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    Folgen gesellschaftlicher Verrohung sind dramatisch

    Die Folgen gesellschaftlicher Verrohung sind dramatisch

    Neulich beim Frühstück anderthalb Seiten "Dialektik der Aufklärung" gelesen und festgestellt: gar kein schlechtes Buch. Sollte man öfter lesen, aber man kommt ja morgens zu nichts mehr, weil man erst einmal all die Blödsinns-E-Mails aus dem Nachtspeicher löschen muss. Schade, dass es die "Dialektik der Aufklärung" nicht als knackige App gibt.
    Stehen echt Hammersätze drin. Beispiel: "An der rätselhaften Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen, in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten, an ihrer selbstzerstörerischen Affinität zur völkischen Paranoia, an all dem unbegriffenen Widersinn wird die Schwäche des gegenwärtigen Verständnisses offenbar." Gut, der Satz ist zu lang für eine App. Aber trotzdem Hammer.
    Man muss nicht Kulturpessimist zu sein, um den Verdacht zu hegen, dass das Projekt Aufklärung gerade wieder einmal dabei ist, in sein Gegenteil umzuschlagen. Das 21. Jahrhundert wird seit dem 11. September 2001 geprägt von zwei Strömungen: Die eine ist ein radikaler Islamismus, der sich als Opposition gegen all das definiert, was der Westen für Errungenschaften der Aufklärung hält.

    Die zweite ist die Reaktion des Westens auf den islamistischen Terror – und auf globale Transformationsprozesse, die traditionelle Identitätsvorstellungen infrage stellen. Stichwort: Migration. In seiner Reaktion auf diese Erschütterungen scheint der Westen selbst zunehmend bereit, sein aufklärerisches, "abendländisches" Wertegerüst zu zertrümmern.
    Wer sind wir noch? Was bleibt von uns?

    Beschleunigt wird die lustvolle Selbstdekonstruktion durch massive identitäre Verunsicherung: Wer sind wir noch? Was bleibt von uns übrig? Der Zweifel schlägt sich nieder als Entfesselung des politischen Diskurses. Aktuelle Trending-Topics: "#Verdummung" und "#Verrohung".
    W
    Zunächst enthemmte sich das Reden in obskuren Internetforen, dann zog es in die sozialen Netzwerke und Kommentarspalten der Medien. Ein anschwellender Bocksgesang, der alles abräumen möchte, was unser Gemeinwesen trägt: Parlamente, Medien, Institutionen und ihre Repräsentanten. Der dünne Firnis der Zivilisation wird munter abgeschabt.Der destruktive Charakter, sagt Walter Benjamin, will Platz schaffen. Wofür, weiß er nicht. Als gäbe es ernsthaft etwas Besseres. Das Prinzip Verantwortungslosigkeit hat inzwischen die Wahlkämpfe erreicht. Trumps Kampagne ist dafür ebenso beredtes Beispiel wie Teile der Debatte um den Brexit. In beiden dominiert die Verächtlichmachung des anderen. Es ist ein Hass-Sprechen, das Hass-Taten gebiert.
    Es folgt eine kurze Zusammenfassung der gröbsten zivilisatorischen Aussetzer der letzten zehn Tage, denn man vergisst ja inzwischen alles so schnell, auch die Gräuel. Man wirft die Orte und die Täternamen durcheinander, weil es zu viele sind, von den Motiven gar nicht zu reden. War das jetzt ein Psychopath? Ein Islamist? Ein Rechtsradikaler? Oder alles zusammen?
    Mateen, Abballa und die Hooligans

    Omar Mateen, 29, metzelte am 12. Juni in einem Gay-Klub in Orlando 50 Menschen nieder. Mateen erklärte sich zum IS-Kämpfer. Reale Kontakte zu der Terrorgruppe hatte er offenbar nicht. Er fotografierte sich aber gern mit dem Handy vor dem Spiegel und trug dabei T-Shirts der New Yorker Polizei.

