Manchmal hat er recht:

Wir sind doch nicht am Flüchtlingselend schuld

Das Problem der Flüchtlinge sollte dort gelöst werden, wo es generiert wurde – nach dem Verursacherprinzip und mithilfe der Organisationen, die für die "islamische Solidarität" zuständig sind.



Von Henryk M. Broder Reporter







Ein Flüchtlingslager für syrische Kurden in Suruc an der türkischen Grenze Foto: AP

Kürzlich war der Schauspieler Benno Fürmann zu Gast bei "aspekte", dem Kulturmagazin des ZDF. Nicht um für einen neuen Film oder ein neues Buch zu werben, sondern um von seinem Besuch auf der Insel Lampedusa zu berichten, wohin er gereist war, um einer Aktion von Amnesty International "ein Gesicht" zu geben. Sein Gesicht.
Es gefalle ihm nicht, so Fürmann, wie über die Menschen berichtet werde, "die an unserem Status quo kratzen", ihm fehle "dieser Humanismus, von dem wir so viel reden, aber für den wir so wenig tun". Der Libanon habe eine Million Syrer aufgenommen, ganz Europa dagegen nur 140.000. Das seien Zahlen, die in keiner Relation stünden zu der Angst, die vor den Flüchtlingen "geschürt" werde. So könne es nicht weitergehen. "Als Deutsche und als Europäer sind wir in der Schuld."
Dann wurden in einem kurzen Einspielfilm die innereuropäischen Relationen erklärt. "In Schweden kommen auf eine Million Einwohner 1960 Flüchtlinge, in Deutschland sind es grade mal 470 pro Million." Das war es, was Benno Fürmann meinte, als er von "unterlassener Hilfeleistung" sprach. "Dafür, wie der Zustand dieser Welt ist, und dafür, wie gut es uns momentan geht und zu was wir in der Lage wären, ist es nicht genug, was wir machen."
Nach Angaben der UN-Flüchtlingshilfe hat allein der Bürgerkrieg in Syrien "fast zehn Millionen Menschen zur Flucht gezwungen"; bei einer Population von 21 Millionen heißt das, dass beinahe jeder zweite Syrer vor der Gewalt der einen oder anderen Seite fliehen musste. Drei Millionen leben bzw. campieren inzwischen in den Nachbarländern, in der Türkei, im Libanon, in Jordanien und im Irak, etwa sieben Millionen irren im eigenen Land umher. Es ist eine Jahrhundertkatastrophe, ein Völkermord.
Die "friedliche Lösung" war keine gute Idee

Wie viele dieser Menschen sollten "wir" aufnehmen, um uns nicht einer "unterlassenen Hilfeleistung", wie Benno Fürmann es nennt, schuldig zu machen? Eine Million? Zwei Millionen? Oder am besten alle? Was wäre, gemessen am Zustand dieser Welt und daran, wie gut es uns geht und zu was wir in der Lage wären, angemessen und genug?
Ein Völkermord ist kein Naturereignis mit tödlichen Folgen, kein Erdbeben, kein Vulkanausbruch und auch kein Unglück, bei dem ein Schiff mit einem Eisberg kollidiert. Es ist ein Drama in mehreren Akten, mit Ansage und Vorspiel. Würde man – Pardon – "die Vorstellung" rechtzeitig unterbrechen, käme es weder zum blutigen Höhepunkt auf dem Schlachtfeld noch zum Nachspiel in den Flüchtlingslagern.
So gesehen hatten "wir" vor über drei Jahren, als der Bürgerkrieg begann, die Wahl: intervenieren oder zuschauen. "Wir" – Deutschland, Europa, die Nato, die USA, die UN – haben uns für das Abwarten und Zuschauen entschieden, aus Angst, eine Intervention würde "die Spirale der Gewalt" in Gang setzen und zu einem "Flächenbrand" führen. Präsident Obama definierte "rote Linien", die er alsbald vergaß. Die Spirale der Gewalt setzte sich in Gang, und nun erleben wir einen Flächenbrand, der uns fassungslos macht. Wie konnte es nur dazu kommen?
Den Anhängern einer "friedlichen Lösung" hat's die Sprache verschlagen. Dafür melden sich immer mehr Moralisten zu Wort, die uns "als Deutsche und als Europäer in der Schuld" sehen. Leider vergessen sie zu erklären, warum und wem gegenüber. Kann man mit einiger Anstrengung noch behaupten, ohne den Holocaust an den Juden wäre es nicht zu der Gründung von Israel gekommen, also sind "wir" für das Schicksal der Palästinenser ("Opfer der Opfer") irgendwie mitverantwortlich, so fehlt zum syrischen Bürgerkrieg jeder historische Bezug, der eine "Schuld" begründen könnte.





