Wandere aus, solange es noch geht - Finca Bayano in Panama!
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    Wien Hauptbahnhof - Budapest keleti oder die letzten Tage Europas

    Renate betrachtete sich im Spiegel des Badezimmers, ihre Haut milchfarben, weich, bereits erste kleine Spuren des Älterwerdens aufweisend, rotes Haar, das bis zu den Schultern reichte, grüne Augen ein nach ihrem Empfinden etwas zu schmal geratener Mund. Es war sie, ihr Körper, den sie stets als schön betrachtete, zumindest wenn sie einen guten Tag hatte. Dennoch schien es ihr, als würde sie eine Fremde im Spiegel sehen. Csaba hatte sie aus dem Alpdruck erlöst, der sie beinahe jede Nacht heimsuchte, sie im Schlaf aufschreien ließ.

    Eine Zeit lang nach dem Erwachen war sie noch im Bett geblieben, hatte gewartet bis Csaba wieder eingeschlafen war. Sie ließ Wasser in die Wanne laufen, Badeschaum war keiner vorhanden, nicht einmal Seife. Das Gefühl des behaglich warmen Wassers um ihren Körper könnte ihr dennoch gut tun, dachte sie, jetzt da der Durchlauferhitzer glücklicherweise Gas habe. Bald würde Melanie in der Küche sitzen und auf ihr Frühstück warten, bis dahin, dachte Renate, gehöre die Zeit ihren Erinnerungen von einem anderen Leben als diesem. Als sie in der Wanne saß, mit den Händen Wellen schlug, Wasser durch die Finger rinnen ließ, kamen die Erinnerungen an Wien, die gemeinsame Wohnung am Alsergrund in der Nähe der Markthalle, der Luster im Wohnzimmer, der Stuck des Stiegenhauses, die von den Großeltern übernommen Biedermeierkommoden. Jung, verliebt, sie und Csaba, zwei Jahre später Melanie. Ihre Eltern, die Melanie behüteten, wenn sie und Csaba es nicht konnten wegen der Arbeit oder weil sie Zeit für Gemeinsames zu zweit benötigt hatten. Ein Leben zwischen Wien, Leibnitz und hier in Győr, diesem Haus, das einst so liebevoll verspielt mit allem möglichen eingerichtet war und in seinem Überfluß mit Leben erfüllt war. Die Bilder von damals, die, so sehr Renate auch dagegen ankämpfte, langsam zu verschwimmen begannen zu einem undeutlichen Gemälde verwischter Konturen und verblassender Farben. Wirklichkeit war dieses Haus, das nun karg, bloß mit dem Notwendigsten bestückt, die kleine Familie bis zu einem ungewissen Tag beherbergte.

    „Mama“, Renate hörte die Stimme ihrer Tochter aus der Küche. Sie stieg aus der Wanne, trocknete sich ab, zog sich den Bademantel über. Melanie war früher als üblich aufgestanden. Renate betrachtete ihre Tochter, wie sie auf dem Sessel für Erwachsene saß, ihr braunes Haar wucherte wild auf ihrem Kopf, sie hatte Csabas blaue Augen. Melanie verlangte nach Kakao, doch Renate mußte ihr diesen Wunsch verwähren, goß Milch in den kleinen Emailtopf, hoffte, daß es Strom gab und sie den Herd einschalten konnte. Sie seufzte erleichtert als das Lämpchen am Herd zu leuchten begann als sie den Knopf drehte und stellte die Milch auf die Herdplatte.

    „Heute haben wir Strom.“ Melanie sprach seit einiger Zeit nur mehr Ungarisch mit ihrer Mutter, was Renate verstörte, da sie es zwar beherrschte aber nicht ausreichend, um alles zu verstehen, hatten sie doch bis vor zwei Jahren das Leben in Wien und Leibnitz verbracht und waren zu Csabas Familie hierher nur auf Besuch gekommen.

    „Hast unsre Sprache schon vergessen Schatzerl?“

    Melanie schüttelte den Kopf. „Aber jetzt sind wir doch im Papaland, also Papasprache.“
    Renate lachte. „Ja, jetzt sind wir im Papaland.“
    Sie stellte ihrer Tochter die heiße Milch in ihrem Lieblingsheferl auf den Tisch, legte ihr ein mit Margarine beschmiertes Brot auf den Teller mit der Comicschildkröte, den Csabas Mutter Zsuzsa der Enkelin einmal bei einem gemeinsamen Stadtbummel in der Pálffy Utca gekauft hatte. Sie hatten zu dritt einen Sommertag in der Innenstadt verbracht, in der Stelczer Lajos Eis gegessen, angeblich das beste der Stadt, waren danach gebummelt. Melanie konnte von dem Teller in der Auslage des Geschirrladens nicht lassen. Zsuzsa war sofort in den Laden gegangen, um ihn zu kaufen. Es schien Renate ein halbes Leben lang zurückzuliegen, es waren aber erst zweieinhalb Jahre seit jenem Sommertag vergangen. Das Geschäft gab es nicht mehr sowie den Eissalon.

    „Ich komm gleich zurück, Engerl.“

    Renate ging ins Schlafzimmer. Csaba saß an der Bettkante und blickte zu ihr hinauf. Sie betrachtete sein Gesicht mit verschwollenen Lidern und Abdrücken vom Polster in den Wangen, in Unterleibchen und Boxerhosen statt der Pyjamas, die sie in Wien hatten zurücklassen müssen. An seinen kahl rasierten Kopf konnte sich Renate nicht gewöhnen. Er hatte sich den Schädel rasiert an jenem Tag als Wien gefallen war.

    „Sie ist früh aufgestanden“, sagte Renate.
    „Ich weiß, sie ist in unser Bett gekrochen, aber du warst nicht da.“ Csaba erhob sich, kratzte sich den Hinterkopf. Im Zimmer roch es nach Schlaf, Renate öffnete das Fenster.

    „Ich habe nicht mehr liegen können. Dieser verdammte Traum... weißt du.“
    Csaba nahm sie in die Arme, drückte sie an sich. Renate spürte, wie sein Schnurrbart sich in ihren Nacken drückte. Der ihr vertraute Geruch, sein Körper, seine Haut, die ein wenig bleich, sich stets auf angenehme Weise weich anfühlte. Csaba war Geborgenheit, das einzig Beständige, ihr Begleiter durch diese entsetzlichen Zeiten.

