Auf der Suche , ob es Moschee-Boote gibt bin ich grade auf den Artikel hier gestoßen. Den Kaschmirkonflikt scheint es schon lange zu geben. Der Artikel ist von 1993!

FOCUS Magazin | Nr. 43 (1993)
Reportage
TERROR IM GARTEN EDEN
Sonntag, 24.10.1993, 23:00 · von Peter Dienemann

Erste Sonnenstrahlen tauchen die schneebestäubte Silhouette des Karakorum in zartes Rosa. In Kaschmirs Hauptstadt Srinagar graut der Morgen, über den weiten, ruhigen Dal-See treiben träge Nebelschwaden. Im Schutz des Dunstes rücken sie an: Dutzende von Armeelastern rollen über den Uferboulevard, halten an. Scharfe Kommandos ertönen, und knapp 200 Soldaten schwärmen aus. Sie riegeln ein kleines Viertel ab.

„Crack down“ – Militär-Razzia. Häuserzeilen werden durchkämmt, auf der Suche nach militanten Muslime. Keiner entkommt dem Kordon. Verhaftet werden vor allem Jugendliche. Wenn sie Glück haben und nicht gleich „auf der Flucht erschossen“ werden, denn des öfteren heißt die Taktik der Sicherheitskräfte auch „Catch and Kill“. Die gefürchtete Grenzschutztruppe der „Border Security Force“ (BSF) hat die Altersgruppe zwischen 16 und 22 Jahren besonders im Visier. Aus ihr rekrutieren die muslimischen „Freiheitskämpfer“ im indischen Himalaya-Bundesstaat hauptsächlich ihren Nachwuchs.

„So geht das seit Monaten nun jeden Tag“, schüttelt Abdul Pala verzweifelt seinen fast kahlen Kopf. Sein Hausboot mit dem Namen „Hunza“ dümpelt im Ufergebüsch und könnte mal wieder einen Anstrich vertragen. Aber wozu? Seit vier Jahren hat kein Tourist mehr nach solch idyllischer Unterkunft verlangt. Auch Abduls Großhandel mit Teppichen und Souvenirs ist mehr als klein geworden. Heutzutage sucht keiner mehr Erholung in Indiens Garten Eden.

Abdul hat die Nase voll von den Terroristen-Gruppen, einerlei, ob sie für ein unabhängiges Kaschmir kämpfen oder für den Anschluß an Pakistan. Das gleiche gilt für die 500 000 Soldaten, Polizisten und sonstigen Angehörigen paramilitärischer Einheiten, die das verhindern sollen.

Im Kaschmir-Tal, einst die Schweiz Asiens genannt, beherrschen nun Sandsack-Bunker jeden Winkel und prägen Gruppen von waffenstarrenden Militärs das Straßenbild. An aufflammendes Gewehrfeuer ist man gewöhnt, Sprengstoffanschläge gehören zum Alltag. Der Blutzoll ist hoch: 60 Tote pro Woche kostet dieser Kleinkrieg, der nur sporadisch in den Blick der Weltöffentlichkeit gerät. Bei Massakern oder niedergeschossenen Demonstranten wie im April oder August oder bei spektakulären Aktionen wie jetzt die Besetzung der Hazrat-Bal-Moschee in Srinagar.

Buchstäblich um den Bart des Propheten geht es den rund 50 Muslim-Aktivisten, die sich am 15. Oktober mit etwa 100 Pilgern als Geiseln in der berühmten Moschee verschanzt haben. Denn unter der weißen Marmorkuppel des Schreins aus dem 17. Jahrhundert wird als Reliquie ein Haar Mohammeds aufbewahrt, dessen Diebstahl durch die Inder bereits 1963 zu blutigen Exzessen führte.

Nun, nachdem die heilige Locke längst wieder an Ort und Stelle ist, bekam die indische Armee einen Tip, daß militante Muslime das Haar entwenden wollten, um die Tat dann den Hindus in die Schuhe zu schieben.

