FAZ.NET: Schafft den Staat ab!

Von Regina Mönch

Dass Demokratie und Kapitalismus ein Problem haben, ist momentan überall spürbar. Da wundert es nicht, dass jetzt in Berlin eine Kommunismuskonferenz veranstaltet wurde. Doch die radikale Linke blamiert sich. Und das gründlich.

28. Juni 2010 Dass Kapitalismuskritik jetzt ein großes Thema ist, kann kaum verwundern. Sie jedoch drei Tage lang als vermeintlich neues kommunistisches Projekt zu erleben, jakobinisch ernst bis fidel vorgetragen und gespielt auf allen Bühnen und Salons eines Berliner Theaters, verblüfft dann doch. Kann man den Kommunismus „neu denken“, ohne sich von den mit seinem Namen verbundenen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts irritieren zu lassen?

Man kann. Die neue radikale Linke, deren intellektuelle Spitze sich am Wochenende in der Berliner Volksbühne zusammenfand, verbindet elegant und auf zuweilen hohem Niveau Platon, Descartes, Heidegger, den heiligen Paulus, Marx und Lenin, um den diskreditierten Begriff zu befreien. Und sie kidnappt Warlam Schalamow als den Geopferten, dem man huldigt, weil seine Kolyma-Poesie keine Abrechnung mit dem Stalinismus herausfordert. Millionen Opfer sind der Rede nicht wert, der Staatskommunismus ein Betriebsunfall der Geschichte, allenfalls zu erwähnen, weil er die Utopie, die "Idee des Kommunismus" beschädigt und den Marxismus in die Krise gestürzt habe.

Ein Popstar redet wirr

Einleitend hatte der Guru des neuen revolutionären Denkens, Alain Badiou, erklärt, angesichts fortschreitender Demokratieverherrlichung sei die Frage nach der Bedeutung dieser Idee zu stellen. Frank Ruda und Jan Völker (Berlin) antworteten mit einem philosophischen Manifest, inspiriert von Descartes, das auf Mut und Vertrauen setzt, um subjektives Urteilen zu befördern. Das Denken sei zugrunde gerichtet worden, klagte Cecile Winter (Paris), maoistische Aktivistin der ersten Stunde. Nur Kommunisten könnten den Staat abschaffen, darum bedürfe es einer neuen Bewegung, einer "Unruhe, die Klarheit schafft". Winters Fazit: "Wir werden noch fünfzehn oder mehr Kulturrevolutionen brauchen."

Der Auftritt des nichtpraktizierenden Psychoanalytikers und Philosophen Slavoj Zizek wurde wie erwartet ein Höhepunkt des Vortragsmarathons. Junge Sehnsuchtskommunisten und einige ihres Forums seit langem beraubte Altlinke fieberten ihm entgegen. Zuvor hatte der bekennende Kommunist Bülent Somay (Istanbul) im althergebrachten leninistischem Duktus über Arbeiterklasse, Produktionsmittel und Revolution referiert. Als Scherz flog dabei übers Podium, man wolle ihn wohl in den Gulag stecken. Da lachte das junge Publikum herzlich. Dann kam der haareraufende, wild gestikulierende Zizek zu den Fragen der Zeit. Welche, blieb im Ungefähren, wie alles, was etwa mit Gewalt und Terror zu tun hatte. Keine These, nirgendwo, nur Anekdoten und Gedankensprünge. Natürlich sei der Staat abzuschaffen, so Zizek - aber schon war man mit ihm wieder in New York, traf einen Chirurgen, kam über Berlusconi zurück zur "Begriffsaneignung", begegnete plötzlich Bill Gates, irgendwann wurde Obama abgewatscht, weil er Mist baut, mit der Ölpest nicht fertig wird ... Zizek ist ein Popstar, der mit intellektuellen Taschenspielertricks und flotten Rückgriffen auf die große Philosophie die neuen autoritären Wahrheitsprojekte unter die Jugend bringt. Seine neuerdings so inbrünstig verbreitete wie schlampig gedachte Lenin-Rettung kommt ohne historische Kenntnis aus, sie deutet Brutalität und Klassenmord um in revolutionäre Siege.

Der Blinde Fleck

Schlussakt mit Alain Badiou. Vage und knapp warnte er, mit Blick auf China, vor einem neuen autoritären Kapitalismus. Die Idee des Kommunismus habe konstitutiven Wert für ein internationales emanzipatorisches Projekt (wohl zur Rettung der Menschheit). Nur müsse die Idee so formuliert werden, dass sie nicht aus sich heraus gewalttätig sei - ein Abschied vom "Aufstandskommunismus".

Im Roten Salon gab es kommentarlos, zur Entspannung, Alexander Dowschenkos berühmten Film "Erde" aus dem Jahr 1930 über (böse) Kulaken und (gute) Bauern in der Ukraine. Eine ästhetisch atemraubende Hymne auf Stalins Kollektivierung, die Zizek in einem seiner Essaybände als "wahrhaft kühn" rühmt. Historiker beziffern die Zahl der Opfer von Kollektivierung und Kulakenhass auf mehr als zehn Millionen Menschen. Das ist der blinde Fleck in der Wahrnehmung vieler, von dem Jorge Semprun in seiner großen Buchenwald-Rede sprach - die Schwelle, hinter der Schalamows wirkliches Kolyma liegt.

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