    „Weißt du. Ich sehe immer dieses verrostete Schild am Waggon unseres Zugs am Hauptbahnhof. Du warst schon eingestiegen, du hast die Hand ausgestreckt... um uns raufzuziehen.“

    Das verrostete Schild Wien Hauptbahnhof mit einem durchgestrichenen Budapest keleti p.u., das man mit zittrigen Buchstaben zu einem Hegyeshalom gemacht hatte. Renate hatte dieses Schild angestarrt als die „Kämpfer des aufgehenden Erdtrabanten“ plötzlich in den Bahnhof gestürmt kamen und ihren Kampfruf „ahuahwah“ brüllend mit ihren Maschinengewehren wahllos zu schießen begonnen hatten. Die Menschen, die sich geduckt hatten und als das Schießen aussetzte zu Boden blickend zu den Zügen gegangen waren. Einer der Schergen hatte Melanie zwei Stockhiebe versetzt als sie noch am Trittbrett gestanden war, um in den Zug hinaufgezogen zu werden, je eine Hand von Renate und Csaba fest umklammernd. Der plötzliche stechende Schmerz, den Renate in jenem Augenblick durchfahren hatte. Die ganze Fahrt hatte Melanie unentwegt geschrieen und geweint. Weder sie noch Csaba hatten in ihrer Verzweiflung und ihrem bebenden Zorn etwas anderes vermocht als sie mit Tränen in den Armen zu wiegen. Die verängstigten Menschen, die aufgeatmet hatten als der Zug träge und schwer ins Rollen gekommen war. Der Schweißgeruch im Waggon, die unbeschreibliche Wut, die Verzweiflung und Csabas rote, feuchte Augen, sein heftiger Atem, die abgekämpften Polizisten und Soldaten des Bundesheeres in ihren zerfetzten Uniformen. Die unüberschaubaren Massen Geflohener in Hegyeshalom, der Weg durch sie hindurch, nur den Blick nach vorne gerichtet, Csaba, der Melanie auf den Armen getragen hatte. Wie durch einen schwarzen, dunklen Gang bis zum überfüllten Bus, der sie nach Győr gebracht hatte. Am vierten Tag nachdem Wien gefallen war.

    Renates Alpdruck endete stets mit den Schreien, die durch den Wiener Hauptbahnhof hallten als der dumpfe Druck einer Explosion den bereits in Fahrt befindlichen Zug kurz erbeben ließ.

    „Träumst du nie davon?“ fragte sie.
    „Ich träume gar nicht mehr seit damals!“, antwortete Csaba, „gar nichts mehr, ist alles schwarz. Ich denke immer nur daran wie unsere Kleine ausgesehen hat als wir hier angekommen sind. Die blauen Striemen auf ihrem kleinen Rücken...“, er kämpfte gegen die aufkommenden Tränen.
    „Es ist vorbei. Sie hat es irgendwie überwunden. Ich spür’s.“ sagte Renate. Sie löste aus Csabas Umarmung. Sie wußte, daß sie ihn bald im Badezimmer fluchen hören würde wie bereits die vergangenen Morgen, da weder Seife noch Rasierschaum, noch Duschgel vorhanden waren.

    Melanie biß in einen Apfel, der ihr Frühstück beendete. Ein Apfel aus dem Tausch mit den Nachbarn, Zwetschken aus Csabas Garten gegen Äpfel, Milch gegen Schnittlauch. Was gäbe sie, dachte Renate, für einen Hauch Kaffee. Ihr altes Leben, das Kaffeehaus Schnabl in der Nußdorferstraße. Zerstört von den Eroberern, dem Heer des „aufgehenden Erdtrabanten“. Gestank von verbranntem Fleisch war von der Straße in die Wohnung gedrungen. Renate hatte vom Fenster aus auf die Alserbachstraße geblickt, als Autos angezündet, die Markthalle und die kleinen Geschäfte von den Eroberern und den einheimischen Helfershelfern, dem Fußvolk der Partei der Gleichen und Gerechten, geplündert wurden unter Johlen und Grölen, „ahuahwah“. Die Massen an Fleisch aus den geplünderten Supermärkten, die sie auf die Straße geworfen und angezündet hatten. „Ahuahwah“. Den Nachbarn, den sie vor dem Haustor zu Tode getreten hatten, da er es nicht rechtzeitig geschafft hatte hinein zu gehen, sein Lebensgefährte, der sich Tags darauf in der Wohnung erhängt hatte. Melanie war mit ihrem Vater in der Abstellkammer gesessen und beide hatten getan als wäre es eine Art Versteckenspielen. Renate war nicht vom Fenster weggekommen, etwas zwang sie hinzusehen, in einer Art seltsamer Abstumpfung als beträfe sie das Geschehen nicht. Sie hatte den Drang die Geschehnisse aus der Ferne zu beobachten bis es dunkel geworden war und beklemmend still. Renate hatte sich vorgenommen, sich all das Grauen einzuprägen, es nie zu vergessen.

    „Verdammt!“ fluchte Csaba als er aus dem Badezimmer trat, ging in die Küche, setzte sich an den Tisch, strich seiner Tochter über das Haar.
    „Was machen wir heute?“ fragte er.
    „Du hast rote Flecken im Gesicht Papa.“
    „Kein Rasierwasser, keine Creme...“ seufzte er.

    „Wir gehen in die Stadt und schauen ob wir etwas auftreiben können.“ schlug Renate vor. Csaba hatte das Küchenradio aufgedreht. Serbien sei von der Völkerwanderung überrannt hieß es, Plünderungen und Zerstörungen. Der „aufgehende Erdtrabant“, die „Schwarze Armee“ sei ins Land hereingebrochen, sowie eine unüberschaubare Menschenmasse. Die Armee hieß es, würde Belgrad halten können.

    „Ich schau ob es Internet gibt drüben im Winzerverein.“, sagte Csaba, erhob sich und ging ins Wohnzimmer.

    Renate hob ihren Arm, roch unter ihren Achseln, für einen Gang in die Stadt würde sie nicht das kostbare Puder vergeuden, dachte sie. Renate zog sich das Kleid mit dem Blumenmuster an, rief Melanie zu sie solle sich anziehen und im Bad warten zum Frisieren. Melanie hatte wieder den grünen Latzanzug an, Renate bürstete ihr das Haar.
    „Zopf?“
    „Ja, Zopf.“

    „Gut so?“, fragte Renate und hielt ihr den Handspiegel hinter den Kopf, damit sie ihren Zopf im großen Spiegel sehen konnte. Melanie nickte.

