Foto: Michel Clementz
Vor dem Centre du monde, am 27. August 2015

Am Dienstag, den 3. November 2015, ist der Förderer der Héritiers de Dalí, der Erben Dalís, im Alter von 76 Jahren gestorben. Eine Woche später weiß es auch schon die Redaktion des Indépendant.

Héritier de Dali, Roger Michel Erasmy est mort. Erbe Dalís, Roger Michel Erasmy ist tot, sind die 17 Zeilen umfassende Nachricht im Internet überschrieben, 45 Zeilen DALI. Roger Michel Erasmy est mort heißt der Einspalter, Seite 5, oben, links, in der Ecke. Er findet eben noch Platz neben einem fast halbseitigen Artikel über den Prozeß zu einem Einbruch in einen Tabakladen im Dorf Villemolaque, im Dezember 2011. Beute damals 100€.



Seit 50 Jahren ist der Luxemburger Bewunderer des Künstlers. Dalí décodé nennt er seine Website, Dalí entschlüsselt. In guter surrealistischer Manier organisiert er bei vollständigem Desinteresse der Stadtverwaltung Perpignans seit 1984 Ausstellungen surrealistischer Künstler des Languedoc-Roussillon in Museen der Region und vor dem Bahnhof von Perpignan. Ab 1985 hält er in zahlreichen Städten Europas Vorträge über Salvador Dalí.

Um die strengen Kontrollen der Diktatur des Franco-Regimes zu umgehen, verschickt Salvador Dalí, der inzwischen aus seinem Exil in den USA, 1940 bis 1948, zurückgekehrt ist, seit den 50er Jahren seine Meisterwerke an die neue vermögende Kundschaft in den USA von Perpignan aus, vom nächsten Bahnhof Frankreichs, und während Gala, unvergleichliche Muse des Künstlers und kenntnisreiche Geschäftsfrau, sich um die Registrierung der Werke und die Zollformalitäten kümmert, inspiziert der Künstler eines Tages, im Jahr 1963, das Bahnhofsgelände. Dort entdeckt er auf einem Abstellgleis einen kleinen Waggon, den


"Ich hatte auf dem Bahnhof von Perpignan eine kosmogonische Extase. Ich hatte eine genaue Vorstellung der Beschaffenheit des Universums," erklärt der Künstler 1964. Der Waggon ist Teil der Extase.
Man sieht ihn oben, in der Mitte, des 406 x 295 cm großen Gemäldes Le mystique de la gare de Perpignan.


Seit der Zeit ist der Bahnhof das Zentrum der Welt, und endlich ist das nachgewiesen, was ich schon immer weiß: Wo ich bin, ist das Zentrum der Welt; ich wohne nur fünf Minuten entfernt.

1986 findet Roger Michel Erasmy den brühmten Wagon de Dalí wieder, und er weiß, was zu tun ist, er wird surrealistisch genutzt.
1995 gibt es unter seiner Leitung die Einweihung des zum "kleinsten surrealistischen Raum der Welt" erklärten Transportmittels auf der "
Ruta Daliniana
". Der Dalí-Waggon reist von einer Surrealistenveranstaltung zur nächsten durch Europa, darunter nach München, Nürnberg und Regensburg. Vom 4. bis 8. Dezember 2013 wird er zur 50-Jahr-Feier des Fundes
im Grand Palais von Paris ausgestellt
.

Seit 1995 finden zahlreiche Ausstellungen surrealistischer Künstler in Frankreich und in Europa statt, so 2004 in Lyon wo zehn Maler der Gruppe Héritiers de Dalí 50 Werke präsentieren.


Kein einziges Werk des Künstlers hat die Stadt erworben. Das berühmte Perpignan-Gemälde, von 1965, hängt wo? Richtig! In Deutschland, im Museum Ludwig. Die Stadt Perpignan will nichts zu tun haben mit Salvador Dalí. Seit 28 Jahren feiern Els Amics del Centre del Món, die Freunde des Zentrums der Welt, allein und kaum beachtet. Wo? In der Brasserie de la gare, am Bahnhof, wo ich oft einkehre zum Frühstückskaffee. Nie habe ich etwas davon mitbekommen. In der Brasserie steht eine surrealistische Skulptur des Künstlers, geschaffen von Pascal Suter, von ART K.

Er hat auch den Petit bonhomme geschaffen, den man auf dem Gemälde im Zentrum der Strahlen sieht. Als ich im März 2002 in Perpignan ankomme, thront er deutlich sichtbar oben auf dem Bahnhofsgebäude und verbreitet gute Laune. Anläßlich der Renovierung des Bahnhofs wird er abmontiert und ist seit der Zeit nicht mehr zu sehen. Die im Stil und in den Farben des Perpignan-Gemäldes gehaltene Wand- und Deckendekoration des Innenraumes ist zugunsten von Weiß beseitigt worden, ein kleines Rechteck unter der Decke erinnert an früher und wirkt deplaziert.

Auf Initiative des Bürgermeisters von Céret reisen Salvador Dalí und Gala am 27. August 1965 von dort im Triumph nach Perpignan. Dessen soll gedacht werden, und nun läuft die Stadtverwaltung zur vollen Form auf. Welch ein Glück, daß es sich beim 27. August 2015 um einen Donnerstag handelt, und so wird die Feier von den Jeudis de Perpignan vereinnahmt. An einigen Donnerstagen, im Juli und August jeden Jahres, findet für die Touristen allerlei Klamauk statt im ansonsten zunehmend verödenden Stadtzentrum, in dessen Straßen auf Grund der am Stadtrand wie Pilze aus dem Boden wachsenden Einkaufszentren bis zur Hälfte der Geschäfte geschlossen ist.