Gut 10 000 Soldaten umstellten daraufhin weiträumig die Moschee, die den Indern ohnehin als Widerstandsnest der Muslime gilt. Diese hatten sich mit automatischen Waffen auf den Minaretten verschanzt, Stacheldrahtsperren im Inneren errichtet und gedroht, das Heiligtum zu sprengen, falls es gestürmt werden sollte. Nun hoffen die indischen Soldaten auf ein Sakrileg der militanten Muslime und umgekehrt. Eine verfahrene Situation, die schnell eskalieren kann, wenn muslimische Demonstranten erneut versuchen sollten, zu ihren Glaubensbrüdern in die Moschee vorzudringen. Zumal unter diesen die Fundamentalisten den Ton angeben.

Ihr Märtyrertum stellen sie gerne zur Schau, wie gerade erst anläßlich des „Moharram“-Festes: In einem offenen Zelt am Rande von Srinagar ertönt die „Marsia“, der Trauergesang der Schiiten. Hunderte verfolgen andächtig die kämpferischen Worte von Molvi Abbas Ansari. „Wir werden von Indien unterdrückt. Wir müssen dagegen aufstehen“, wendet sich der Prediger mit großen Gesten von einer Tribüne herab, auf der er mit weißem Turban und schwarzem Kaftan thront, an das Fußvolk.

Wir wollen Freiheit“, unterbricht die Menge immer wieder den gut 60jährigen Chef des „Kaschmir Befreiungsrats“, der für über 30 militante Gruppen spricht. Zwei Jahre schon saß er wegen subversiver Tätigkeiten in Haft. „Moharram“ ist für ihn ein willkommener Anlaß, zum Kampf gegen die Inder aufzurufen.

Mit Ketten schlagen sich die fanatisierten Muslime blutig – Selbstkasteiungen, die ihre Leidensfähigkeit und Entschlossenheit demonstrieren sollen. Die Schiiten feiern das Fest in Gedenken an ihren Propheten Hussain, der ebenfalls gegen Unterdrückung in den Krieg gezogen war. „Wir leiden unter einer Besatzerarmee“, beschwört Ansari die Menge. Indien gilt bei den Kaschmiris inzwischen als Ausland. Dennoch seien sie zu Verhandlungen mit den Indern bereit, doch nicht zu den Bedingungen Neu-Delhis.

Für die dortige Regierung kommen Gespräche mit den Militanten nur dann in Frage, wenn diese auf dem Boden der indischen Verfassung stattfinden. Also: Kaschmir bleibt fester Bestandteil des indischen Staats, daher kein Referendum über einen anderen Status unter UN-Aufsicht, die offenen Fragen könnten nur direkt zwischen Pakistan und Indien verhandelt und gelöst werden.

Seit 46 Jahren ist Kaschmir geteilt, als pakistanische Freischärler in den bis dahin unabhängigen Staat eindrangen. Maharadscha Hari Singh bat Neu-Delhi um militärische Hilfe gegen die Invasion. Es kam zum Krieg, nach einer UN-Resolution am 1. Januar 1949 zum Waffenstillstand. Bis heute kontrollieren UN-Blauhelme die Demarkationslinie, die das Land teilt. Der UN-Auflage, eine Volksabstimmung über das Schicksal Kaschmirs durchzuführen, kam Indien nie nach. Auch Pakistans zweiter Versuch 1965, das Land zu besetzen, blieb vergeblich.

Seit Dezember 1989 tritt die Kaschmir-Freiheitsbewegung militant auf. „Ein Stellvertreterkrieg, den Pakistan gegen die indische Union führt“, heißt es von Regierungsseite. Was sich allein schon daran ablesen läßt, daß Indien und Pakistan nach der Moscheebesetzung von Srinagar begannen, gegenseitig Diplomaten auszuweisen.