    Als die beiden die Tür hinter sich schlossen wartete die Nachbarin Ilonka Sípos bereits auf eine Unterhaltung. Ob die Äpfel aus ihrem Garten schmeckten, ob sie Nachricht aus Österreich auch von den Eltern habe. Renate bemühte sich mit ihrem Ungarisch, wobei Melanie immer wieder aushelfen mußte, was ihr großes Vergnügen bereitete. Aus der Steiermark habe sie nichts mehr gehört, ihre Eltern seien in Leibnitz, sie habe noch keine Möglichkeit Kontakt aufzunehmen und große Sorgen. Wie bei jeder Unterhaltung bekräftigte Ilonka auch diesmal ihre Hoffnung, sie und ihr Mann es zu ihrer Nichte nach Cincinnati zu schaffen, gleich einem Gebet, das sie stets vor sich her sprach, damit der Wunsch in Erfüllung gehe. Ihr Mann Andor schien zunehmend teilnahmslos, abgestumpft, antwortete nur kurz auf Renates Grüßen und zog sich in sich selbst zurück.
    „Ich muß mich wieder um ihn kümmern.“ sagte Ilonka und ging in ihren Garten.

    Renate erinnerte sich an das große Fest vor zwei Jahren im Garten der Sípos’, wo sie alle versammelt waren, sie Csaba, Melanie, ihre Schwiegereltern Zsuzsa und Béla. Grillen, ein sich unter den angerichteten Speisen biegender Tisch, Wein. Ein anderes Leben, das zwischen Wien, Leibnitz und Győr in zumeist guten Schwingungen verlief. Ein stets vollgestopfter Kofferraum, da sie entweder Geschenke brachten oder mitnahmen.

    „Wo sind eigentlich die györer Oma und Opa?“
    „In Argentinien, Schatzerl.“
    „Dort gehen wir auch hin?“
    „Ja, sobald wir das Visum haben.“
    „Dort wo der Onkel Bence auch ist?“
    „Ja genau.“

    Csabas Bruder, der bereits ihre Schwiegereltern holen durfte. Renates Hoffnung, daß alle dort vereint sein würden, einschließlich ihrer offenbar in der Steiermark festsitzenden Eltern, auf deren Nachricht sie sehnsüchtig wartete. Die Straße schien Renate unheimlich. Es gab schon lange keine gelben Busse mehr, Autos waren nur selten zu sehen. Es war beklemmend still. Vereinzelt kamen ihnen ein paar Menschen entgegen. Renate und Melanie erschraken als ein einzelner Lieferwagen vorbeifuhr und die Stille durchbrach.

    Sie überquerten die Kossuth-Brücke in die Altstadt. Die vor Jahren liebevoll instand gesetzten barocken Häuser mit den roten Ziegeldächern glichen der Kulisse in einem Theater, das die Zuschauer und Schauspieler nach der Aufführung längst verlassen hatten. Renate konnte sich nicht an die vielen geschlossenen Geschäfte gewöhnen, deren Waren und Dekorationen aus den Auslagen verschwunden waren. Vor jenen wenigen, die geöffnet hatten, standen Menschenschlangen. Vor einem Restaurant stand eine Tafel, auf der mit Kreide zwei Speisen, daneben deren unglaublich hoher Preis geschrieben standen. Die Kellnerin saß an einem der Tische, die draußen vor dem Lokal auf Gäste warteten und drückte an einem Multifunktionstab herum und fluchte.

    In der Jédlik Ánjos ut stellten Renate und Melanie sich in die Schlange vor einem Verteilerladen für Seife, vor dem großen Sturm auf Europa eine der feinsten Parfumerien der Stadt, in der man die Bukets der Düfte noch sachte wahrnehmen konnte. Das ernste Gesicht der Verkäuferin, kein Gruß, keine Frage nach dem Wunsch, kein bedanken. Man verlangte nach einer Anzahl Dekagramm, die sie von einem Pflock Seife herunterschnitt, abwog, in graues Papier wickelte und den Kunden teilnahmslos aushändigte. Geduldig standen die Menschen in der Schlange, stumm, blickten zu Boden oder zu der leeren Auslage eines ehemaligen Schuhgeschäftes.

    Während der Zeit des Anstellens hielt Melanie ihre Arme um die Hüften ihrer Mutter geschlungen. Renate erhielt schließlich einen schiefen Würfel in grauem Papier. Melanie, nahm ihr das klobige Packet aus der Hand, roch daran, fischte aus der Handtasche ihrer Mutter das abgegriffene Plastiksackerl, ließ den Seifenwürfel hineinfallen wickelte das Sackerl um den Würfel und steckte das Packet wieder zurück in die Tasche. Die Seife rieche nicht besonders, meinte sie.

    Sie gingen zum Szécheny Tér, der große, weite Platz, hell und klar unter der Septembersonne, der unglaublich blaue Himmel, die Sankt Ignatius-Kirche in strahlendem Weiß. Die unheimliche Stille, die gespenstische Leere des früher lebendigen Platzes voller Geräusche, Menschen, Geschäfte und Gaststätten. Der prägendste Platz der Stadt, wo oft Bühnen für Konzerte aufgestellt wurden, der Weihnachtsmarkt stattgefunden hatte. Wenige Menschen bloß durchquerten ihn, zu Boden blickend. Renate empfand den Platz mit seinem Schweigen beklemmend, war er doch voller Erinnerungen an Leben.

    „Magst Wetterschauen?“ fragte sie Melanie, die kurz nickte. Sie begaben sich zur Karmeliterkirche, deren Barock all dem bedrückten Stummsein etwas Verspieltes entgegensetzte, gingen weiter bis zur grün angestrichenen kleinen Wetterstation mit spitzem Dach. Melanie begutachtete die runden Meßinstrumente, kniff dabei die Augen zusammen und murmelte die von den Zeigerspitzen berührten Zahlen.

    Damals in Wien hatte Melanie ihre Neigung zu Wettermeßgeräten entdeckt, woraufhin Csaba eines Abends eine Wetterstation mit Holzvertäfelung für das Wohnzimmer gekauft hatte. Melanies Begeisterung, ihre nachgerade ekstatische Freude an den verschiedenen Anzeigen. Csaba nicht kahl geschoren sondern mit für Renates Geschmack bereits zu langen Haaren, die dicht und fest nach hinten gekämmt über die Ohrläppchen reichten. An jenem Abend war ihr Csabas Frisur besonders aufgefallen und sie war ihm durchs Haar gefahren mit dem Vorschlag ein wenig kürzer wäre besser.

    Nachdem Melanie mir ihrem Wetterschauen fertig war, gingen sie hinunter an die Uferpromenade der Raab, setzten sich auf eine Bank. Sie hätten sich vorher etwas zum Naschen besorgt, wären es die frühere Zeiten. Eineinhalb Jahre in diesem Ausnahmezustand zehrten an Renates Seele, auch an ihrem Körper, ihre ständige Anspannung, ihre Flüchte in Erinnerung und die Ernüchterung der Gegenwart, ihre Gesundheit begann langsam ein wenig zu schwächeln. Melanie, so schien es, nahm die Umstände leichter, oder ob sie nur den Anschein wahrte, um ihnen Kummer zu ersparen? Renate traute dies ihrer Tochter zu, die sich gerade an sie lehnte.