    Einen Tag später tötete der 25 Jahre alte Franzose Larossi Abballa im Pariser Vorort Magnanville den Polizisten Jean-Baptiste Salvaing und dessen Frau Jessica Schneider. Abballa filmte sich während der Tat und erwog, das dreijährige Kind des Paares ebenfalls zu ermorden, bevor die Polizei ihn erschoss.

    Zeitgleich begann in Frankreich die Fußballeuropameisterschaft. Vor den Stadien verprügelten sich Hooligans der Teilnehmerländer, um die "wahre Nummer eins in Europa" zu ermitteln. Besonders taten sich dabei Russen, Briten, Kroaten, Polen und Deutsche hervor. Der russische Sportminister (sic!) lobte "seine Jungs" für ihren Einsatz. Die Kroaten verprügelten sich gleich selbst. Das einzige europäische Projekt, das momentan unter Europäern Begeisterung auslöst, ist das, sich gegenseitig möglichst fest aufs Maul zu hauen.
    Unterdessen formulierte Donald Trump seine sicherheitspolitische Antwort auf Orlando: Die Klubbesucher hätten höhere Überlebenschancen gehabt, wenn sie Waffen getragen und zurückgeschossen hätten. Trump empfiehlt die Saloonschießerei, wie man sie aus Roberto-Rodríguez-Filmen kennt.
    Weimar-Vergleiche sind nicht mehr allzu weit hergeholt

    Am Ende sind alle tot. Bei der SA hieß das in den Dreißigerjahren "Saalschlacht". Die Folgen kennt man, wenn man Geschichte nicht abgewählt hat. Mit Weimar-Vergleichen ist man oft zu schnell bei der Hand, aber inzwischen kommen sie von nüchternen Naturen wie dem Historiker Paul Nolte.
    Der Soziologe Stephan Lessenich spricht derweil vom eingebildeten Abstieg einer Mitte, die sich radikalisiere. Vielleicht besteht die Einbildung aber auch darin, dass die Radikalisierten glauben, sich noch in der Mitte zu befinden.
    In Deutschland empfiehlt sich eine Partei als Alternative, die etwas gegen "raumfremde" Nachbarn hat und die erst einen Gutachter bestellen muss, um herauszufinden, ob ein Parteimitglied, das die "Weisen von Zion" für ein thesenstarkes Sachbuch hält, Antisemit ist.

    Am Freitag vor einer Woche wurde die Labour-Abgeordnete Jo Cox in ihrem Wahlkreis in Yorkshire von einem Mann bestialisch ermordet, der "Großbritannien zuerst" grölte, bevor er die 42 Jahre alte Mutter zweier Kinder niedermetzelte.
    Die Kontrolle verloren haben sie nur über sich selbst

    Fragte man einen unerschütterlichen Idealisten, wie eine vernünftige Politikerin für unübersichtliche Zeiten wie die unsrigen beschaffen sein sollte, er zeichnete vermutlich eine Skizze, die Jo Cox ziemlich nahekäme: Sie war jung, engagiert, hatte sich aus eigener Kraft aus einfachen Verhältnissen nach oben gearbeitet und setzte sich in ihrem Wahlkreis für eine Wählerschaft ein, die nicht zu den Gewinnern der Globalisierung gehört.
    Sie redete Klartext, war dafür, Flüchtlingen zu helfen, und verstand die multikulturelle Gesellschaft als Chance, nicht per se als Bedrohung. Ermordet wurde sie von einem Nazi – oder von einem Irren mit Nazi-Magazin-Abo, das ist noch nicht geklärt.
    Ein 77 Jahre alter Mann versuchte vergeblich, die Frau zu verteidigen, die eine politische Hoffnung verkörperte. Das könnte ein Sinnbild für die Lage sein. Die Guten sind zu wenige und zu verletzlich. Beunruhigend viele Briten erliegen derzeit dem Irrtum, die Kontrolle verloren zu haben. Die Kontrolle über ihre Grenzen, ihre Nation, ihr Schicksal oder was auch immer. Die Kontrolle verloren haben sie aber nur über sich selbst. Und da sind sie nicht die Einzigen.

