Durch die Abschaffung der Sperrklausel mischen künftig noch mehr kleine Parteien in den Räten mit. Experten warnen: Durch den Wegfall der Stichwahl sinken Legitimation und Akzeptanz von Politik.
Düsseldorf Jahrelang wünschte sich Herbert Meylahn nichts sehnlicher, als in den Stadtrat einzuziehen. Bei der SPD war der frühere Chemie-Betriebsrat chancenlos, wechselte zur FDP, ging schließlich enttäuscht zu den Freien Bürgern. Schließlich gründete er einen Ortsverband der Rentnerpartei "Wir Rentner machen mobil". Seit Sonntag ist der Politiker am Ziel.
Weniger die Wähler als vielmehr das neue NRW-Wahlrecht bescherte dem 65-Jährigen nun tatsächlich einen Sitz im Rat der 109000-Einwohner-Stadt: Ganze 486 Stimmen (1,2 Prozent) reichten Meylahn bei einer Wahlbeteiligung von 49,5 Prozent, um in der Kommunalpolitik mitmischen zu dürfen. Der Wegfall der Sperrklausel macht's möglich. Viele Rathäuser sind nun zur "Villa Kunterbunt" geworden. "Das trägt zu einer weiteren Erschwerung der Arbeit in den kommunalen Parlamenten bei", warnt Jens Walther, Parteienforscher an der Uni Düsseldorf. Schon bislang zogen sich die Sitzungen in vielen Räten bis in die Nacht, weil alle Fraktionen ihr Rederecht nutzten.
In Duisburg hatte Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) vor der Wahl im Rat acht Fraktionen und eine parteilose Ratsfrau sitzen. Nun sind dort zehn Parteien versammelt, darunter fünf mit jeweils nur einem Ratsmitglied: Die Duisburger Alternative Liste (DAL) vertritt vor allem Migranten und frühere Sozialdemokraten, die Bürgerlich Liberalen (BL) verärgerte FDP-Anhänger, Sozial, Gerecht, Unabhängig (SGU) einstige SPD-Mitglieder, Freie Wähler – Bürger Union (FW-BU) ein klassisches Spektrum "Freier Wähler und Junges Duisburg" (JUDU) ehemalige Mitglieder des CDU-Nachwuchses Junge Union. Zusammen erhielten sie nicht viel mehr als sechs Prozent der Stimmen.
In Bonn schaffte es das Bündnis für Frieden und Fairness auf Anhieb in den Stadtrat. Nach eigenen Angaben ist das Bündnis in Deutschland die erste von Muslimen gegründete Wählergemeinschaft, sie entstand aus dem lokalen Rat der Muslime. Das Bündnis kam auf 2,1 Prozent der Stimmen und hat nun zwei Sitze. In Köln bekam die Vereinigung "Deine Freunde" einen Sitz. In Wülfrath stellt die "Wülfrather Gruppe", ein Zusammenschluss von früheren Beigeordneten und Rockmusikfreunden sogar mit Claudia Panke die Bürgermeisterin.
Panke reichten gerade mal 26,96 Prozent, um das erste Amt der Stadt zu übernehmen. Die Wahlbeteiligung lag bei 58,48 Prozent. Die Legitimation der Bürgermeisterin stützt sich in einer Stadt mit 17431 Wahlberechtigten also lediglich auf 2693 Stimmen – eine schwierige Basis.
Der Landtag hatte das neue Wahlrecht vor zwei Jahren mit den Stimmen von CDU und FDP beschlossen. Bis dahin war eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen notwendig, wenn keiner der Bewerber auf Anhieb die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erreicht hatte. Seit 2007 reicht es nun, mehr Stimmen zu haben als jeder einzelne andere Konkurrent.
Die Initiative "Mehr Demokratie" hält die Auswirkungen des neuen Wahlrechts für "absurd". "101 Bürgermeister und Landräte in NRW sind nur von einer Minderheit gewählt worden, aber sie dürfen trotzdem regieren", kritisiert Landesgeschäftsführer Alexander Slonka. 32 gewählte Stadtoberhäupter seien in Nordrhein-Westfalen unter der 40-Prozent-Marke geblieben. "Ob diese Bürgermeister jetzt von allen Bürgern als legitimiert angesehen werden, darf man getrost bezweifeln", erklärte Slonka. Der Verfassungsgerichtshof von NRW hatte im Mai eine Klage von SPD und Grünen gegen die Abschaffung der Stichwahl abgewiesen.
Umstritten ist bei den Experten auch die künftige Entkoppelung von Kommunalwahlen und Bürgermeisterwahlen. Die Räte werden demnächst alle fünf Jahre, der Bürgermeister alle sechs Jahre gewählt. Der Düsseldorfer Soziologe David Gehne erwartet eine noch niedrigere Wahlbeteiligung bei den Einzelwahlen ab 2015. Der Stil der Auseinandersetzung müsse sich ändern, sagt der Parteienforscher Jens Walther. "Mobilisierung lässt sich künftig nur durch eine schärfere Zuspitzung erreichen."
Das NRW-Verfassungsgericht hatte den Gesetzgeber – also den Landtag – in seiner Urteilsbegründung ausdrücklich dazu verpflichtet, die demokratische Legitimation der Gewählten im Blick zu behalten – und das Gesetz nötigenfalls zu verändern. Horst Becker, Kommunalexperte der Grünen, kündigte jetzt eine genaue Prüfung der Einzelergebnisse an: "Wenn Handlungsbedarf besteht, werden wir handeln."
Quelle: Rheinische Post