    Renate sah zu der Sitzbank ein Stück weiter neben ihnen. Eine Frau saß zusammengekauert und ein Mann hielt den Arm ums sie, als die Frau plötzlich einen Schrei ausstieß. Renate stand auf, nahm Melanie bei der Hand und ging zu den beiden, sagte auf Ungarisch ob sie helfen könne. Der Man blickte zu ihr auf, runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und antwortete auf Deutsch mit stark Wienerischem Einschlag „ich verstehe nicht, tut mir leid.“

    „Ob ich helfen kann...“ wiederholte Renate in ihrer Sprache.
    „Nein, danke. Meiner Frau geht es bereits besser. Sie sollte ein wenig raus an die Luft und hier am Flußkai...“
    Er begann zu weinen.
    In Wien hätten sie einen Installationsbetrieb gehabt bis der „aufgehende Erdtrabant“ und auch die „schwarze Armee“ die Stadt eingenommen hatten. Sie hätten eine Zeit lang ihre Wohnung nicht verlassen, aber dann sei es doch unvermeidbar gewesen wegen notwendiger Besorgungen. Stets vorsichtig am Schwarzmarkt...
    „Der am Schwedenplatz?“ warf Renate ein.
    „Nein der bei der ehemaligen UNO-City, wir wohnten drüber der Donau“, fuhr er fort.

    Man habe überlebt wenn man kaum die Wohnung verlassen habe, aber als sie die Meldedaten durchgegangen seien, hätten sie alle geholt, die ihnen nicht genehm gewesen seien, Besitz gehabt hätten, oder aus anderen meist willkürlich erfundenen Gründen. Auch seine Frau sei geholt worden, man habe gezwungen zuzusehen wie ihr Bruder bei lebendigem Leibe gepfählt worden sei auf der Praterwiese. Hunderte seien es gewesen auf den Pfählen. Frauen müßten sich verhüllen, man dürfe keine Strähne sehen. Ihn selbst habe man geholt und geschlagen, ihn ohnmächtig auf der Straße liegen lassen, er sei neben drei Leichen aufgewacht. Ein mitfühlender Mensch habe ihn aufgelesen und nach Hause gebracht.

    „Sie morden, plündern. Am den Gittern der Hofburg werden abgeschlagene Köpfe aufgespießt... regelmäßig werden welche abgeholt und dorthin geführt, um das anzusehen, sie zwingen einen hinzuschauen. Die Schlimmsten sind unsere eigenen Landsleute Kollaborateure oft von der Partei der Gleichen und Gerechten, aber nicht nur. Die haben eine Spitzelstruktur aufgebaut und klatschen wenn sie einen abholen und bei den Hinrichtungen...“

    „Es tut mir so leid, wenn ich was tun kann...“ Renate rang nach Worten. Melanie starrte stumm zu Boden.

    „Nein, es geht schon, wir haben ein Zimmer im verlassenen Hotel dort drüben in der Altstadt. Sind lauter gestrandete Österreicher. Hier ist es auch bald...“ der Mann brach seine Erzählung ab. Er hob seine Frau von der Bank. Sie schlang ihren Arm um seinen Hals. Sie entfernten sich umschlungen mit langsamen, unbeholfenen Schritten.

    „Mama, wann sind wir in Argentinien?“, fragte Melanie mit leiser, stockender Stimme.
    „Bald, Schatz! So Gott will!“, antwortete Renate, die einen Anflug schlechten Gewissens hatte. Sie waren nach dem Fall Wiens in einem der letzten Züge geflohen, hatten eine Bleibe im Gegensatz zu all jenen Landsleuten, die in der Hölle verbleiben mußten, gar darin umkamen.

    „Gehen wir nach Hause.“ seufzte Renate. Melanie ließ ihre Hand den ganzen Weg über nicht los. Renate dachte, was sie dafür gäbe ein wenig vom früheren Alltag leben zu dürfen, in Wien, in Leibnitz bei ihren Eltern, oder hier. Sie liebte ihre Erinnerungen. Die Tage jetzt hingegen, reihten sich in Angst, Stumpfheit und erdrückender Trostlosigkeit aneinander. In einer einst blühenden Stadt, die leblos geworden, sich schweigend ihrem Schicksal ergab. Eine Heimat Österreich und Wien die es nicht mehr gab. Hier stand das gleiche Schicksal des gesamten sterbenden Erdteils bevor, allein gelassen, von den eigenen Machthabern, seltsamen Parteien und Geldgierigen in den Tod getrieben. Renate dachte an die Bilder, die in den allerletzten Ausgaben der Zeitungen das Ausfliegen der Regierenden in längst vorher vereinbarte Exile in Übersee zeigten.

    Csaba war noch nicht zurück als die beiden das Haus betraten. Renate ging in den Garten, um Salat zu ernten. Melanie, nahm ein Tierbuch legte sich auf den Teppich im Wohnzimmer und blätterte darin.

    „Verdammt“ fluchte Renate, als sie feststellte, daß das Wasser in der Küche nur braun und spärlich rausblubberte. Sie legte das Häupl Salat neben das Spülbecken, trat gegen den Küchenkasten, setzte sich auf den einzigen Küchensessel, vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Nicht mehr so leben...“

    Renate blieb eine Weile sitzen. Ihre Angst vor dem Kommenden, ihr Zorn ob der Umstände machten sie erschöpft, es war als wäre kaum noch Kraft in ihr, nur ein Wunsch nach nicht endendem Schlaf. Wäre die Zeit hier bloß vorbei, dachte sie, eineinhalb Jahre waren vergangen, Melanie sollte langsam zur Schule gehen und forderte wegen viel freier Zeit Renates Geduld zuweilen heraus. Das Leben war Renate zu schwierig. Die Menschen verließen die Stadt nach und nach, es gab nichts mehr, der Ort wurde ihr zu geisterhaft.

    Sie hörte wie Csaba die Tür öffnete. Er rief nach ihr.

    „Deine Eltern leben!“
    Renate fühlte, wie ihr Tränen in die Augen schossen, empfand unsagbare Erleichterung.
    „Wie hast du sie gefunden? Wo?“
    Csaba erzählte, sie wären in der Plattform „Exil Rot-weiß-Rot“ im Internet aufgeschienen, seien in der Nähe von Sopron untergebracht, dort habe man sie registriert und dies auf der Plattform bekannt gegeben, erst heute habe er Nachricht erhalten, das Netz gehe immer seltener.