    http://www.welt.de/debatte/kommentar...ors_picks=true
    Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.
    Gustav von Rochow (1792 - 1847), preußischer Innenminister und Staatsminister

  2. #2
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    AW: Folgen gesellschaftlicher Verrohung sind dramatisch

    Der Soziologe Stephan Lessenich spricht derweil vom eingebildeten Abstieg einer Mitte, die sich radikalisiere
    Eingebildeter Abstieg? Wohl kaum. Jeder spürt am eigenem Bankkonto, dass am Ende des Geldes noch sehr viel Monat übrig ist. Natürlich muss man diese ganzen Dinge auch sehen wollen und die meisten Journalisten sehen es nicht, weil es nicht in ihre Ideologie passt. Die Zulassungszahlen für Neuwagen gehen seit Jahren deutlich zurück. Es mangelt den Käufern an Geld für einen Neuwagen. In den Medien klingt das ganz anders. Da heißt es, dass die Leute immer weniger Lust haben, sich ein neues Auto anzuschaffen.
    Die Mitte der Gesellschaft trägt das Land und wenn diese gesellschaftliche Mitte zu stark belastet wird, geht alles den Bach runter. Der Abstieg ist nicht eingebildet, er ist real.
    Alle Texte, die keine Quellenangaben haben, stammen von mir.

  3. #3
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    AW: Folgen gesellschaftlicher Verrohung sind dramatisch

    Zitat Zitat von Realist59 Beitrag anzeigen
    Eingebildeter Abstieg? Wohl kaum. Jeder spürt am eigenem Bankkonto, dass am Ende des Geldes noch sehr viel Monat übrig ist. Natürlich muss man diese ganzen Dinge auch sehen wollen und die meisten Journalisten sehen es nicht, weil es nicht in ihre Ideologie passt. Die Zulassungszahlen für Neuwagen gehen seit Jahren deutlich zurück. Es mangelt den Käufern an Geld für einen Neuwagen. In den Medien klingt das ganz anders. Da heißt es, dass die Leute immer weniger Lust haben, sich ein neues Auto anzuschaffen.
    Die Mitte der Gesellschaft trägt das Land und wenn diese gesellschaftliche Mitte zu stark belastet wird, geht alles den Bach runter. Der Abstieg ist nicht eingebildet, er ist real.
    Um auf die Neuzulassungen der Pkw zu kommen. Vor Jahren noch radelte ganz Vietnam und China mit dem Fahrrad zur Arbeit. Überfüllte Straßen voller Fahrräder. Der Fortschritt kam und die Asiaten stiegen um auf Mofas, Motorräder und auf Autos. Das wurde als ganz großer Fortschritt gefeiert. Fortschritt in Deutschland bedeutet eine Schlagzeile in der Zeitung, in der es heißt, viele Junge Leute wollten sich kein Auto mehr halten und stattdessen lieber Bahn fahren oder mit dem Fahrrad. Das Fahrrad ist ein ganz großer Fortschritt in einer Industrienation, die, nachdem sie mittlerweile fast alle Wirtschaftszweige abgestoßen und der Konkurrenz überlassen hat, vom Automobilbau lebt. Und das Fahrrad ist so eine bedeutende Innovation für Deutschland, dass dies mit Schaltungen aus japanischem Hause, den Shimano-Schaltungen bestückt ist. Selbst die Rahmen kommen aus Asien.

    Was sind wir Deutschen doch für Deppen, den Ast, auf dem wir sitzen, ohne Not und voller Euphorie selber abzusäbeln. Als ob es als Belohnung, wenn Marie dem Werner die Haare im Salon geschnitten hat, für beide ein Auto oder Fahrrad gibt.
    Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.
    Gustav von Rochow (1792 - 1847), preußischer Innenminister und Staatsminister

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