer um sein Leben gebangt. Seit Monaten hat Qasim keinen Kontakt mehr zu seiner Familie.
Immerhin ist der "junge Mann" angeblich 30 Jahre alt, ich schätze sogar, dass er älter ist, denn man erkennt im Bild nicht nur die Schläfenpartie, sondern auch, dass die Wangen bereits ein wenig hängen und der Hals bereits Zeichen des Alterns aufweist. Mit 30 sieht man so alt nicht aus.

Der Schreiber auf jeden Fall gerät ins Schwärmen über die unglaublich dunklen Augen und das unglaublich dichte, schwarze Haar. Über das freundliche Sicht des Afghanen, der eine unbändige Lebensfreude und Energie ausdrückt, für die er angeblich bekannt sei in Tamm.

Und auch bei diesem Afghanen handelt es sich um einen Spezialisten, der angeblich geflohen ist, seine Familie aber zurückgelassen hat.

Die Heroengeschichte geht weiter, bei Tee und Keksen, an denen er "knabbert":

Jetzt sitzt der 30-Jährige im Wohnzimmer von Lizzy Jöckel in Tamm, trinkt grünen Tee und knabbert an den selbst gebackenen Keksen. Zwischen der liebevoll eingerichteten Reihenhauswohnung und dem zerstörten Elternhaus in Kundus liegen Welten. Und doch ist Mubarak Shah Qasim längst angekommen in der Realität in Deutschland. Bereits am ersten Tag in der Flüchtlingsunterkunft in Tamm ist er auf den Arbeitskreis „Tamm aktiv für Flüchtlinge“ (Taff) zugegangen und hat gesagt: „Ich will etwas arbeiten. Egal was, ich will einen Beitrag leisten.“
Den Tee trinkt er jetzt ohne Zucker

Mit seiner herzlichen Art hat er offene Türen eingerannt. Macht bei Fahrradtouren mit und findet Freunde. Lizzy Jöckel schmunzelt, als Qasim im Tee rührt – ohne Zucker, anders als es in seiner Heimat üblich ist. „Das hast du bei uns gelernt“, lächelt die engagierte Helferin. Qasim lächelt zurück. Schnell wurde ihm ein Ein-Euro-Job beim Bauhof der Gemeinde vermittelt. Die Mitbewohner in der Flüchtlingsunterkunft lachen ihn aus: Arbeiten für einen Euro, bist du dumm? Qasim antwortet ihnen: „Ich mache das. Ihr werdet schon sehen, es zahlt sich aus.“
Als Vermessungshelfer beim Stadtrat. Da gab es wohl eine offene Stelle:

Der 30-Jährige ist fleißig, kurze Zeit später hat er einen Halbtagesjob, und nun schauen die Mitbewohner verdutzt. Doch Qasim will mehr. Er will Deutsch lernen, obwohl er als Afghane keinen offiziellen Integrationskurs besuchen darf. Also paukt er bei den ehrenamtlichen Sprachcoaches von Taff. Und er heuert beim Ingenieurbüro des Bietigheimer CDU-Stadtrats Axel Westram als Vermessungshelfer an: „Die Arbeit macht mir unglaublich Spaß.“
Vor zwei Jahren wäre das alles undenkbar gewesen. Vermessungsgehilfe, Ein-Euro-Job, Tee ohne Zucker im Reihenhaus? Damals ging es für Mubarak Shah Qasim ums nackte Überleben. Er lebte nahe Kundus. Der Stadt, die von der Bundeswehr mühsam wieder aufgebaut und nach ihrem Abzug zwei Mal vorübergehend von den Talibankämpfern erobert wurde. Am 18. August 2015 wurde das Dach des Elternhauses zerstört. Qasim hatte für die US-Armee gearbeitet – und musste seine Arbeitskleidung auf dem Heimweg verstecken, um nicht zur Zielscheibe zu werden.
Wohlgemerkt, all diese Angaben beruhen nur auf den Erzählungen des Afghanen. Was nun mit dem Dach seines Elternhauses wurde, erfahren wir nicht, auch nicht, was aus seinen Eltern wurde und auch nicht, was aus seiner Frau und seinem Nachwuchs wurde. Oder ist er mit immerhin damals angeblich 28 Jahren nicht verheiratet?

Auf dem Mittelmeer hatte er Todesangst

Die Familie beschließt: in Kundus ist es nicht mehr sicher. Getrennt verlassen sie die geliebte Heimat, der Bruder, der Vater und Mubarak Shah Qasim. Der 30-Jährige macht sich mit seinem Pass auf den Weg. Er läuft und läuft und läuft. Durch Pakistan, den Iran. Bezahlt viel Geld, um über die Grenze zu kommen. Er läuft durch die Türkei, durch Griechenland. Lizzy Jöckel schüttelt den Kopf, wenn er davon erzählt: „Und wir nehmen Dich jetzt zu Wanderungen auf die Schwäbische Alb mit. Verrückt.“


An der Grenze zur Türkei nehmen ihm Schleuser den Rucksack und den Ausweis ab. Mit einem acht Meter langen Boot, auf dem 66 Menschen sitzen, geht es übers Mittelmehr. „Ich dachte, ich bin tot“, sagt Qasim, und man meint, die Tiefe des Meeres und den Abgrund an Todesangst in seinen dunklen Augen zu sehen. Und doch ist im nächsten Moment keine Spur mehr davon zu sehen, wenn er lächelt.
Orientalische Geschichten finde ich sehr interessant, weil sie den Geschichten der Menschen im frühen Mittelalter, die dann teilweise zu Märchen und Legenden wurden, gleichen. Da hat ein Ritter einen Drachen erlegt und eine Jungfrau gewonnen. Die moderne Variante dieser Geschichten ist die eines des Weges kommende Auto, in das man mitten in der Nacht einsteigt und das einen dann nach sieben Stunden Schlaf - als man aufwacht, zeigt das GPS des Handys plötzlich "Deutschland" an - wie durch ein Wunder in das Traumland Deutschland bringt. Das Wort "Deutschland" kennt der Held aber nicht.