    „All die Zeit...“ Renate wog sich in Csabas Armen. Gäbe es doch nur eine Verbindung, früher war es ihr lästig gewesen, wenn ihr Mobiltelefon öfter piepte als ihr recht war. Was würde sie nun geben, dachte sie, mit ihren Eltern zu sprechen.

    „Soll ich das Essen machen?“ fragte Csaba Renate nickte. „Wasser kommt keines im Moment, auf der Abwasch liegt ein Salat... übrigens ich hab Seife gebracht“, antwortete sie.

    „Steirer-Oma und Opa sind in Sopron...“ Renate legte sich neben ihre Tochter auf den Wohnzimmerteppich.
    „Wann fahren wir hin?“ fragte Melanie, „dann gehen wir alle nach Argentinien?“
    „So Gott will.“

    Vor zwei Jahren wäre die Frage von Győr nach Sopron zu kommen lächerlich gewesen, man sei ins Auto gestiegen und einfach gefahren, habe einen Zug genommen, doch in diesen Tagen schien dies eine enorme Herausforderung. Es gab kaum mehr Benzin, irgendeine gute Seele müßte sie mitnehmen. Eine schlaflose Nacht stand Renate bevor, diesmal vor Freude, wiewohl auch aus Sorge darüber wie sie ihre Eltern vorfinden würde.

    Csaba hatte ein ganz ordentliches Abendessen zustande gebracht, das aus hauptsächlich Kartoffeln bestand. Den Salat gab es dazu. Es gebe mittlerweile wieder Wasser meinte er, man habe es wieder aufgedreht.

    Die Morgensonne schien auf den vereinsamten, klobigen, grauen Bahnhof. Der Platz davor verwaist, keine Blumen waren gepflanzt worden, der Rasen wucherte, über das Soldatendenkmal kroch junger Efeu. Eine Stunde waren sie gegangen, vor dem Bahnhofseingang solle man warten hatte die Nachbarin Ilonka gesagt, die sich in der Nachbarschaft umgehört hatte und den Transport zu vermitteln imstande war.

    Der Bahnhofseingang war mit Ketten verschlossen. Vor dem Bahnhofstor ging ein Mann auf und ab. Er blickte zu ihnen. „Sopron?“ Renate nickte.

    Csaba gab ihm einen Zettel, auf dem er die Adresse notiert hatte, den Sack Kartoffeln, den er die ganze Zeit seit dem Aufbruch von zu Hause geschleppt hatte und zwanzigtausend Forint. Der Mann nickte und steckte das Geld in seine Hosentasche es nachzuzählen. Den Sack Kartoffeln stellte der Mann neben eine Steige Krautköpfe. Man müsse noch warten, meinte er. Renate mochte ihn nicht.
    „Die sind schon in Subotica in Serbien an der Grenze. Lang dauert’s nicht mehr.“ seine krächzende Stimme war Renate unangenehm. Sie ergriff Csabas Hand. Melanie quengelte sie wolle schlafen und schlang ihre Arme um Renates Hüften.

    Zwei Frauen kamen hinzu, Schwestern, wie Renate vermutete. Sie sprachen nicht, gaben dem Mann Tomaten und ein paar Geldscheine. Er verschwand. Kurze Zeit später fuhr ein Kleinbus vor. Das Gefährt erinnerte Renate an frühere Zeiten als man mit solchen Fahrzeugen Ausflüge mit Touristen unternahm oder sie zu Bahnhöfen und Bushaltestellen gefahren hatte. Der Mann saß am Steuer neben ihm ein älterer Herr. Der Fahrer stieg aus, die Krautköpfe, Kartoffeln Tomaten ein und deutete man solle einsteigen. Csaba und Renate blickten einander an.

    Die beiden Frauen saßen vor Renate, Csaba und Melanie, die, an ihren Vater gelehnt, einschlief. Eine der Frauen rieb ununterbrochen an ihren Fingern. Der ältere Herr murmelte unentwegt etwas, das nicht zu verstehen war. Die Straße war leer. Ein einziger Pferdewagen kam ihnen entgegen. Renate war die Fahrt unerträglich, sie blickte ständig zu Csaba, der versteinert nach vorne blickte. Er legte die Hand in die ihre. Erleichtert seufzte Renate auf als sie die Ortstafel von Sopron sah.

    „Ihr da hinten! Wir sind da.“, rief der Fahrer. Renate weckte Melanie mit einem sanften Rütteln. Der ältere Herr stieg aus und öffnete die Tür. In einer Stunde würden sie wieder abgeholt, sagte er. Im Wagen drängte der Fahrer zu Weiterreise.

    Renate, Csaba und Melanie standen vor einem dreistöckigen schmucklosen Bau mit glatter Fassade. Über der Tür stand „Panzió - Pension“, einige der Buchstaben fehlten bereits. Abfallender, verschmutzter, gelber Verputz, eine Klingel, deren Knopf bereits aus der Fassung hing. Renate drückte zaghaft die Türe nach innen, sie war nicht verschlossen. Csaba und Melanie folgten ihr. Ein Steinboden mit Fleckenmuster. Renate verzog ihr Gesicht bei dem Geruch nach altem Fett, der in ihre Nase aufstieg.

    „Suchen Sie jemanden?“ Eine ältere Frau war im ersten Stock aus einem der Zimmer getreten. Sie sprach mit starkem Tiroler Einschlag.
    „Gerstenberger, wohnen die hier?“, kaum hatte Renate fertig gesprochen kam ihr Vater aus dem Zimmer und umarmte seine Tochter. Ihre Mutter kam hinzu, „mein Kinderl...“, sie nahm Renates Kopf zwischen ihre Hände und küßte sie auf die Stirn mit Tränen in den Augen. Ihre Mutter hatte abgenommen, stellte Renate fest, ihre Haare hingen zottig herab, etwas, was sie an ihr nie gesehen hatte.

    Sie folgten in das kleine Zimmer, wo Kleidung über die Lehne des einzigen klapprigen Sessels hing, der alte Koffer, den Renate noch aus ihrer Jugendzeit in Erinnerung hatte, lag oben auf einem Kasten. Derselbe schwarze Koffer aus Hartschale, der bei jedem Urlaub in Tirol, im Salzkammergut und an der kroatischen Küste verwendet worden war, der auch so einige Fahrten zwischen Leibnitz, Győr und Wien mitgemacht hatte.

    „Wo wart ihr denn?“ Renate spürte, daß sie sehr müde geworden war, die unbeschreibliche Erleichterung ihre Eltern nach all der Sorge endlich wieder zu haben, die unheimliche Fahrt, hierher.

