Kommentar

welt.de: Neue Allianzen fordern den Westen heraus


Von Richard Herzinger

Aufstrebende Nationen wie die Türkei und Brasilien betrachten das Recht auf "atomare Selbstbestimmung" als eine zentrale Statusfrage. Die Tatsache, dass die neuen "Blockfreien" auch vor Allianzen mit dem Iran nicht zurückscheuen, muss den Westen alarmieren.

Iran, Brasilien und die Türkei verblüfften die Weltöffentlichkeit diese Woche mit einem Abkommen, nach dem der Iran niedrig angereichertes Uran in die Türkei auslagern und gegen Brennstäbe für einen Forschungsreaktor eintauschen soll. Doch der spektakuläre Deal dient vor allem als Ablenkungsmanöver, mit dem Teheran der Forderung des UN-Sicherheitsrats nach einem Stopp der Urananreicherung im eigenen Land ausweichen und Sanktionen wegen des iranischen Atomprogramms in letzter Minute verhindern will. Beeinflusst werden sollen damit vor allem Russland und China, die – entgegen den Erwartungen des iranischen Regimes – den Strafmaßnahmen zustimmen wollen.

Bemerkenswerter als der vage Inhalt dieses Abkommens selbst ist aber die Tatsache, dass es überhaupt zustande kam – und welche Mächte sich für diesen neuen Schachzug Teherans hergegeben haben. Weniger überraschend ist die Beteiligung der Türkei, die seit Längerem bestrebt ist, sich als eigenständige gestaltende Kraft in Konflikten des Nahen Ostens hervorzutun und so zu einer maßgeblichen Ordnungsmacht in der Region aufzusteigen. Dabei sucht die vom politischen Islam geprägte türkische Regierung zunehmend die Nähe des Irans, der in wachsender Konfrontation mit den arabischen Mächten seine Vorherrschaft im Nahen Osten zu etablieren versucht.

Besonders aufhorchen lassen muss die Mesalliance zwischen der islamistischen Diktatur in Iran und dem „Schwellenland“ Brasilien – einer Demokratie westlichen Zuschnitts, die noch dazu kulturell zutiefst christlich geprägt ist. Der Fall zeigt, dass sich über scheinbar unüberbrückbare politische, kulturelle und religiöse Gegensätze hinweg eine Achse von Staaten herauszubilden beginnt, die der „tripolaren“ Welt – zusammengesetzt aus der transatlantischen westlichen Allianz von USA und EU, aus Russland sowie China – einen vierten „Pol“ hinzufügen und aus der von den drei aktuellen Vormächten bestimmten Weltordnung ausscheren wollen.

Diese Abkoppelung von den etablierten Strukturen internationaler Sicherheitspolitik vollzieht sich an der Frage der Verfügungsgewalt über nukleare Kapazitäten. Irans Beharren auf seinem Atomprogramm und seine aggressive Weigerung, sich in dieser Frage internationalen Kontrollrichtlinien zu unterwerfen, ist dabei zu einer Art Fanal dafür geworden, dass es möglich sei, aus dem von den global dominierenden (Atom-)Mächten vorgegebenen weltpolitischen Korsett auszubrechen. So arbeitet auch Brasilien mit irritierender Intensität am Aufbau einer eigenständigen Nuklearindustrie. Zwar bestreitet die brasilianische Regierung kategorisch, ihr Ziel sei die Herstellung von Atomwaffen, ebenso energisch verbittet sie sich jedoch einschlägige Kontrollen durch die Internationale Atomenergiebehörde – was den Verdacht nährt, das Land wolle sich die militärische Nutzung seiner angestrebten Nuklearkapazitäten zumindest als ferne Option vorbehalten. Unschwer ist als Vorbild das Vorgehen Irans auszumachen.


Zweite Großmacht auf dem amerikanischen Kontinent

Wenn auch weniger militant als die neuen sozialistischen Regime in Venezuela und Bolivien, die sich ideologisch mit verbündet haben, nutzt Brasilien bei seinem Versuch, sich als potenzielle zweite Großmacht auf dem amerikanischen Kontinent und als Global Player ins Spiel zu bringen, historisch tief sitzende lateinamerikanische Ressentiments gegen die politische und ökonomische Übermacht Nordamerikas. Weit davon entfernt, in das Zeitalter einer von US-Präsident Obama propagierten atomwaffenfreien Welt einzutreten, zeichnet sich so eine neue Herausforderung ab: Aufstrebende Nationen wie die Türkei und Brasilien betrachten das Recht auf „atomare Selbstbestimmung“ offenbar als eine zentrale Statusfrage, anhand derer sie den Grad ihrer Unabhängigkeit von „fremder Dominanz“ definieren. Dass sich in diesem Punkt mit der Türkei ein Nato-Mitglied, mit Brasilien eine junge Demokratie der westlichen Hemisphäre (die sich als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats bewirbt) und mit Iran ein Staat treffen, der westlichen Werten und Menschenrechtsstandards den Krieg erklärt hat, muss den Westen in höchstem Maße alarmieren.

Denn nur äußerlich ähnelt die entstehende „vierte Kraft“ in der Weltpolitik der alten Bewegung der Blockfreien aus der Zeit des Kalten Krieges. Länder wie Jugoslawien und Indien versuchten damals, die engen Spielräume einer straff zweigeteilten Welt zu nutzen und spielten eine eher vermittelnde, mäßigende Rolle in der internationalen Politik. Heute aber scheuen sich selbst Freunde und Verbündete der westlichen Allianz wie Brasilien und die Türkei nicht, auf ihren Sonderwegen mit Mächten zu kollaborieren, die wie Iran das ohnehin prekäre internationale Gleichgewicht von Grund auf umstürzen wollen.

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