Konkreter gesagt: Neuköllner Verhältnisse. Ein Beispiel von vielen


Das Linoleum im Hausflur ist abgewetzt, die gelben Wände sind schmutzig. Zumindest mit dem Lärm ist es vorbei: Eine Mischung aus Pöbeln, Lachen und Stöhnen. „Die haben Pornos geguckt, geraucht, gesoffen, gestritten, rumgeschrien“, sagt Melanie Lichtenberg (38). Ständig waren Kinder zu Besuch bei Nachbar Harry H. († 55), dem vorbestraften Kinderschänder, dem schwer verwahrlosten Ex-Obdachlosen.Letzte Woche erstach ihn David K. (15). Es heißt, viele Eltern hier imFalkenhagener Feld hätten gewusst, dass die Wohnung des Pädophilen ein Vergnügungsplatz für Jugendliche war. B.Z. auf Spurensuche in der Siedlung, die in den 60er-Jahren entstand und heute eines der hoffnungslosesten Quartiere der Stadt ist: Das Falkenhagener Feld, das Problem am Rande der Stadt.
Rund 10.000 Wohnungen, nördlich und südlich der Falkenhagener Chaussee. Seen, Parks, Kinderspielplätze. Für die Familien und Angestellten, die vor 40 Jahren aus der Innenstadt West-Berlins hier herzogen, eine Idylle. Heute wirken viele der vier- bis 16-geschossigen Blöcke verwittert, in den Treppenhäusern riecht es nach Urin, Briefkästen wurden aufgebrochen, Fahrstühle beschmiert, Spiegel zerkratzt.
Schleichender Niedergang
Wir begegnen Hertha (77). Ihren vollen Namen will sie nicht nennen, ihr Foto nicht in der Zeitung sehen. „Als mein Mann und ich 1966 hier hergezogen sind, kannten sich die Nachbarn, man hat sich gegrüßt und geholfen.“ Die Wende zum Schlechteren sei schleichend gekommen, nach der Wiedervereinigung. Damals entstanden neue Blöcke im Kiez. Die Stadtplaner nennen es „Nachverdichtung“.
Heute sind rund 20 Prozent der über 21.000 Bewohner im Falkenhagener Feld über 65 Jahre alt, 43 Prozent Migranten, rund ein Drittel lebt von Arbeitslosenhilfe. Die Tendenz in allen Bereichen: steigend. Jörn Silhavy, stellvertretender Geschäftsführer des Jobcenters Spandau: „Der Wohnraum hier ist günstiger, deswegen kommen mehr Transfermittelempfänger.“ Monat für Monat etwa 800 Menschen, die vom Staat leben.
Sylvia Erdmann (49) hat vor sieben Jahren den Schmuckladen ihres Vaters im Einkaufszentrum Am Kiesteich übernommen. „Das Feld hat sich verändert“, sagt sie. Bolle, der Schuhladen, die Schreibwarenhandlung, die Parfümerie – ihre Geschäftsnachbarn sind ausgezogen, jetzt gibt es einen Discounter und einen russischen Supermarkt. Es ist 11 Uhr morgens, vor Erdmanns Geschäft kippt ein ungepflegter Mann Bier in sich hinein. Sie erzählt: „Hier wurde seit Jahren nichts mehr gemacht. Die Fenster und Pfeiler verrotten. Bei mir haben sie gerade wieder eingebrochen, zum vierten Mal schon.“
Steigende Kriminalität
Die Kriminalität ist 2011 um 18 Prozent gestiegen. Allein Sachbeschädigung um 46 Prozent. Rentner Detlef Jagoda (68) sitzt an der Theke des Falkenseer Krugs, er wohnt seit 36 Jahren im Kiez und macht vor allem Ausländer für die Unsicherheit verantwortlich: „Russlanddeutsche und Türken, die vertragen sich ja schon untereinander nicht.“ In Kiezen wie diesen gedeihen die Vorurteile.
Alex T. (19), geboren in Kirgistan, und Niko S. (20), geboren in Kasachstan, sitzen auf einer Parkbank. Blasse Haut, Augen glasig, in der Hand Bierflasche und Zigarette. Als Kinder kamen sie nach Berlin. Alex hat gerade seinen Ausbildungsplatz verloren. „Bloß weil ich gekifft habe.“ Niko versucht, den Hauptschulabschluss nachzumachen. „Ich war viel unterwegs, Einbrüche, Graffiti, so was“, sagt er. Jetzt wollen die beiden einen Joint rauchen. „Für was anderes haben wir kein Geld“, lautet die Erklärung von Niko, die wie eine Ausrede klingt.
Minigolf kostet zehn Euro. Und wie soll man dann den Rest des Tags rumkriegen? Im Freizeithaus Hinter den Gärten 22 bringt Eva Kevenhörster (42) ein wenig Hoffnung in die Tristesse. „Keine Gewalt“ steht an der Tür, drinnen spielen Kinder an einer Kletterwand, essen Quarkbrote mit Schattenmorellen. Die Sozialarbeiterin: „Die Kinder bekommen hier auch ein warmes Mittagessen, für viele die erste Mahlzeit am Tag.“
Manche können fast kein Wort Deutsch, lernen es erst hier ein bisschen. „Aber es geht nicht nur um Migranten. Auch viele Kinder aus deutschen Familien können sich kaum richtig ausdrücken.“ Das Falkenhagener Feld ist für alle hier ein Problem.










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