    „Einkesselt“, antwortete ihr Vater, „irgendwann sind sie schlampig geworden und wir haben ein Schlupfloch gefunden.

    „Was wir gesehen haben“, ihre Mutter blickte zu Boden, während sie sprach.
    „Unsere Nachbarn haben sie bei lebendigem Leib gekreuzigt, vor der Kirche, die sie vorher niedergebrannt haben..“ sie konnte nicht weitererzählen, vergrub ihr Gesicht in den Händen, legte sich auf das ungemachte Bett.

    „Wir haben uns im Haus versteckt, aber die sind überall eingebrochen, haben uns rausgezerrt, uns zuschauen lassen wie sie mit den Füßen gegen die abgetrennten Köpfe treten. Und der Gestank...“ fuhr ihr Vater fort. Er schüttelte den Kopf, seufzte und blickte zu Boden. „Von denen waren schon welche im Land und haben erst wie der Ansturm ins Land gekommen ist mitgemacht und wie. Die waren noch brutaler als später die Horden, die übers Meer gekommen sind sich durch alle Länder gebrandschatzt haben... Manche haben dich gegrüßt auf der Straße und plötzlich... und die von den eigenen Leuten, die sich mit denen zusammengetan haben, die von der Gleichheit...“, er schüttelte abermals den Kopf und spuckte in ein Taschentuch das er aus seiner verbeulten, fleckigen Hose zog.

    Renate erzählte, daß sie ein paar Tagen nach dem Einfall nach Győr gekommen seien in Zsuzsas und Bélas Haus, die bereits in Argentinien beim Schwager wären. Melanie hatte die ganze Zeit über neben Csaba gestanden und kein Wort gesagt. Renate hatte sich zu ihrer Mutter auf das Bett gesetzt, hielt ihre Hand als diese aufstand und zum Kasten ging, und daraus Melanies Fuchs aus Plüsch, der auf einem Stapel Hemden saß, nahm.

    „Mein Fuchs!“ Melanie lief zu ihrer Großmutter.
    „Den hast doch immer so gerne gehabt, als du bei uns warst, oder?“
    Melanie nickte, nahm den Fuchs und gab ihrer Großmutter, die sich zu ihr beugte, einen Kuß auf die Wange.

    „Gretl, Franz, wir müssen langsam aufbrechen.“ mahnte Csaba.

    Renate half beim Packen, blickte sich im Zimmer um und seufzte.
    „Habt ihr die ganze Zeit hier verbracht?“
    Grete nickte.
    „Hier wohnen noch zwei Steirer, ein Ehepaar aus Innsbruck und eine alte Frau aus Salzburg.“
    „Vor einem Monat oder länger waren dann Leute vom Exil Rot-weiß-Rot hier und haben uns Fragen gestellt.“, berichtete ihr Vater.

    „Ja, zwei junge Herren, aber die wollen auch nach Übersee... haben sie erzählt.“ Grete legte ihre Lieblingsbluse zusammen und strich ihrer Tochter über den Arm.

    Der Kleinbus stand bereits unten. Csaba mahnte zur Eile.
    „Ich werde das hier nicht vermissen“, Grete hakte sich bei ihrer Tochter im Arm ein.

    Der Fahrer war diesmal alleine, deutete sie sollen einsteigen. Renate verschlief die Fahrt, schrak ab und an kurz auf, um danach wieder einzunicken. Csaba hatte dem Fahrer noch ein paar Geldscheine gegeben, damit er sie vor das Haustor fahre.

    Tage im September. Renate begann das Leben wieder ein wenig leichter zu sehen, da nun ihre Eltern bei ihnen waren. Ihre Mutter war abgemagert, ihre Lider hingen ein wenig herab, ihre Augen schienen Renate manchmal abgestumpft, dennoch hatte sie sich gefangen und legte wieder etwas Wert auf ihr Äußeres. Ihr Vater hingegen, so beobachtete Renate, war äußerlich kaum verändert, doch sehr in sich gekehrt im Gegensatz zu früher, sprach viel weniger und zog sich öfter allein zurück. Melanie genoß die Anwesenheit ihrer Großeltern. Es schien sich eine Art Alltag einzustellen, ein Familienleben, das Renate ein klein wenig übermütig werden ließ und sie wieder kleine Streitereien mit Csaba zuließ, die sie zuvor vermieden hatte.

    An einem Vormittag wollte Csaba gemeinsam mit ihr zum Winzerverein gehen, um zu sehen ob Internet funktionierte. Es sei an der Zeit, daß sein Bruder Bence die Tickets und die Bestätigung der Einreiseerlaubnis per Email schicke, er habe es beim letzten Mal für heute versprochen, meinte er. Ferenc, der Vorsitzende des Winzervereins, jammerte, als er ihnen die Tür öffnete, daß bald die letzten das Land verlassen würden und er den Kopfabschneidern, wie er sie nannte, alleine und hilflos ausgeliefert sei. Renate stand hinter Csaba als sich an den Computer setzte, beugte sich über seine Schulter. Es war eine Mail von Bence eingetroffen. Die Tickets, ein Flugzeug von Warschau nach New York. Es würde dort in Polen noch alles funktionieren habe man ihm versichert, schrieb er. Visa seien noch ausständig, aber sie sollten bloß fliegen. An diesem Tag kam die Nachricht daß die ungarische Grenze an verschiedenen Stellen im Süden durchbrochen worden sei.

    Csaba druckte die Tickets aus.
    „Eine Woche noch“, sagte er, „wir sollten bald aufbrechen.“

    Als sie das Haustor erreicht hatten, kam Ilonka Sípos aus ihrem Garten gelaufen, einen kleinen Sack Tomaten in der Hand. Renate bat sie herein, sie setzten sich in die Küche. Csaba holte Zwetschken aus dem Garten und gab sie Ilonka in dem Sackerl, das zuvor die Tomaten enthalten hatte.
    „Cincinnati“, sie war außer Atem vor Freude. „Über Warschau.“
    Renate schrie freudig auf. „Warschau!“
    Ilonka, die über einige Ecken auch die Fahrt nach Sopron zu vermitteln imstande war, würde mit ihrem mittlerweile sehr schwermütig gewordenen Mann auch über Warschau nach Übersee gehen, für immer.
    „Der Tibor von Gegenüber hat uns die Tickets besorgt, ich will nicht wissen wie. Jedenfalls ist mein ganzer Schmuck dafür draufgegangen...“, sie ergriff Renates Ellbogen mit einer Hand, mit der anderen wischte sie sich über die Augenwinkel.
    „Die ganze Gegend geht jetzt weg, der Tibor selbst auch...“
    „Kannst du uns mitnehmen nach Warschau?“, Renate zögerte nicht mit ihrer Frage.