Freilich hat es Indien auch versäumt, sich der Loyalität der anfangs gemäßigten Muslime zu versichern. Kaschmir blieb wirtschaftlich unterentwickelt, es fehlt an Industrie. Der Tourismus und Vertrieb von Kunsthandwerk darbt außerhalb der Saison – und die ist mittlerweile ganz vorbei. Indien hatte freilich auch gute Gründe, keine großen Industriebetriebe in Nähe der Grenze anzusiedeln: Drei Kriege gab es mit dem Nachbarn Pakistan.

Nun herrscht Kleinkrieg. Drei unter den bewaffneten Gruppen sind federführend: Die Jammu und Kaschmir Befreiungsfront (JKLF), die Hizb ul-Mujaheddin und die Muslim-Brüderschaft. Außer der JKLF plädieren alle Gruppen für den Anschluß an Pakistan.

Professor Abdul Ghani, Chef der Muslim-Conference: „Wir haben nur zwei Optionen. Entweder mit Indien oder mit Pakistan. Demographisch gehören wir zu Pakistan.“

Während die pro-pakistanischen Gruppen für sich beanspruchen, „die gesamte Bevölkerung Kaschmirs“ zu vertreten, gibt sich Hyder Ali, der Sprecher der JKLF, bescheidener: „Wir wissen nicht, wieviele Kaschmiris hinter uns stehen, doch die Bevölkerung hilft uns überall im Land.“ Mitten in Srinagar, unter dem Schutz von Kalaschnikow-bewaffneten Guerillas, skizziert er die Ziele seiner Bewegung: „Wir sind für ein Kaschmir mit mehr Autonomie, möglichst für ein unabhängiges Kaschmir.“ Doch dies gelte es über Verhandlungen zu erreichen – mit Pakistan, Indien und Vertretern der Vereinten Nationen.

Die Demarkationslinie mit Pakistan ist 1200 Kilometer lang, führt über Berge, durch Flüsse und Schnee. „Absolute Kontrolle ist unmöglich“, meint General Mohammed Ali Zaki, der Sicherheitsberater des indischen Gouverneurs von Kaschmir, „die Grenze ist durchlässig.“ Dies nutzen sowohl die militanten Gruppen als auch ihre pakistanischen Ausbilder. Über 100 Trainingslager befinden sich jenseits der Grenze, in Azad Kaschmir, dem „freien Kaschmir“, wie das offzielle Pakistan es nennt. In Indien heißt dieser Teil POK – „Pakistanisch besetzes Kaschmir“.

Die dortigen Lehrgänge für Rekruten aus dem indischen Kaschmir dauern zwischen einer Woche und mehreren Monaten, reichen von der Bedienung verschiedener Waffen und Sprengstoffe bis zur Ausbildung in Taktik und psychologischer Kriegsführung. Etwa 200 Jugendliche absolvieren diese Kriegsschulen im Monat.

Unter den Guerillas befinden sich auch „arbeitslose“ Mujaheddin aus Afghanistan, islamische Söldner aus dem Iran und den Golfstaaten. Beim Grenzübergang sind die pakistanischen Militärs behilflich. „Sie lenken unsere Grenztruppen durch Gefechte ab“, erklärt Zaki, der sich aus Sicherheitsgründen nicht fotografieren läßt: „Man kennt hier meinen Namen, aber nicht mein Gesicht.“

„Alle pro-pakistanischen Gruppen erhalten ihre Waffen kostenlos aus Pakistan. Außerdem bekommen sie noch Geld für den Lebensunterhalt“, berichtet Hyder Ali. Die JKLF finanziere sich hingegen ausschließlich aus „Spenden“: „Wir erhalten Geld von Kaschmiris und unseren Brüdern aus aller Welt, von Saudi Arabien bis hin zu den USA.“

Ein Dutzend maskierte, bewaffnete Muslime stürmt das Zimmer. Es liegt in einem Seitentrakt der Hazrat-Bal-Moschee, die kurz darauf Schauplatz der Besetzung wird. „Let´s go, let´s go“, die Armee rückt an. Informanten aus der Nachbarschaft haben beobachtet, wie indische Militärlaster vorfuhren. Auf Schleichwegen verlassen wir das Gebäude, Hyder Ali läuft geduckt und grinst: „Besuche von der Armee sind Routinesache . . .“

