...... "Wir reden heute darüber, worüber man eigentlich noch reden darf", leitete er seine Sendung vom Wochenende ein. Entgegen der Ankündigung folgte dann keine Sendung über das bereits in seiner Existenz hochumstrittene Phänomen "Cancel Culture". Böhmermann hält dieses für herbeifantasiert, wie er auch die ZDF-Zuschauer:innen sarkastisch wissen ließ ("Cancel Culture ist noch vor der Erderwärmung, sozialer Ungleichheit und Haarausfall das größte Problem unserer Zeit").
Seine kurz eingeworfenen Beispiele, der anhaltende Erfolg von Luke Mockridge und Till Lindemann, geben ihm recht (siehe dazu auch die Debatte über Cancel Culture im LTO-Streitgespräch zwischen SPIEGEL-Anwalt Srocke und Lindemann-Anwalt Bergmann). Auf die Suche nach denkbaren Gegenbeispielen, etwa die Ausladung von Musikerinnen oder Wissenschaftlern oder gar das Feuern eines hohen Staatsbeamten nach einer effekthascherischen Satiresendung machte sich Böhmermann erwartbar nicht.
Satirestunt: Abmahnen ist Canceln
Nachdem er sich mit Zitaten von Cancel-Culture-Kritikern eine bruchstückhafte Definition des Begriffs gebastelt hatte, kam es dann zum gewagten Satirestunt. Böhmermann wandte den Begriff auf einen Sachverhalt an, den er tatsächlich für kritikwürdig hält: nämlich das angebliche Canceln von Meinungen durch rabiates Vorgehen von Medienanwälten gegen Journalistinnen und Aktivisten.
Ein im Ausgangspunkt schiefer Vergleich. Im Presserecht wird eine Äußerung, wenn überhaupt, durch ein Gericht untersagt, in Deutschland basierend auf den Normen eines Rechtsstaates. Im Gegensatz dazu erfolgt bei Cancel Culture eine gesellschaftliche Ächtung gerade ohne gerichtliches Urteil, sondern allein aufgrund einer sozialen Bewegung sowie Druckausübung.
Doch vollkommen abwegig ist der Vergleich nicht. Denn es kann vorkommen, dass Journalisten oder kleine Medien angesichts einer anwaltlichen Drohkulisse und Kostenrisiken den Rechtsstreit scheuen und grundlos eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abgeben. Dann wird ihre Meinung am Ende nicht (mehr) gehört oder – wenn man so will – "weggecancelt". Geschieht dies systematisch, könnte man im übertragenen Sinne durchaus von einer "Cancel Culture" sprechen. Vor allem im europäischen Ausland (insbesondere Osteuropa) finden sich solche Einschüchterungsfälle auch, weswegen die Europäische Kommission eine Richtlinie zum Schutz der Pressefreiheit plant.
Die Notwendigkeit der Richtlinie im ohnehin pressefreundlichen deutschen Rechtssystem ist allerdings umstritten. Insofern konnte man auf die Beispiele von Böhmermann gespannt sein, dazu sogleich......Böhmermann ruft selbst gern mal den Anwalt an
Zudem räumt Böhmermann ein, dass auch er Medienanwälte anruft. Wenn er oder die Produktionsfirma der Sendung klagen, ist es aber selbstverständlich kein Akt von "Cancel Culture", sondern seriöse Rechtsverteidigung. Es sei "wichtig und richtig, dass seriöse Klagen zum Beispiel unseriöse Medien vor Gericht in ihre Schranken weisen können". Aha.
Und sind dann im Umkehrschluss Klagen falsch, wenn presserechtlich gegen seriöse Medien vorgegangen wird? Und wer bestimmt, wer oder was seriös und unseriös ist? Böhmermann selbst ist als intelligentem Anwalts-Eigenbedarfsnutzer natürlich bewusst, dass das alles nicht ganz so einfach ist mit der Abgrenzung zwischen Rechtsmissbrauch und legitimer Rechtsverteidigung. Deswegen stellt er immerhin selbst die Frage in den Raum, wo genau der Unterschied zwischen "Persönlichkeitsrechtsgeplänkel und echter Cancel Culture" sei. Außer der Erwägung, es dürfe keinen "Missbrauch" geben, fällt ihm allerdings zur Abgrenzung nichts ein. Entscheidend – und von Böhmermann unbeantwortet – bleibt aber, was einen solchen Missbrauch ausmacht.
Der Moderator versucht sich mangels abstrakter Klärung der Frage mit Beispielen zu nähern. Der Zuschauer erfährt: Unseriös ist es, wenn ein reicher Hedgefonds gegen eine kleine Studentenzeitung vorgeht oder Millionensummen von großen Medien verlangt werden. Wenn Rechtsextreme gegen linke Lokalzeitungen klagen, ist das ebenfalls böse; dies auf dem Rechtsweg zu bekämpfen dementsprechend nobel.
Die Abgrenzung zu missbräuchlichen Cancel-Klagen nimmt Böhmermann also nicht etwa inhaltlich vor, sondern anhand der jeweils involvierten Person oder Institution, insbesondere deren politischer Ausrichtung oder Finanzmacht. Die Klageberechtigung an solchen Kriterien festzumachen, hat indes mit einem Rechtsstaat nichts zu tun.