    Ilonka sagte zu, sie hätte sich ohnehin gewundert, warum sie noch hier wären. Sie fragte nach Zsuzsa und Béla. Schließlich seien sie und Zsuzsa hier aufgewachsen, hätten noch Kommunismus erlebt, all die Umbrüche und nun... Ilonka brach jäh ab.
    „Archentina“, lachte Csaba und machte eine Tangobewegung nach.
    Renate bedauerte, daß keine Musik zur Verfügung sei, es wäre ihr plötzlich nach Tanzen.
    „Ach“, erwiderte Ilonka, „wenn wir hier weg sind, dann tanzen wir...“ sie verabschiedete sich, nicht ohne Melanie und ihren Großeltern einen kurzen Gruß zuzuwinken.

    Der Aufbruch war vier Tage später im frühen Morgengrauen. Renate mochte den Fahrer auf Anhieb, da er, ohne sie zu kennen, sie mit „grüß Gott“ und „Gnä Frau“ angesprochen hatte. Er hätte in Bad Vöslau gelebt, erzählte er, bis Österreich von den Horden weggefegt worden sei, aber dort habe man bereits Elemente von ihnen im Land gehabt, die die Eroberung schneller erfolgen ließ. Hegyeshalom sei bereits gefallen, auch Bratislava, es sei höchste Zeit. Der Platz im klapprigen Gefährt war eng.

    Melanie jammerte, hielt mit einer Hand ihren Plüschfuchs am Schwanz, die andere umklammerte die Hand ihres Vaters. Franz trug den schwarzen Hartschalenkoffer, Grete war der Schlafmangel anzusehen, sie hakte sich bei ihrem Mann ein. Renate ging als letzte, sperrte die Tür und das Gatter zu. Sie blickte für einen langen Augenblick zurück zum Haus, das bereits ganz sachte vom beginnenden Morgenlicht angestrahlt wurde. Es war ein heftiger Stich in ihrer Brust, der sich tief in den Körper bohrte, als würden Herz und alle anderen Lebensorgane von einer unsichtbaren Faust umklammert und zusammengedrückt werden. Sie fühlte, daß es für immer war. Stets war in ihr doch ein kleiner Schimmer Hoffnung gewesen, es könnte sich alles abwenden, alles wieder gut werden. Auch wenn ihr das Leben unter diesen Umständen zunehmend schwerer gefallen war, es war dies, so fühlte sie, das letzte Zuhause. Das letzte Stück alten, schönen Lebens voller Erinnerungen. Wenn schon alles in Wien und der Steiermark verloren war, so hätte ihr doch dieser Ort bleiben können. Renate wollte in diesem Augenblick nicht nach Argentinien.

    „Jetzt komm!“ drängte Csaba. Renate hörte, daß auch er mit seinem Abschied kämpfte.
    Melanie und ihre Großeltern stiegen in en Wagen ein. Csaba und Renate folgten.

    Es war niemandem danach zumute etwas zu sprechen. Renate beobachtete wie ihr Atem das Fensterglas beschlug. Sie spürte nur das Rollen des Wagens.

    Sie konnten nicht viele Pausen einlegen. Nach der slowakischen Grenze waren die Straßen belebter. Militärfahrzeuge der Slowakei und Ungarns, Lastwagen, auf deren Ladefläche ernst blickende Soldaten in zerfetzten Uniformen saßen und lagen. Es befanden sich Verletzte darunter. Eine ungarische Offizierin ließ ihre Beine von der Ladefläche baumeln und hielt ihren Kopf gesenkt. Ein Soldat neben ihr schüttelte den Kopf und fuhr mit dem Zeigefinger seine Kehle entlang.

    „Das ist das Ende!“ sagte Renate zu sich selbst. Im Wagen blieb es still. Polnische Zöllner kontrollierten die Dokumente. Als sie die ungarischen und österreichischen Pässe sichteten, winkten sie den Wagen durch. Einer der Beamten strich Melanie übers Haar. Dokumente eines Landes, das es nicht mehr gab, Pässe eines Landes das es bald nicht mehr geben würde, es fiel eines nach dem anderen wie ein Dominostein. Hinter der polnischen Grenze konnte der Fahrer etwas zu essen besorgen. Entlang der Straße standen Zelte und Wägen mit Kennzeichen aus den verschiedensten Ländern.

    Sie erreichten den Flughafen von Warschau. Ilonka und Andor verabschiedeten sich, die beiden hatten einen anderen Bereich für ihren Abflug. Renate konnte Ilonka kaum loslassen.
    Csaba war still und in sich gekehrt als er die beiden Freunde und Nachbarn zum Abschied umarmte.

    Renates Eltern sprachen nicht viel, ihrer Mutter konnte sie die Anstrengungen ansehen, ihr Vater hielt sich wacker. Melanie gab den Fuchs nicht aus ihren Händen.

    In der Flughafenhalle mußten sie drei Tage ausharren, auf Handtüchern und alten Decken, die sie sich an einer Abgabestelle holen durften. Die Halle war überfüllt mit wartenden Menschen, es roch es nach Schweiß, Urin, Erbrochenem, die Luft war stickig. An den Vertäfelungen, am Steinboden konnte man noch erkennen, daß es einmal ein internationaler Flughafen nach allen Regeln modernster Baukunst gewesen war. Melanies Haar klebte und verfilzte, Renate kämmte es und Melanie schrie bei jedem Durchfahren des Kamms laut auf. Mit ein wenig Wasser aus den Trinkwasserflaschen, die in wiederkehrenden Abständen von Freiwilligen verteilt wurden, konnten sie sich das Gesicht waschen.

    Der Flug erschien auf der Anzeige. Zwei Koffer waren aufzugeben, die Paßkontrolle erfolgte nur mit einem Blick und einem Durchwinken. Bald würden sie auch in Polen einfallen hieß es.

    Renate wünschte, sie würde nicht schlecht riechend, ungewaschen ohne frische Wäsche fliegen und ankommen müssen. Melanie sprach nicht viel, hielt nur ihren Plüschfuchs, Renates Vater begann sachte aufzublühen und versuchte die anderen ein wenig aufzuheitern. Csaba drückte Renate an sich.
    „Es wird alles gut.“

    Als das Flugzeug abhob schien es Renate als wäre etwas in ihr abgestumpft, abgestorben, sie hatte sich mit den Ereignissen abgefunden. Ihre Mutter, die hinter ihnen saß, meinte sie hätten großes Glück gehabt.
    „Ja, wir haben großes Glück gehabt.“, antwortete Renate und ergriff Csabas Hand.

