Sicherungsverwahrung

Berliner Morgenpost: Noch mehr Schwerverbrecher in Berlin kommen frei

Mehr Schwerverbrecher als bisher bekannt werden nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus Berliner Gefängnissen entlassen werden, anstatt in Sicherungsverwahrung zu kommen. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter fordert nun die Schließung der Gesetzeslücke.

Die Anzahl der in Berlin inhaftierten Schwerkriminellen, die künftig aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden müssen, ist noch deutlich höher als bislang bekannt. Zu den sieben bereits bekannten Fällen gibt es mindestens neun weitere Schwerverbrecher, die von der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) profitieren werden, bestätigte gestern ein Sprecher von Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD).

Es handelt sich um sogenannte Altfälle zu Verbrechen, deren Urteile bereits vor 1998 gefällt wurden. Diese Gefangenen würden in den nächsten Jahren frei kommen, wenn die für sie geltende maximale Sicherheitsverwahrung von damals zehn Jahren ablaufe, so Sprecher Bernhard Schodrowski. Erst seit einer Gesetzesnovelle von Januar 1998 kann eine zeitlich unbegrenzte Sicherungsverwahrung angeordnet werden. Wenn ein Straftäter beispielsweise 1996 zu zehn Jahren Haft plus Sicherheitsverwahrung verurteilt worden sei, ende die Inhaftierung im Jahr 2016. Der erste dieser neun zusätzlichen gefährlichen Strafgefangenen in Berlin könnte demnach kurz vor Weihnachten 2010 entlassen werden. Nach Morgenpost-Informationen soll es sich um einen Mann handeln, der 1997 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Gefängnisstrafe von knapp drei Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt worden ist.

Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) sieht bei der Problematik den Gesetzgeber gefordert. „Das Justizministerium muss einen Weg finden, die Gesetzeslücke zu schließen“, sagte gestern Berlins BDK-Landesvorsitzender Michael Böhl. Die Polizei muss Feuerwehr spielen, kann aber eine keine Sicherheit garantieren. Zudem würden zusätzliche Überwachungen von immer mehr als gefährlich geltenden Haftentlassenen die ohnehin knappe Personaldecke der Polizei zusätzlich stark belasten. „Die elektronische Fußfessel, wie von Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger vorgeschlagen, bietet bei Sexual- und Gewaltverbrechern keinen ausreichenden Schutz und ist deshalb kleine Lösung. Sie ist ein probates Hilfsmittel zur Überwachung von Kleinkriminellen und entlastet die Polizei. Deshalb wurde sie vom BDK gefordert“, so Böhl weiter.


Politik ist gefordert

Auch der Vorsitzende des Landesverbands der Vollzugsbedienstete, Thomas Goiny, fordert die Politik auf, schnell Lösungen für das Rechtsproblem der Sicherungsverwahrung zu finden. „Es ist die Aufgabe der Politiker, dafür zu sorgen, dass von den Schwerverbrechern keine Gefahr ausgeht“, sagte Goiny. Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) will Ende des Jahres die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe, die Berlin zusammen mit Brandenburg ins Leben gerufen hat, vorstellen. Nach Ansicht des Landesvorsitzenden der Vollzugsbediensteten, die in ihrem Berufsalltag ständig mit Insassen in Berlins Gefängnissen zu tun haben, sollten solche als gefährlich eingestufte Gewaltverbrecher auch nach Verbüßung ihrer Tat weiterhin inhaftiert bleiben. „Sie sitzen bei uns ein, und wir behandeln sie vernünftig“, sagte Goiny. Er verwies darauf, dass von den etwa 2000 Inhaftierten 1000 intern als gefährlich eingestuft werden. „Das ist nicht der Ehemann, der seine Frau umgebracht hat. Sondern das sind gewalttätige Menschen, die Lust an der Gewalt haben“, sagte Goiny. Diese Menschen, die nicht in der Sicherungsverwahrung sind, werden nach Verbüßung ihrer Strafe wieder entlassen. Bei ihnen bestehe die Gefahr eines Rückfalls. Deswegen müsse der Justizvollzug mit ausreichend Personal ausgestattet werden, damit die Gefangenen resozialisiert werden könnten.

Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) plädiert in der Frage der Sicherungsverwahrten dafür, dass für die Entlassenen eine Führungsaufsicht mit einer Unterbringung in betreuten Wohneinrichtungen zu kombinieren sei: „So wäre ein geordneter Übergang in die Freiheit möglich.“ Diese Form stelle aus ihrer Sicht ein gutes Mittel dar, Rückfälle der ehemaligen Häftlinge zu verhindern.

Die Männer, deren Zeit in der Haftanstalt Tegel nach Ende der Sicherungsverwahrung zu Ende geht, sind zwischen 50 und 69 Jahre alt. Sie wurden in den 80er- und 90-er Jahren zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Jürgen B. ist mit 69 Jahren der Älteste. Der aus Rheinland-Pfalz stammende Mann war 1969 für den Mord an einer Blumenbinderin zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Zehn Jahre später, im Mai 1979 beging er in Berlin während eines Hafturlaubs einen heimtückischen Doppelmord. Der damals 38-Jährige erdrosselte eine zehn Jahre jüngere Serviererin, die er an diesem Abend erst kennen gelernt hatte, im Schlaf. Anschließend erstickte B. den schlafenden, fünf Jahre alten Sohn des Opfers. Mitarbeiter der JVA Tegel sehen in der Vorbereitung dieser Personen auf ein Leben in Freiheit eine gewaltige Aufgabe.


Gutachter können Freilassung nicht mehr verhindern

Das EGMR-Urteil aus Straßburg bedeutet, dass ein betroffener Häftling nach Ende der Sicherheitsverwahrung auch dann frei kommen würde, selbst wenn das Gutachten eines Experten ihn weiter als gefährlich einstuft. Für solche Entlassenen könnten die Strafvollstreckungskammern des Landgerichts eine Führungsaufsicht mit weitreichenden Auflagen verfügen. Experten gehen davon aus, dass die Vollstreckungskammern als für die Freilassung zuständige Instanz so verfahren dürften. Berlins Justizsenatorin hatte erklärt, dass die Männer trotz des eindeutigen Richterspruches nicht „Knall auf Fall“ entlassen werden dürfen. Sie müssten nach jahrzehntelanger Haft erst auf das Leben in Freiheit vorbereitet werden.

Seit vier Monaten beraten Experten der Justiz, des Landeskriminalamtes (LKA), Therapeuten und Forensiker über geeignete Maßnahmen, wie mit den Sicherungsverwahrten, die wegen Vergewaltigung, Kindesmissbrauchs, Totschlags und zum Teil mehrfachen Mordes verurteilt wurden, umzugehen ist.

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Wikipedia: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte