Antisemitismus bei Muslimen in Deutschland ist aus Sicht des Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir ein ernstzunehmendes Problem - Hintergrund ist die Veröffentlichung „Die Juden sind schuld“ der Amadeu-Antonio-Stiftung in Berlin.

BERLIN - Man müsse leider zur Kenntnis nehmen, „dass es antisemitische Denkweisen nicht nur am rechten Rand oder bei linken sogenannten Anti-Imperialisten gibt, sondern auch in der muslimischen Community, insbesondere bei männlichen arabischen, türkischen und kurdischen Jugendlichen“, sagte Özdemir der Frankfurter Rundschau.Hintergrund ist die Veröffentlichung „Die Juden sind schuld“ der Amadeu-Antonio-Stiftung in Berlin, die Einstellungen unter den rund drei Millionen Muslimen in Deutschland unter die Lupe nimmt und auch mögliche Gegenmaßnahmen diskutiert. Auch die Autoren sehen Antisemitismus als „neues Problemfeld, das in den großen urbanen Wohnquartieren mit überwiegend muslimischer Wohnbevölkerung vorzufinden ist“. Sie verweisen unter anderem auf die steigende Zahl von antijüdischen Straftaten, für die muslimische Tatverdächtige verantwortlich gemacht werden. Für 2006 seien 88 solcher Taten registriert worden, 100 Prozent mehr als 2005. In anderen europäischen Ländern, etwa in Frankreich, sind ähnliche Tendenzen zu verzeichnen.
Die Autoren verweisen auch auf die Studie von 2007 „Muslime in Deutschland“ im Auftrag des Bundesinnenministeriums. Darin habe eine „substanzielle Minderheit“ von 500 befragten muslimischen Schülerinnen und Schülern antijüdische Ressentiments geäußert. Der Aussage „Menschen jüdischen Glaubens sind überheblich und geldgierig“ stimmten unter jungen Muslimen 15,7 Prozent zu. Bei nichtmuslimischen Zuwanderern lag die Quote (7,4 Prozent) viel niedriger; einheimische Deutsche äußerten sich zu 5,4 Prozent in dem Sinne.
Trotzdem stochern Experten bei dem Phänomen noch im Nebel, wie es in der Broschüre „Die Juden sind schuld“ heißt. Weder ist genau erforscht, wie verbreitet antisemitische Tendenzen sind und wie sich einzelne muslimische Zuwanderungsgruppen dabei unterscheiden. Noch sind die Ursachen eindeutig bestimmt. Eine erhebliche Rolle wird dem Nahostkonflikt zugeschrieben. Aus der Sicht Özdemirs identifizieren sich türkische Jugendliche mit den Palästinensern, weil sie vielfach auf Identitätssuche seien und sich „in dieser Gesellschaft als marginalisiert empfinden“. Daher zeigten sie „eine Überidentifikation mit dem Konflikt im Nahen Osten“.
Aber auch die Zunahme von gefärbten oder einseitigen Informationen über Satelliten-TV-Stationen oder Websites aus dem arabischen Raum führen Experten an.
In der Broschüre wird zudem auf die Verbreitung antijüdischer Verschwörungstheorien verwiesen, die unter anderem in der Türkei kursieren. „Es ist unserer Gesellschaft mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen, überall jüdischen Einfluss zu vermuten und diverse Verschwörungstheorien zu erfinden, in denen ,der Jude immer der Übeltäter ist“, zitieren die Autoren der Amadeu-Antonio-Stiftung aus der türkischen Petition „Null-Toleranz gegen Antisemitismus“ von 2004. Unterzeichnet hatten die Protestnote muslimische und nicht-muslimische Intellektuelle.
Özdemir sieht unabhängig von der genauen Erforschung der Ursachen in jedem Fall Handlungsbedarf. Auch Lehrer seien gefragt. „Das Falscheste wäre sicher, das Thema aus Angst gar nicht erst anzupacken.“ (ap)