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Sinem Gündogdu* atmet, sie zuckt manchmal, sie gibt Töne von sich, hin und wieder lächelt sie oder eine Träne fließt über ihre weiche Wange. Sinem lebt ein Leben in einem krummen Körper und ist in ihrem Geist isoliert. Das Mädchen aus Herne kann nicht aufstehen, sprechen, aktiv am Leben teilnehmen. Ihre Beine und Arme sind verbogen, ihre schwarzen kurzen Haare umrahmen das zarte Gesicht.
Sie ist 15 Jahre alt, sieht aus wie 8 und ihre Augen schauen verschwommen. Dass sie lebt, ist ein Wunder, denn die Ärzte gaben ihr nur wenige Jahre. Ihre Schwester Özlem ist vor drei Jahren gestorben - da war sie erst 12. Sinem und Özlem sind beide schwerst körperlich und geistig behindert auf die Welt gekommen, ihre ältere Schwester Azize, 17, besucht eine Schule für Lernbehinderte...

Wie kann es sein, dass alle drei Kinder ein Handicap haben? Seyran und ihr Mann Askin sind Cousin und Cousine, es gibt zahlreiche wissenschaftliche Studien, die belegen, dass Inzestkinder von Eltern, auch wenn diese selber keine Krankheit haben, mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit an schweren angeborenen Krankheiten leiden als Kinder von nicht verwandten Eltern.
So kam etwa eine britische Studie zu dem Schluss, dass 60 Prozent der Todesfälle und schweren Erkrankungen bei Kindern verhindert werden könnten, "wenn die Inzucht beendet würde". So ist anzunehmen, dass auch die Leiden der Kinder von Seyran und ihrem Mann Askin mit der Verwandtschaft der beiden in Zusammenhang steht.
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Kinder aus Ehen unter Verwandten leiden häufiger unter Erbkrankheiten, Epilepsie, Schwerhörigkeit oder Muskelschwund. Das Risiko, an einer genetisch bedingten Stoffwechselstörung zu erkranken, ist größer, die Lebenserwartung niedrig. Julia Hennermann, Stoffwechselmedizinerin und Kinderärztin an der Berliner Charité, fordert deswegen eine frühzeitige Aufklärung - am besten schon in den Schulen.
Etwa 15 Prozent der Stoffwechselkranken, die sie behandelt, sind aus Verwandtenbeziehungen. Natürlich heiraten auch Deutsche untereinander, doch mehrheitlich seien es Migranten. Ob die Paare nicht vorher über die Risiken Bescheid wüssten. "Genetik ist für die meisten etwas sehr Abstraktes", so Hennermann...

Am weitesten verbreitet sind Verwandtenehen im Nahen Osten, in Ländern, in denen der Islam praktiziert wird. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung des australischen Centre for Comparative Genomics.
Mehr als die Hälfte der Ehen wird dort innerhalb einer Familie geschlossen. Warum die Tochter einem Fremden geben, wenn diese doch in der Familie bleiben kann? Tabu sind nicht die Beziehungen, tabu sind die daraus eventuell entstehenden Folgen. Ein Genetiker, der nicht namentlich genannt werden will, sagt zynisch: "Oman ist ein Paradies für uns Humangenetiker. Die heiraten dort alle untereinander, es gibt die verrücktesten Krankheiten".

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Nicht selten heißt es in patriarchalisch aufgebauten muslimischen Communities dann, die Frau sei an der Missbildung schuld. Sie habe "schlechtes Blut" - "kani bozuk". Zwar habe niemand so etwas zu Seyran gesagt, aber vor allem die männlichen Verwandten ihres Mannes hätten ihr Schuldgefühle vermittelt, sie hinter ihrem Rücken beschuldigt, während der Schwangerschaften geraucht und getrunken zu haben. ...



Trotz aller Mühen weiß die Soziologien, dass sich die gefährliche Tradition so schnell kaum ändern wird. Nicht umsonst heißt ein gängiges Sprichwort in der Türkei "Gute Mädchen heiraten Verwandte, schlechte Mädchen gibt man einem Fremden".





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