Jede Generation scheint die Fehler der Vorangegangenen zu wiederholen.



Jeder möchte etwas anderes. In Griechenland ist genau das Gegenteil der Fall: Was Parteien entstehen und sie untereinander in Wettstreit kommen lässt, ist die wunderbare Übereinstimmung griechischer Politiker, mit der sie alle das selbe suchen: sich durchzufuttern auf Kosten des Staates.“
Das schrieb Roidis 1875, nachdem es innerhalb von fünf Jahren vier Wahlen gegeben und die Regierung neun (!) Mal gewechselt hatte. „Die Wahlen wurden heftig und manchmal brutal umkämpft“, meint der britische Historiker Richard Clogg in seiner „Geschichte Griechenlands“, denn „an jedem Wechsel der Regierung hingen unzählige Stellen im öffentlichen Dienst.“ Dass politische Parteien nicht dem Wohl des Gemeinwesens verpflichtet waren, sondern ausschließlich ihrer eigenen Klientel ist wohl Erbe aus osmanischer Zeit. Ursprünglich hatte sich die Patronage als Schutzmechanismus gegen die Willkür der Fremdherrschaft entwickelt: Um die Launen des Rechtssystems abzufedern, entstand eine Unterherrschaft aus Familienoberhäuptern und Dorfältesten, eine Zwischenkaste aus Beratern und Einflüsterern, die zwischen der Bevölkerung und der osmanischen Obrigkeit vermittelte, Vergünstigungen erstritt und Privilegien herausschlug.
In den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts war Griechenland zwar schon fünfzig Jahre unabhängig, aber die alten Mechanismen wirkten noch wie geschmiert. Jetzt übernahmen einfach die lokalen griechischen Politiker selbst die vermittelnde und schützende Rolle. Stellt sich nur die Frage, vor wem der Politiker den Wähler eigentlich schützen, zwischen welchen Instanzen er vermitteln sollte? Die Unterdrücker waren schließlich längst vom Hof gejagt und der Abgeordnete selbst Teil der Macht.
Willkommen in der griechischen Schizophrenie! Der Abgeordnete spaltete sich quasi auf. In ein väterliches, Verantwortung übernehmendes Selbst einerseits und in den willkürlichen Machthaber andererseits. Indem er Deals aushandelte und zum Beispiel für eine Handvoll Stimmen einen Job versprach, schützte der gute Teil im Politiker den kleinen Bürger vor der dämonischen Launenhaftigkeit und der Unberechenbarkeit, die im bösen Selbst des Politikers schlummerten und jederzeit auszubrechen drohten. Der Machtmissbrauch verhinderte sozusagen einen noch größeren Machtmissbrauch – so die schaurige Logik, die schon damals den Staatsapparat blähte und zu einer legendären Ineffektivität führte. Eine 60-Millionen-Franc-Anleihe hatten die Großmächte dem neuen Staat 1830 gewährt, aber schon 1833 konnten nicht einmal mehr die Zinsen dafür aufgebracht werden, was eine Kreditsperre über fünfzig Jahre zur Folge hatte.
Bis zum Auftritt des Ministerpräsidenten Charilaos Trikoupis. Der westlich orientierte Reformer, der in London studiert hatte, förderte nicht nur die Industrie, baute Straßen und verlegte Gleise – er setzte auch eine Reform des Staates durch. Mit der Aussicht auf Aufschwung im Gepäck, einigte er sich 1879 mit den Kreditgebern auf eine Umschuldung. Mithilfe einer neuen Anleihe sollte die Modernisierung Griechenlands vorangetrieben werden. Doch der Plan scheiterte kläglich. Statt den Haushalt zu konsolidieren, mussten Steuern erhöht werden, trotzdem waren sechs weitere Anleihen nötig. Innerhalb von zwölf Jahren wuchsen die Schulden von fünfzehn auf vierzig Prozent der Staatseinnahmen.
Trikoupis’ großer Fehler war, dass er zwar das Wahlrecht und den Beamtenapparat umgestaltete, sich aber nicht an das Grundübel heranwagte, an das Klientelwesen. Der sogenannte Liberale bediente sich für seine ungerechte Besteuerungspraxis sogar einer besonders dreisten Cliquenargumentation (mit der die Schere zwischen Arm und reich vergrößert wurde und die Bevölkerung bis heute abgespeist wird). Trikoupis belastete die kleinen Leute mit höheren Steuern und entlastete die Reichen, weil die ihr Geld lieber in Investitionen stecken sollten. Was sie aber überraschenderweise nicht taten. Im Gegenteil: Ein Drittel der Anleihen floss über geheime Kanäle direkt in die offenen Taschen der Vermögenden. Und es floss in den aufgepumpten Beamtenapparat und ins Militär. Nur etwa zehn Prozent landeten in der verkrusteten Infrastruktur. Viel zu wenig. Die Entwicklung der Wirtschaft schlug fehl.
Weiterhin stützten sich die griechischen Exporte also auf Korinthen, deren hoher Preis seit dem Mehltaubefall französischer Weinberge Ende der siebziger Jahre immerhin für stabile Einnahmen gesorgt hatte. Doch 1893 hatte sich der französische Wein wieder erholt, die Franzosen führten Schutzzölle ein, um die einheimische Wirtschaft anzukurbeln, und der Preis für Korinthen fiel auf ein Sechstel. Die Kredite konnten nicht mehr bedient werden. Neue wurden verweigert. Am 10. Dezember musste Charilaos Trikoupis vor dem griechischen Parlament die Zahlungsunfähigkeit einräumen. „Leider sind wir bankrott“.


http://www.tagesspiegel.de/kultur/wi...e/5809430.html