Wie sich der Staatsrechtler Böckenförde in Fragen Islam und Demokratie vergaloppiert – Von Jochen Müller

Vielleicht hätte Herr Böckenförde mal mit ein paar real existierenden Muslimen sprechen sollen, bevor er sie pauschal zur Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung erklärt

Der Staatsrechtler und ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde hat in der FAZ vor einiger Zeit (FAZ vom 22. April) eine Rezension des lesenwerten Buches von Lukas Wick „Islam und Verfassungsstaat. Theologische Versöhnung mit der politischen Moderne?“ geschrieben. Um diese Rezension – und nur um sie – soll es im Folgenden gehen. Darin referiert Böckenförde unter dem Titel „Religionsfreiheit ist kein Gottesgeschenk“ zunächst, dass Wick auf der Grundlage der Analyse arabischer Originalquellen eine Diskrepanz zwischen demokratischem Verfassungsstaat und Grundannahmen islamischer Theologie ausmache.

Das ist nun erst einmal nicht sonderlich überraschend – ist doch wohlbekannt, dass die islamische Theologie sich bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewissermaßen festgefahren und etwa den durch islamische Aufklärer um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert angestoßenen Moderinisierungs- und Säkularisierungsschub nicht wirklich nachvollzogen hat. (Aus verschiedenen Gründen, von denen der Konflikt mit "dem Westen" nicht der Geringste war.) Vor diesem Hintergrund sind es heute vor allem Theologen und „Islamisten“, die Probleme damit haben, „ihr“ besonders eng an den religiösen Texten orientiertes Islamverständnis mit modernem Verfassungsstaat und demokratischen Grundprinzipien zu vereinbaren.

Das Gros der Muslime weltweit hat diese Probleme hingegen nicht. Zwar mögen viele ein eingeschränktes Demokratieverständnis haben - was angesichts der politischen Verhältnisse, in denen sie meist leben, nicht verwunderlich ist. Dennoch halten die meisten die Demokratie für die beste Ordnungsform. Grundlegende Werte und Menschenrechte wie Rede-, Meinungs- oder Wahlfreiheit, Rechtssicherheit und Sozialstaatlichkeit werden von ihnen geteilt, auch wenn - oder gerade weil - sie diese oft nicht genießen dürfen.

“Die Muslime“ in ihrer Gesamtheit nun am Quellenmaterial einer weitgehend mittelalterlich gebliebenen islamischen Theologie zu messen, ist vor diesem Hintergrund fern jeglicher Realität. Böckenförde tut jedoch genau das und kommt zu folgendem Schluss:

"Zwar will er (Wick, d. Verf.) die Möglichkeit nicht kategorisch ausschließen, dass Muslime eine freiheitlich- konstitutionelle Ordnung akzeptieren, weil es schließlich immer Spielräume zwischen Theorie und Praxis gebe..... aber er bleibt da skeptisch". Böckenförde zufolge ist es also unwahrscheinlich, dass „Muslime eine freiheitlich-konstituionelle Ordnung akzeptieren“! Wenn der Rezensent "Theologen" oder "Islamisten" geschrieben hätte, wäre darüber zu diskutieren. Er sagt aber ganz allgemein „Muslime“ - und verwechselt damit theologische und islamistisch-fundamentalistische Positionen mit „dem Islam“ und „den Muslimen“ an sich. Das ist eine schlechte Angewohnheit vieler Orientalisten und Islamexperten (zu denen Böckenförde ja nicht unbedingt gehört), die meinen, auf Grundlage religiöser und theologischer Abhandlungen Aussagen über den Glauben, das Denken und das Leben der real existierenden Muslime machen zu können. (Dabei entpuppen sich „Islamexperten“ nicht selten als die besseren Fundamentalisten.)

Kein Wunder, dass Böckenförde dabei immer staatsrechtlich abstrakt bleibt. Sein einziges konkretes Beispiel ist die Bestrafung von Apostasie. Aber auch hier klafft die Lücke zur Realität: So sollte vielleicht mal jemand herausfinden, wieviele Muslime in Deutschland, der Türkei, Jordanien oder Indonesien eigentlich der Meinung sind, das ein Ex-Muslim umgebracht gehört! Erneut sind es Theologen und Islamisten, die mit solchen Fragen mehr Probleme haben: Denn selbst wenn viele von ihnen persönlich gegen solche Bestrafungen sein mögen, so fällt es ihnen schwer, dass auch zu sagen, weil es ja nun einmal so (oder so ähnlich) geschrieben steht.

Und was folgt politisch für Böckenförde aus dem Befund? Hier sein Resumee: „Der Staat hat dafür Sorge zu tragen, dass solange die von Wick aufgezeigten Vorbehalte fortbestehen, die Angehörigen des Islams durch geeignete Maßnahmen im Bereich von Freizügigkeit und Migration – nicht zuletzt im Hinblick auf die Türkei – in ihrer Minderheitenposition verbleiben, ihnen mithin der Weg verlegt ist, über die Ausnutzung demokratischer politischer Möglichkeiten seine auf Offenheit angelegte Ordnung von innen her aufzurollen. Darin liegt nicht mehr als seine Selbstverteidigung, die der freiheitliche Verfassungsstaat sich schuldig ist."

„Selbstverteidigung“ gegenüber den „Angehörigen des Islam“, damit diese den Staat nicht „von innen aufrollen“? Das sind rechtspopulistische Positionen eines Staatsrechtlers, die man in rassistischem Jargon auch auf Seiten wie Politically Incorrect lesen kann.

Sie schaden dem Diskurs um Islam und Integration. Und bei aller notwendigen Kritik an radikalen und fundamentalistischen Positionen im Islam, bei allem Drängen auf eine innere theologische Neuerung und dem oft berechtigten Wunsch nach einem umfassenderen Demokratieverständnis – solche Positionen bewirken das Gegenteil des eigentlich Erwünschten. Denn die auf diese Weise angesprochenen Muslime werden gezwungen, sich zu entscheiden: Entweder, so wird hier suggeriert, du bist Muslim oder Demokrat. Denn beides zusammen ginge ja wohl kaum. Das ist perfide, weil es die heute lebenden Muslime misst an einer vor Jahrhunderten festgefahrenen Theologie und sie auffordert, sich von dieser zu distanzieren. Das können und wollen sie in dieser Form natürlich nicht - was wiederum nicht selten als neuerlicher Beleg dafür herhalten muss, dass Islam und Demokratie eben nicht zusammen passen.

Vielleicht hätte Herr Böckenförde mal mit ein paar real existierenden Muslimen sprechen sollen, bevor er sie pauschal zur Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung erklärt.

Erstveröffentlichung 27. Mai 2009 auf www.ufuq.de mit freundlicher Genehmigung des Autors


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