Wegen der Wichtigkeit - auch dieses Mal nur C+p

Die Gegenwut

Ein Debattenbeitrag von Matthias Matussek

dpa
Thilo Sarrazin: Er vergreift sich im Stil



Wegen seiner polemischen Muslim-Schelte steht Thilo Sarrazin am Pranger, aber eines begreifen seine Kritiker offenbar nicht. Der Provokateur verkörpert etwas, das sich nicht ausgrenzen lässt: die Wut von Leuten, die es satt haben, für ihre Integrationsangebote beschimpft zu werden.
Nichts ist mehr wie es war. Es ist die Saison des Volkszorns, längst wächst der Fall Sarrazin über Sarrazin hinaus. Er ist viel größer als der Mann oder das Buch.


Im Fall Sarrazin geht es um den Fall Merkel, um den Fall SPD, um das politische und publizistische Establishment in Deutschland. Sarrazin ist zur Chiffre geworden für die Empörung darüber, wie das Justemilieu der Konsensgesellschaft den Saalschutz losschickt, um einen verstörenden Zwischenrufer nach draußen zu eskortieren. Und ihm auf dem Weg nach draußen zuzischelt: "Wir werden dir Toleranz schon noch einbimsen." Er ist nicht telegen. Er verheddert sich in Statistiken. Er vergreift sich im Stil. Er steht ziemlich struppig in den Infotainment-Talkshows unserer Spaßgesellschaft herum. Er rutscht aus auf den bekannten Bananenschalen der politischen Korrektheit, mit angreifbaren biologischen Verknappungen. Aber seine Befunde zur missglückten Integration der türkischen und arabischen Immigranten sind über jeden Zweifel erhaben.
Sarrazin wird aus dem Bundesbank-Vorstand verstoßen. Sarrazin soll aus der SPD ausgeschlossen werden. Sarrazin wird aus bereits gebuchten Veranstaltungen ausgeladen. Die Feuilletonisten der "Zeit" rufen igitt und die bei der "FAZ" verdammen bei Sarrazin besonders jene anstößigen Passagen, die er nicht geschrieben hat, aber eigentlich hätte schreiben wollen, und die also erst mühsam konstruiert werden mussten, was sicher eine Heidenarbeit war.
"Du Christ!" als Schimpfwort auf Schulhöfen
Was all die Ausgrenzungstechniker nicht begreifen, ist, dass sich das, was Sarrazin verkörpert, nicht ausgrenzen lässt. Es ist die Wut von Leuten, die es satt haben, als rückständig empfundene Praktiken in ihre Gesellschaft, die einen langen und mühevollen Prozess der Aufklärung hinter sich hat, zurückkehren zu sehen. Die es satt haben, für ihre Angebote an Eingliederungshilfen beschimpft und ausgelacht zu werden. Die es satt haben, über terrornahe islamistische Vereine zu lesen, über Ehrenmorde, über Morddrohungen gegen Karikaturisten und Filmemacher oder zu hören, dass auf Hauptschulhöfen "du Christ!" als Schimpfwort benutzt wird. Die wütend zur Kenntnis nehmend lesen, dass sich westliche Staatsmänner für Frauen in einem islamischen Land einsetzen müssen, weil diese dort als Ehebrecherinnen gesteinigt werden sollen.
Merkwürdigerweise aber sind nun zumindest viele der bei uns lebenden türkischen Mitbürger - und in der "SZ" am Wochenende werden acht junge vorgestellt - nicht darüber empört, sondern über Sarrazins Buch.
Die politisch korrekten Medientribunale funktionieren nicht mehr
Sollten die Repräsentanten geglückter türkischer Vorzeigebiografien nicht einwirken auf ihre Landsleute und Milieus, damit der Koran endlich sein Gesicht von Sanftmut und Nächstenliebe zeigt? Vor allem aber wäre es schön, wenn sie sich irgendwo zu Pluralität und Meinungsfreiheit ausließen.
Und noch mal zu denen unter unseren türkischen Mitbürgern, die wirklich angekommen sind: Sollten sie nicht zum Beispiel auf den Migrationsrat einwirken, der soeben erfolgreich gegen einen Auftritt Sarrazins während des Internationalen Literaturfestivals in Berlin aktiv wurde? Bernd Scherer, Chef des "Hauses der Kulturen der Welt", hat sich dem Druck gebeugt und die Veranstaltung abgesagt. Sie findet nun am kommenden Freitag, den 10.9.2010, um 19.30 Uhr in der Urania statt. Unter Polizeischutz.
Wir aber lernen beglückt, dass der Opportunismus der Politik derselben gerade bleischwer auf die Füße gefallen ist. Und was die politisch korrekten Medientribunale angeht, auch die funktionieren so einfach nicht mehr.
Bisher wurden diese von zwei nur in Deutschland denkbaren Archetypen bestimmt: Vom bevormundenden Gouvernanten-Typ, der das Publikum für unwissend hält und es ungefragt vor Vergiftungen und Verführungen beschützen möchte. Und vom eifrigen Denunzianten-Typ, der das Publikum ebenso für bekloppt hält und Geheimotschaften enttarnt, nach dem Motto: Herr Lehrer, ich hab da 'ne braune Kleckerei entdeckt, man sieht sie nicht mit unbewaffnetem Auge, aber ich bin so irre smart und hab' sie aufgespürt.
Klaus von Dohnanyi, der Sarrazin vor den SPD-Gremien zu verteidigen gedenkt, wies in der "SZ" darauf hin, wie in Deutschland vor dem Hintergrund der Holocaust-Vergangenheit eine Kultur der Gesinnungsverdächtigung blüht, kaum nimmt einer die Worte "Gen" und "Jude" in den Mund.
Mit Recht beklagt er, dass wir Debatten scheuen, die "in anderen Ländern gang und gäbe sind". Dazu gehöre die Diskussion darüber, "dass bestimmte Volksgruppen bestimmte Eigenschaften haben".
Die Deutschen arbeiten demografisch an ihrem Verschwinden
Debatten aber über Identität und Leitkulturen werden überall geführt in einer zunehmend globalisierten Welt, in den USA genauso wie in Großbritannien, in Frankreich, Holland oder Dänemark. Das schließt Weltoffenheit nicht im geringsten aus. Es bedeutet nur ein Beharren auf Traditionen und Werten, zu denen auch die Religion gehört, die man nicht einfach an der nächsten Bude abgeben möchte.


Es sind diese Passagen in Sarrazins Buch, die mir die interessantesten scheinen. In ihnen spricht sich die Melancholie darüber aus, dass die Deutschen nicht nur demografisch an ihrem Verschwinden arbeiten, sondern sich auch von ihren Kultur- und Bildungshorizonten verabschieden. Wer das rassistisch nennt, hat nichts kapiert. Fest steht aber seit Sarrazin, dass Einschüchterungen durch das publizistische Justemilieu und seine Drohungen mit dem gesellschaftlichen Abseits nicht mehr funktionieren, denn das Publikum hat einen hochentwickelten Instinkt für Fairness.
Der Beistand für Sarrazin beweist es. Die Deutschen lernen dazu. Vielleicht kommen sogar die Redaktionen des Landes eines Tages dahin, wo die britischen Kollegen längst sind: wie man frei und ohne Scheuklappen und Sprachregelungen Debatten führt.