Die Christen im Irak haben nur diese Wahl: sterben oder fliehen. Sie werden verfolgt, enteignet, entführt, vertrieben, ermordet. Eine Recherche auf den Spuren eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, das Karen Krüger im Irak und dem Libanon, Melanie Mühl von dort bis
nach Deutschland verfolgt hat.
Christlicher Kirchenwächter vor der syrisch-katholischen Kirche Al-Tahera nahe Mossul [NEWSBREAK][/NEWSBREAK]
Arbil, Beirut, Essen im Februar 2011
Weltweit leben zwei Milliarden Christen. Ihre Religion ist die größte und die am meisten verfolgte. Jeder zehnte Christ ist Opfer von Bedrohung und Gewalt. Besonders im Nahen Osten ist die Lage dramatisch. Radikale Islamisten rufen zur Verfolgung auf: In Ägypten, Iran, Afghanistan. Vor allem im Irak liegen Kirchen in Schutt und Asche. Es vollzieht sich ein Exodus. Das Verbrechen an den Christen verglich Bischof Huber in einer Predigt mit Völkermord. 1,5 Millionen Christen zählte der Irak vor dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein. 334.000 sind übrig. Wer kann, flieht aus dem Land, in dem die zweitausend Jahre alten Ursprünge des Christentums liegen, wo Urvater Abraham lebte, wo die ersten christlichen Gemeinden überhaupt gegründet worden sind. Die Christen waren schon da, lange bevor man die ersten Moscheen und Minarette baute. Die Wurzeln der christlichen Kultur, auf der die Werte der westlichen Welt beruhen, werden nun gekappt. „Wenn der Exodus anhält, haben die Christen im Geburtsland von Abraham bald keine Bedeutung mehr“, sagt der irakische Erzbischof Bascha Matta Warda.
Kann eine Religion sterben? Das Vertrauen, als Christ zum Irak zu gehören, verschwand mit dem Licht. Die Männer zogen Fawzi Alias von hinten einen Sack über den Kopf, zerrten ihn in ein Auto und fuhren mit ihm davon. Die Entführer wussten, dass ihm eine Fabrik gehört. Sie hatten seine Gewohnheiten studiert. Es war sein Glück, dass sie ihn, den Christen aus Mossul, deshalb so genau kannten: „Du arbeitest nicht für die amerikanischen Teufel, deshalb lassen wir dich am Leben. Aber du bist ein Ungläubiger, verschwinde von hier.“ Fawzi Alias schwor zu gehorchen. Es war Februar 2008. Er würde fliehen.
© F.A.Z.

Das christliche Kernland im Irak ist die Ninive-Ebene, die sich rund um Mossul erstreckt. Aus der Stadt selbst flüchten die meisten Christen zunächst in die nördlich gelegenen Dörfer. Die sind aber nur Zwischenstation auf dem Weg in Nachbarländer. In der Ninive-Ebene, einer Wiege des Christentums, ist kein Mensch mehr sicher.

Die Amerikaner befreiten den Irak von seinem Diktator Saddam Hussein. Aber sie konnten nicht verhindern, dass das Land unter ihren Augen zu einer Hochburg sunnitischer Terroristen wurde, die alle Christen aus dem Irak vertreiben wollen: Schutzgelderpressungen, konfessionelle Säuberungen ganzer Straßenzüge, Zwangskonvertierungen, Entführungen und Morde an Christen sind Alltag. Jeder Tote bedeutet mindestens eine Familie, die flieht. Es ist ein seit Jahren andauernder Prozess, von dem Europa lange kaum Notiz genommen hat. Auch deshalb nicht, weil Kirchenoberhäupter lange darüber schwiegen - auch der Vatikan.
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