Dazu paßt Salvador Dalí auf einmal! Von Dalí-Freunden aus Figueres ausgeliehene überlebensgroße Puppen, die Gegants Dalí Gala, zwei Gaukler, die von weitem so aussehen könnten wie die beiden, in einer Pferdekutsche, die Bahnhofsstraße hinunter fahrend, entlang dem Dutzend Dönerläden und sonstigen, verrammelten Ladengeschäften, vorbei an dem Waggon, der nicht etwa vorm Bahnhof, sondern einen Kilometer entfernt aufgebaut ist, hinein ins bunte Touristentreiben des Centre Ville mit Bürgermeister und Abgeordneten aus Stadt- und Departementsrat. Hier das Programm:

L'arrivée triomphale! Die triumphale Ankunft!

Els Amics del Centre del Món begehen unabhängig davon, am 27. August, ab 16:21 Uhr, der Minute der Ankunft von Salvador und Gala, wie alljährlich das Blumenkohlfest in der Bahnhofshalle. Die Presse ist nicht zu sehen. Im Programm steht, daß der Bischof des Bahnhofs den Heiligen Blumenkohl niederlege, L'Archevêque de la gare. Pose du chou sacré. Jeder hat einen Blumenkohl mitzubringen, umwunden mit den katalanischen Farben, sie werden in der Halle deponiert und am Abend bei dem großen Surrealistenfest, in der Brasserie, für einen guten surrealistischen Zweck versteigert.

Ich bin dort mit meinem Kohl, von einem Bischof ist nichts zu sehen, wohl aber bei neugieriger Anteilnahme einiger Reisender vom Lobredner Lluis Colet eine lange Ansprache zum Ruhme des Salvador Dalí zu vernehmen. Der Redner ist notiert im Guinness Buch der Rekorde. Im September 2009 hat er sein Publikum 124 Stunden, mehr als fünf Tage und Nächte, auf Katalanisch unterhalten und damit den Rekord eines Inders gebrochen.

Wer jemals mit Indern in einer Konferenz war, deren Thema möglichst zerredet werden sollte, der weiß, was das heißt. Ich freue mich schon auf die Inder der Pariser Klimakonferenz.

Zum Grand Jour surréaliste bin ich angemeldet für ein Souper surréaliste, organisiert von den Amics del Centre del Món, in der Brasserie de la gare. Ich trete auf in meinem uralten T-Shirt aus Moskau “Oktober-Revolution”, daran geheftet meine Plakette von einst “Statt Jammer und Pichel, Hammer und Sichel”, die beiden Werkzeuge nicht in Worten, sondern aufgemalt, sowie mit kleinen Ansteckern Lenin als Baby (kein Witz!) und Usbekistan zu SU-Zeiten sowie Felix the Cat. Meine Hose wird gehalten von breiten roten Hosenträgern, auf denen russisch Perestroika – Glasnost steht. Ist das wohl surreal genug? Ich bringe dann noch ‘ne Schirmmütze “Die Wahrheit. Sozialistische Tageszeitung Westberlins” mit. Leider stehen mir solche Mützen nicht; sie bleibt in der Tasche.


Vorm Souper erfahre ich noch so allerlei. Der "kleinste surrealistische Raum der Welt" darf nicht vorm Bahnhof aufgestellt werden, weil der Eigentum der SNCF ist, sondern er muß auf einen städtischen Platz. Die Brasserie darf die Skulptur des Künstlers Pascal Suter an dem Tag nur nach Antrag und schriftlicher Genehmigung vor dem Haus aufstellen. Roger Michel Erasmy wird vollständig aus der Programmvorbereitung ausgelassen, An dem verlinkten Programm L'arrivée triomphale sieht man, daß der Spuk mit Salvador Dalí kaum etwas zu tun hat.


Zum Souper, es gibt Boles de Picolat, 'ne Art besser gewürzter Königsberger Klopse auf katalanisch, kommt auch Roger Michel Erasmy, ihn lerne ich dort kennen; er spricht deutsch so gut wie französisch. Die musikalische Unterhaltung besorgt eine katalanische Musikgruppe, manche Lieder werden gemeinsam gesungen. Die Blumenkohle liegen in der Ecke, zur Versteigerung kommt's nicht, sondern, wer will, sucht sich beim Abschied einen Kohl aus. Ich kriege einen schöneren, als meiner war, den schenke ich am nächsten Morgen Jacques, dem Besitzer meines Stamm-Cafés.


Für den 18. Dezember 2015 plant Roger Michel Erasmy ein neues Dalí-Ereignis, und dazu braucht er die Adresse von Lluis Colet; er hat sie verkramt, und so ziehe ich durch Perpignan, frage in der Brasserie, im katalanischen Buchladen und sonstwo diesen&jenen, der Lluis Colet kennen müßte. Es reicht bis zur Telefonnummer der Amics del Centre del Món, immerhin.


Heute lese ich, daß Roger Michel Erasmy, der Verfasser des Codex Dalianus, am Dienstag, den 3. November gestorben ist. Ich bin sehr traurig. Ruhe sanft, Roger!




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