Auf 5000 bis 7000 schätzt General Zaki den harten Kern der gut ausgebildeten Kämpfer, die Zahl der Sympathisanten sei „enorm groß“. Die Hälfte der fast acht Millionen Kaschmiris, so heißt es vor Ort, stehe hinter der militanten Bewegung. „Wir müssen versuchen, die Jugend auf unsere Seite zu ziehen“, meint General Zaki.

Angesichts der Tatsache, daß besonders Jugendliche Opfer von Verhaftungen, Folterungen und willkürlichen Hinrichtungen sind, klingt das wie blanker Hohn. Zudem bekennt Zaki: „Verfahren wir zu sanft mit den Terroristen, untergräbt das die Moral der Soldaten, deren Kameraden getötet werden.“

Offiziell wird zwar mittlerweile zugegeben, daß es „zu Übergriffen gekommen ist“. Laut Regierung wird gegen 230 Angehörige der Sicherheitskräfte ermittelt, 136 davon seien bereits zu Strafen von bis zu elf Jahren Haft verurteilt worden. Aber: Keine Institution kann oder darf diese Angaben nachprüfen, auch nicht Amnesty International.

So bleiben inoffizielle Horrorzahlen: 500 Jugendliche, sagen die Militanten, seien in diesem Jahr in der Haft ums Leben gekommen. Der Vorsitzende der Anwaltskammer von Srinagar behauptet, daß „mindestens 15 000 Kaschmiris in den Gefängnissen Indiens ohne Verurteilung verrotten“. 700 000 Hindu-Flüchtlinge warten nach Angaben von indischen Organisationen auf ihre Rückkehr nach Kaschmir. Dort sind Vergewaltigungen durch indische Soldaten, willkürliche Hinrichtungen und Folterungen an der Tagesordnung – aber genausowenig zimperlich ist die Gegenseite: Mutmaßliche Informanten werden öffentlich exekutiert. Ziele von Bombenanschlägen sind verstärkt öffentliche Plätze, die Opfer also Zivilisten. Seit Dezember 1989, dem Ausbruch der Bürgerkriegs, sind nach offiziellen Schätzungen insgesamt mindestens 12 000 Menschen ums Leben gekommen.

Während des „Moharram“-Festes wird uns der 20jährige Mohammed Rafique vorgestellt. Als Muslim-Terrorist wurde er in Baramullah, 60 Kilometer nordwestlich von Srinagar, verhaftet und ins Armeegefängnis gesperrt. Dort hat man ihm dann eine Niere entfernt, erzählt er schüchtern – ein indischer Soldat hätte eine gebraucht. Er deutet auf seine Hüfte, zieht sein Hemd hoch und zeigt auf eine mächtig lange Operationsnarbe: „Hier ist der Beweis!“

ZANKAPFEL KASCHMIR

1947, nach der Unabhängigkeit von Britisch Indien, schlug der Maharadscha von Kaschmir sein Land Indien zu, als Pakistanis in die Region eindrangen

Nach zwei Jahren Krieg zwischen Indien und Pakistan kam es 1949 zum Waffenstillstand unter UN-Aufsicht. Die damalige Demarkationslinie gilt noch heute

Der UN-Auflage einer Volksabstimmung in Kaschmir kam Delhi nie nach. 1965 kam es deshalb zum zweiten Krieg zwischen Indien und Pakistan.
Nach Jahren relativer Ruhe flammte der Konflikt Ende 1989 wieder auf. Seither mindestens 12 000 Tote. Neue Eskalation: die Besetzung bzw. Belagerung der Hazrat-Bal-Moschee in Srinagar (Foto oben)
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http://www.focus.de/magazin/archiv/r...id_142734.html