Irgendwann werden nicht nur Individuen, sondern auch Gesellschaften erwachsen und für das eigene Tun und Lassen verantwortlich



Ebenso zum Krieg im Irak, wo sich Schiiten und Sunniten gegenseitig bekämpfen und damit eine über 1000 Jahre alte Tradition fortsetzen. Allein die Tatsache, dass einige Hundert deutsche Staatsangehörige sich der Armee des Islamischen Staates angeschlossen haben, könnte für eine minimale Schuldzuweisung reichen. Alles, was es gibt, ist eine allgemeine Pflicht, Menschen zu helfen, die in eine Notlage geraten sind, so wie der Kapitän eines Schiffes verpflichtet ist, Schiffbrüchige an Bord zu nehmen, um sie im nächsten Hafen wieder abzusetzen.



Für den Umgang mit den Opfern der Kriege im Irak und in Syrien sollte das Verursacherprinzip gelten. Für die Flüchtlinge aus Afrika ebenso. Es sei denn, man macht den "Kolonialismus" und die "willkürlich gezogenen Grenzen" für alle Übel dieser Welt verantwortlich und gibt sich der Fantasie hin, ohne den Kolonialismus würden in Afrika und im Mittleren Osten heute paradiesische Zustände herrschen.
Irgendwann werden nicht nur Individuen, sondern auch Gesellschaften erwachsen und für das eigene Tun und Lassen verantwortlich. Vor allem, wenn sie sich als Staaten konstituierten, die "Souveränität" zum Prinzip erhoben und einen Sitz in den UN, in der WHO und im Weltpostverein haben.
Natürlich ist das Verursacherprinzip auf der internationalen Bühne schwerer durchzusetzen als im Vereinsrecht. Aber es gibt Organisationen, die sehr wohl in der Lage wären, einzuspringen, wenn eines ihrer Mitglieder mit einer Situation nicht fertig wird.
Was macht die Arabische Liga?

Zum Beispiel die Arabische Liga, 1945 in Kairo gegründet; ihr gehören 21 Nationalstaaten in Asien und Afrika an, darunter auch Syrien und der Irak. Zu den Aufgaben der Arabischen Liga gehört u.a. die "Förderung der Beziehungen der Mitglieder auf politischem, kulturellem, sozialem und wirtschaftlichem Gebiet", was durchaus als Verpflichtung zur Hilfe in Notfällen verstanden werden kann.
Dann gibt es die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC), früher: Organisation der Islamischen Konferenz, einen Zusammenschluss von 56 Staaten, "in denen der Islam Staatsreligion, Religion der Bevölkerungsmehrheit oder Religion einer großen Minderheit ist". 1969 im marokkanischen Rabat ins Leben gerufen, ging es der Organisation der Islamischen Konferenz erst einmal darum, Jerusalem und die Al-Aksa-Moschee von der israelischen Besetzung zu befreien. 1972 wurde die Aktionsbasis verbreitert.
Die Außenminister der OIC verabschiedeten eine Charta, in der "die Förderung der islamischen Solidarität und der politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Kooperation unter den Mitgliedsstaaten" als oberstes Ziel genannt wurde; außerdem wollte man den Muslimen bei ihren Anstrengungen um "Würde, Unabhängigkeit und nationale Rechte" beistehen.
1990 wurde die "Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam" beschlossen, die in einem entscheidenden Punkt von der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" der UN aus dem Jahre 1948 abwich. Als Grundlage bei der Auslegung der Menschenrechte sollte die Scharia dienen. Womit die allgemeinen Menschenrechte relativiert wurden.

