Grünen-Chef Cem Özdemir warnt vor dem wachsenden Antisemitismus muslimischer Jugendlicher

„Du Jude!“ – nur ein Beispiel für ein gängiges Schimpfwort: Antisemitisches Gedankengut ist unter jungen Muslimen weit stärker verbreitet, als viele in Deutschland bislang annehmen. Um das zu belegen und Hilfe anzubieten, präsentierte die Amadeu-Antonio-Stiftung am Montag eine Handreichung. „Die Juden sind schuld – Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus“, so der Titel. Laut einer darin veröffentlichten Umfrage kommen antisemitische Äußerungen allein im Berliner Migrantenviertel Kreuzberg in jedem Jugendclub vor.

Vor dem Termin am Montagabend habe der Grünen-Chef Cem Özdemir zahlreiche E-Mails erhalten, in denen sich Muslime über das Thema beklagten, berichtet er. Darin stand: „Versucht ihr schon wieder, uns Muslime mundtot zu machen“ oder „jetzt verbietet ihr uns schon, Israel zu kritisieren“. Das sei keineswegs sein Anliegen, betont Özdemir auf dem Podium. „Aber Antisemitismus unter Muslimen ist ein ernstzunehmendes Problem.“ Judenfeindliche Denkweisen gäbe es eben nicht nur am rechten Rand, sondern auch bei arabischen, türkischen und kurdischen Jugendlichen. „In den Schulen muss das Thema ganz bewusst in den Lernplan aufgenommen werden“, sagte Özdemir.

Laut Kriminalitätsstatistik wurden 2006 insgesamt 88 antisemitische Straftaten von muslimischen Tatverdächtigen begangen – das waren 100 Prozent mehr als im Vorjahr. Die Autoren der Broschüre verweisen auch auf eine Studie im Auftrag des Bundesinnenministeriums von 2007, in der eine „substanzielle Minderheit“ von 500 befragten muslimischen Schülern antisemitischen Vorurteilen „in einem hohen Maße zustimmen“. Insgesamt wurden in den letzten drei Monaten des vergangenen Jahres in Deutschland fast 300 antisemitische Straftaten registriert, wie aus einer am Montag veröffentlichten Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Links-Fraktion hervorgeht.

Die Experten verzeichnen einen generellen Anstieg der judenfeindlichen Ressentiments unter Muslimen in den letzten Jahren. Grund dafür seien unter anderem der andauernde Nahostkonflikt und die Flut arabischer Nachrichten über Satellitenfernsehen, die in den Wohnzimmern der Muslime in Deutschland lande. „Seit dem jüngsten Krieg um Gaza ist das wieder deutlicher geworden“, sagte die Vorsitzende der Stiftung, Anetta Kahane. Angriffe auf jüdische und israelische Einrichtungen in ganz Europa hätten gezeigt, dass es innerhalb arabischer und türkischer Milieus offene antisemitische Tendenzen gibt. Laut Extremismus-Expertin Claudia Dantschke bieten hier politische Organisationen eine Identität als „wir Muslime“ an und benutzen sie für ihre Zwecke. Sie weist außerdem auf einen „intensiven Ideologietransfer“ zwischen antizionistischen Linken und islamistischen Gruppen hin.

Stiftungschefin Kahane bezeichnete das Thema als große Forschungslücke: „Bislang weiß man überhaupt nicht, wie viele Muslime zu judenfeindlichen Äußerungen neigen und weshalb.“ Im Alltag zeige sich, dass sich nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen verächtlich äußerten. Die Autoren fordern mehr Forschung zu dem Thema und mehr Aufklärung. „Zwar denken manche, gegen Antisemitismus kann man nichts machen“, sagt Kahane. Doch die 96 Seiten starke Broschüre soll dagegenhalten. Sie klärt auf, wo und wie sich Antisemitismus in türkischen und arabischen Milieus zeigt und wie darauf reagiert werden kann.

Die Amadeu-Antonio-Stiftung beschäftigt sich mit rechtsextremer Alltagskultur und ist nach einem Angolaner benannt, der 1990 von jungen Rechtsextremen in Brandenburg totgeprügelt wurde.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 24.02.2009)