  2. #2
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    Kurzer Epilog

    Es war ein ungewöhnlich trüber und etwas zu kühler Tag in Santiago de Chile. Melanie öffnete ihren Koffer, um ihre Arbeitsunterlagen noch einmal durchzugehen. Sie lächelte als sie die kleine Schachtel mit Linzeraugen entdeckte, die ihr die Mutter am Tag vor ihrer Abreise mitgegeben hatte. „Toitoitoi“ hatte sie auf einen Zettel geschrieben. Es fröstelte ihr ein wenig. Sie berührte die Fensterscheiben aus Bakteriengelglas, um die Temperatur ein wenig anzupassen bis sie sich behaglicher fühlte. Sie blickte hinaus auf die Straße.

    Sie ließ sich auf das Bett fallen und schaltete ihren mobilen Flachrechner ein, um den Vortrag noch einmal durchzugehen. Sie mochte Santiago, doch diesmal war kaum Zeit für einen ausreichenden Bummel.

    Nachdem sie ihre duzendsten Ausbesserungen vorgenommen hatte, nahm sie eine kleine Mahlzeit im Hotelrestaurant ein. Wieder am Zimmer betrachtete sie sich im Badezimmerspiegel, sie mochte ihr Gesicht, ihre Hüften waren ihr ein wenig zu feist, die Augen, die sie von ihrem Vater hatte. Sie fand, daß sie eine schöne Frau sei.

    Melanie dachte, sie würde schlecht schlafen in der Nacht, was allerdings nicht eintraf. Professor Almeida holte sie um neun Uhr ab. Sie hatte zuvor noch einen Blick auf die Wetterstation geworfen, die neben dem Hoteleingang angebracht war. Der Weg zum Gebäude, wo sich der Vortragssaal befand, war bald erreicht. Das Magnetschwebetaxi brauchte nur zehn Minuten.

    „Professor, das ist mein erster Vortrag vor Fachpublikum...“
    „Nur Mut!“, er klopfte ihr auf die Schulter.

    Melanie betrat den Vortragssaal, atmete tief durch, stieg aufs Podium, richtete das Mikrofon und begann:
    „Guten Tag, mein Name ist Melanie Gerstenberger-Gyénes. Ich komme aus Buenos Aires, bin Historikerin an der dortigen Geisteswissenschaftlichen Fakultät und werde Ihnen einiges über die letzten Tage Europas erzählen...“
    Im Saal wurde es still.

  3. #3
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    AW: Wien Hauptbahnhof - Budapest keleti oder die letzten Tage Europas

    Du weißt ja, Schurli, alles, was einmal angedacht wird, wird Wirklichkeit!
    Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.
    Gustav von Rochow (1792 - 1847), preußischer Innenminister und Staatsminister

  4. #4
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    AW: Wien Hauptbahnhof - Budapest keleti oder die letzten Tage Europas

    Zitat Zitat von Turmfalke Beitrag anzeigen
    Du weißt ja, Schurli, alles, was einmal angedacht wird, wird Wirklichkeit!
    Das ist reine Fiktion, eine erfundene Geschichte, mehr nicht.

  5. #5
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    AW: Wien Hauptbahnhof - Budapest keleti oder die letzten Tage Europas

    Zitat Zitat von Schurliwurli Beitrag anzeigen
    Das ist reine Fiktion, eine erfundene Geschichte, mehr nicht.
    Ja, wie Orwell 1984.

    Fiktionen werden wahr!
    Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.
    Gustav von Rochow (1792 - 1847), preußischer Innenminister und Staatsminister

  6. #6
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    AW: Wien Hauptbahnhof - Budapest keleti oder die letzten Tage Europas

    Zitat Zitat von Turmfalke Beitrag anzeigen
    Du weißt ja, Schurli, alles, was einmal angedacht wird, wird Wirklichkeit!
    Es kann Wirklichkeit werden, aber es muß nicht. Wenigstens hoffe ich das.
    Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland

  7. #7
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    AW: Wien Hauptbahnhof - Budapest keleti oder die letzten Tage Europas

    Zitat Zitat von Cherusker Beitrag anzeigen
    Es kann Wirklichkeit werden, aber es muß nicht. Wenigstens hoffe ich das.
    1984

    oder

    "Die Flüchtlingsflut" aus den 70igern und 80igern, damals auch eine Fiktion.

    - - - Aktualisiert oder hinzugefügt- - - -

    Schurliwurli, das hast du sehr schön geschrieben!
    Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.
    Gustav von Rochow (1792 - 1847), preußischer Innenminister und Staatsminister

  8. #8
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    AW: Wien Hauptbahnhof - Budapest keleti oder die letzten Tage Europas

    Schurli, du hast literarisches Talent.
    Alle Texte, die keine Quellenangaben haben, stammen von mir.

  9. #9
    Registriert seit
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    AW: Wien Hauptbahnhof - Budapest keleti oder die letzten Tage Europas

    Zitat Zitat von Turmfalke Beitrag anzeigen
    Ja, wie Orwell 1984.

    Fiktionen werden wahr!
    Nicht gezwungenermaßen. Immerhin besteht stets eine Entscheidungsfreiheit. Wie weit werden die jetzigen Machthaber gehen? Was oder wer stellt sich ihnen entgegen? Nach jetzigem Stand der Dinge empfinde ich diesen Erdteil als verloren. Fiktionen sind Phantasie und treffen nie so ein wie sie ersonnen wurden. Man geht von einem Zustand in der Wirklichkeit aus und erfindet aus dem heraus eine Fiktion für die Zukunft.

  10. #10
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    AW: Wien Hauptbahnhof - Budapest keleti oder die letzten Tage Europas

    Zitat Zitat von Schurliwurli Beitrag anzeigen
    Nicht gezwungenermaßen. Immerhin besteht stets eine Entscheidungsfreiheit. Wie weit werden die jetzigen Machthaber gehen? Was oder wer stellt sich ihnen entgegen? Nach jetzigem Stand der Dinge empfinde ich diesen Erdteil als verloren. Fiktionen sind Phantasie und treffen nie so ein wie sie ersonnen wurden. Man geht von einem Zustand in der Wirklichkeit aus und erfindet aus dem heraus eine Fiktion für die Zukunft.
    Wir wissen nun, daß unsere Machthaber sehr weit gehen gehen werden. Wir wissen auch, daß die Presse ihnen hilft, Kulissenstädte und Kulissenstaaten aufzubauen, Mehrheiten zu suggerieren und zersetzend zu wirken, die Menschen zu vereinzeln.
    Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.
    Gustav von Rochow (1792 - 1847), preußischer Innenminister und Staatsminister

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