Foto: REUTERS Vereint unter der Kaaba in Mekka: Eine Tagung der Organisation für Islamische Zusammenarbeit im August in Dschidda
Was die Arabische Liga und die OIC heute leisten, ist schwer zu beurteilen. So wie es aussieht, veranstalten sie pompöse Konferenzen und rufen zum Widerstand gegen die um sich greifende Islamophobie in Europa auf.
Umso unverständlicher ist es, dass sie den Opfern der Kriege in Syrien und im Irak eine gefährliche Flucht in das islamophobe Europa zumuten, statt sich ihrer anzunehmen. Wenn sie schon nicht in der Lage waren, eine panarabische Armee aufzustellen, um Syrien und den Irak zu befrieden, sollten sie wenigstens die Hauptrolle bei der Aufnahme und Integration der Flüchtlinge übernehmen. Es wäre eine maßgeschneiderte Aufgabe für die Länder der Arabischen Liga und die OIC. Bis jetzt waren nur die Türkei, der Libanon und Jordanien dazu bereit.
Eine solche Zwischenlösung wäre auch für die Flüchtlinge besser. Es ist mehr als fraglich, ob sie jemals in ihre Heimat werden zurückkehren können. Sie in Europa anzusiedeln, wäre nicht nur kulturell und klimatisch ein riskantes Vorhaben, das allein der boomenden Helferindustrie zugute käme.
Europa wird derzeit mit seinen hausgemachten Problemen nicht fertig. Der Euro nähert sich seiner Belastungsgrenze, die Wirtschaftsleistung nimmt ab, die sozialen Spannungen nehmen zu. Von den 18 Euro-Ländern weisen nur noch zwei die höchste Bonitätsnote "Triple A" auf: Deutschland und Luxemburg. Sogar Finnland, Holland und Österreich wurden vor Kurzem herabgestuft.
Jeder kann sein Häuschen zur Verfügung stellen

Die Einzigen, die noch Zuversicht verbreiten, sind Brüsseler Bürokraten wie Martin Schulz, der glaubt, das Problem durch eine "Reform unserer Einwanderungsgesetze" lösen zu können. Und mithilfe eines "Verteilungsschlüssels", der die Aufnahme der "Einwanderer" unter den 28 Mitgliedsstaaten der EU regelt.
Aber wir haben es nicht mit "Einwanderern", sondern mit Flüchtlingen zu tun. Und die wissen genau, wohin sie wollen. Nicht nach Bulgarien, Polen oder Rumänien, nicht einmal nach Griechenland, Portugal oder Spanien, sondern nach Deutschland und Schweden, und das aus guten Gründen, die mit der Sozialgesetzgebung zu tun haben.
Man muss nicht gleich so weit gehen wie Australien, das potenzielle Flüchtlinge mit der Drohung abzuschrecken versucht, sie würden in dem Land nie heimisch werden. Aber man sollte doch überlegen, ob man die Arabische Liga und die OIC nicht eindringlich bitten sollte, sich des Problems anzunehmen, um es regional und nachhaltig zu lösen – nämlich dort, wo es generiert wurde.
Wer findet, das sei nicht genug, der möge sein Häuschen in Bogenhausen oder im Grunewald einer Flüchtlingsfamilie zur Verfügung stellen. Und garantieren, dass er sich die nächsten zehn Jahre um sie kümmern wird.