Die Odyssee geht weiter. In Mazedonien läuft er die Gleise entlang. Zehn, elf Stunden am Tag, besteigt einen Bus nach Serbien, strandet an der ungarischen Grenze. „Almanya“, sagt er, sei sein Ziel. Das Wort kennt niemand. „Germany“, lernt er, heißt das auf Englisch. Irgendwann ist Qasim in Budapest. Er steigt mitten in der Nacht in ein Auto ein, fährt sieben Stunden. Als er aufwacht, zeigt das GPS seines neuen Handys an: „Deutschland“. Doch das Wort kennt Qasim nicht. Er sagt zu zwei Polizisten, die er trifft: „I want to go to Germany.“ Die Beamten beginnen zu lachen: „Sie sind in Passau. In Germany, Sie sind da.“ Mubarak Shah Qasim ist sprachlos, er lacht und weint, er kann es nicht fassen: Er ist endlich da. Seither hatte er kaum Kontakt zur Familie, der Vater ist in Kabul, der Bruder in der Türkei gestrandet. Aber er ist sicher.
http://www.stuttgarter-nachrichten.d...f8c96a059.html

Die Kampagne geht auf der Seite 2 weiter:

Hier könnte nun die Geschichte zu Ende sein, konstatiert der Zeitungsschreiber.

Hier könnte die Geschichte zu Ende sein. Mubarak Shah Qasim könnte ein neues Leben beginnen, arbeiten und Steuern zahlen, eine Ausbildung als Vermessungstechniker beginnen, eine Familie gründen. Und in einigen Jahren mit Lizzy Jöckel auf die verrückte Zeit anstoßen, die sie miteinander erlebt haben.
Also offiziell hat er zumindest im Moment noch keine Frau.

Aufgrund eigener Angaben wird die Geschichte weitererzählt. Die Begründung, warum die "Anhörung schlecht lief", erfährt der Leser kurz und knapp: Der Dolmetscher war unqualifiziert und der Anwalt überfordert.

Und wir lesen an dieser Stelle, dass die Deutschkenntnisse dann doch nicht so gut waren. Noch nicht einmal B2. Das reicht nicht für den Alltag und auf keinen Fall für einen Beruf.

Doch die Realität ist eine andere. Denn sein Asylantrag wurde im März abgelehnt. Die Anhörung läuft schlecht, die Dolmetscherin gibt vieles nicht richtig wieder, der zuerst eingeschaltete Anwalt ist überfordert. Die Kopie des Ersatzausweises liegt im Bundesamt für Migration,irgendwo. Qasim müsste eine Deutschprüfung der Kategorie B2 absolvieren, um seine Ausbildung beginnen zu können, was ohne Integrationskurs schwierig und teuer ist.
700 Unterschriften wurden gesammelt, angeblich der ganze Ort, wobei ich eher vermute, eine halbe Fraktion:

Ein ganzer Ort kämpft für Qasim

Lizzy Jöckel und ihre Mitstreiter sammeln 700 Unterschriften. Die Tammer CDU-Chefin und der Bietigheimer Stadtrat Axel Westram setzen sich für Qasim ein – mitten im Bundestagswahlkampf übergeben Jöckel und Qasim die Unterschriften an Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). Nach einigen Wochen kommt ein Brief. „Der Minister hat Ihre Ausführungen zur Kenntnis genommen“, heißt es darin, „aber Rückführungsmaßnahmen sind richtig und notwendig“. Es geht um Politik, um Wahlkampf, die AfD, um Abschreckung, Abschiebungen und die Ängste der „besorgten Bürger“, um Grundsätzliches. Doch Lizzy Jöckel und ihren Mitstreitern geht es um ihren Freund Mubarak.
Aber notfalls bleibt dem Afghanen noch die Härtefallkommission und wenn das schiefgehen sollte, das Kirchenasyl:

Sie wollen kämpfen. Die Öffentlichkeit mobilisieren. „Straftäter können nicht abgeschoben werden, aber Menschen wie Qasim – das stimmt einfach nicht“, sagt sie. Sie wendet mit Hilfe seiner neuen Anwältin ab, dass er eine Duldung bekommt, denn dann dürfte er nicht arbeiten. EineKlage vor dem Verwaltungsgericht läuft und liegt auf Halde, wie Zehntausende.
Der junge Mann verliert nie seine Lebensfreude

Bis die Klage entschieden ist, hofft und wartet Mubarak Shah Qasim. Notfalls bleibt noch die Härtefallkommission des Innenministeriums. Manchmal hilft es, wenn sich ein ganzer Ort für einen integrierten Flüchtling einsetzt. Wie in Tamm.
Und es deutet sich auch an, dass der Afghane bereits eine Familie hat, die dann vielleicht irgendwann nach Deutschland kommt. Ganz sicher:

Bis dahin verliert der junge Mann vor allem eines nicht: seine Lebensfreude und seinen Optimismus. Natürlich vermisst er seine Familie. Ob sie je nach Deutschland kommen kann, ist unsicher. Mubarak Shah Qasim hadert nicht mit seinem Schicksal. „Ich habe unglaubliches Glück“, sagt er, „ich lebe, ich bin sicher und ich habe Arbeit. So ist mein Leben etwas wert.“
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