Studentenzeitung recherchiert – nach Klage
Um zu erfahren, ob die Klage der Immobilienfirma gegen die Studentenzeitung luhze wirklich reine Schikane war, hätte man als Zuschauer gerne erfahren, was genau die Firma beanstandete. Aber Fehlanzeige. Allein die Tatsache "David gegen Goliath" reichte dem ZDF-Magazin Royale für eine Skandalisierung.
Aufhorchen lässt, dass die interviewte luhze-Journalistin in der Sendung sagt, die Redaktion habe Belege für die aufgestellten Tatsachenbehauptungen in "diesen Wochen vor dem Gerichtstermin (…) gesammelt". Bekanntlich sammeln allerdings "seriöse Medien" Belege für Tatsachenbehauptungen bereits vor einer Veröffentlichung und warten nicht erst auf Abmahnung und Klage. Auch fiel auf, dass nach eigener Aussage das Studentenmagazin sogar mehrere Anwälte für ihre Rechtsverteidigung gewinnen konnte. So verteidigungslos wie Böhmermann dargestellt hat, scheint die Zeitung also nicht gewesen zu sein.
Böhmermann klärt dann noch darüber auf, dass die Immobilienfirma die Klage zurückzog, weil sie wegen der empörten Medienberichterstattung ein schlechtes Image fürchtete. Für Cancel-Klagen-Culture taugte das so vorgetragene Beispiel also nicht, sondern wenn dann für eine “Cancel die Klagen-Culture".
78-Millionen Euro-Klage gegen SZ
Ergiebiger hingegen ist das Beispiel der 78-Millionen-Euro-Klage von Hannes Kuhn gegen die Süddeutsche Zeitung (SZ). Im Erfolgsfall hätte diese wohl tatsächlich zum Ruin der Zeitung führen können. Doch wenn die Klage, wie von Böhmermann dargestellt, ohnehin völlig abwegig war ("irre Klage von Hannes Kuhn"), musste die SZ in Deutschland auch nie ernsthaft eine Verurteilung befürchten.
Ein Blick ins Urteil zeigt allerdings, dass doch einiger Begründungsaufwand für die Abweisung nötig war. So wurden sogar Zeugen vernommen und in dem über 50 Seiten langen Urteil stellt das Gericht eine "missverständliche Darstellung" fest. Böhmermann stellt den Bericht allerdings als lupenreine Berichterstattung vor. Nur der involvierte SZ-Reporter kommt zu Wort und erklärt die Gründe für die Klage seien Einschüchterung und Abzocke. Den eigentlichen Hintergrund der Klage, nämlich ein geplatzter Millionendeal angeblich aufgrund der SZ-Berichterstattung, erfährt der Zuschauer nicht.
Der Sache nach sind in Deutschland keine erfolgreichen Schadensersatzklagen gegen Medien wegen Börsen- oder Gewinnverlusten bekannt. Die Anforderungen sind extrem hoch. Es muss nämlich nicht nur eine schuldhafte falsche Tatsachenbehauptung belegt werden, sondern auch, dass gerade die Veröffentlichung zum Gewinnverlust geführt hat.
"Immer öfter ruft Hitler zuerst an"
Der nächste Fall wird mit der offensichtlichen Übertreibung eingeführt, ein Rechtsextremist habe es in einem Rechtsstreit darauf abgesehen, die gesamte Stuttgarter Lokalzeitung KONTEXT "zu canceln". Tatsächlich ging er gegen einzelne Artikel vor.
Der Fall ist allerdings durchaus interessant, da er für eine allgemeine Entwicklung beispielhaft ist. So belegt eine Studie des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft, über die auch LTO berichtete, dass Rechtsextreme systematisch verstärkt versuchen, durch Klagen kritische Berichterstattung einzuschränken ("Immer öfter ruft Hitler zuerst an"). Allerdings kommt die Studie auch zu dem Ergebnis, dass die Rechtsextremen damit überwiegend auf Granit beißen, was Böhmermann unerwähnt lässt.
Quelle JDZ
Denn 80% der Befragten geben dort an, nach einer juristischen Intervention "erst recht" für ihre Meinung einzustehen. Erfreulich ist zudem, dass die Zivilgesellschaft auf die Entwicklung reagiert. So unterstützt etwa die Plattform "FragDenStaat" mit ihrem Programm "Gegenrechtsschutz" Betroffene bei juristischen Angriffen von rechts.
Wie presserechtliche Klagen ein kleines Medium finanziell belasten können, schilderte die KONTEXT-Journalistin Anna Hunger überzeugend. An diesem Punkt hätte man sich nun eine Vertiefung gewünscht, die allerdings ausblieb. Das eigentliche Problem sind nämlich in Deutschland weniger die Klagen an sich, sondern die mitunter sehr hohen Anwalts- und Prozesskosten. Grund für die hohen Prozesskosten ist, dass Gerichte hohe Streitwerte annehmen, die nicht oder zu wenig danach differenzieren, ob es um eine geringfügige falsche Tatsachenbehauptung geht und ob der Gegner ein Fernsehsender oder eben nur ein kleines Studentenmagazin oder eine Lokalzeitschrift ist.
Da Anwälte bei fehlender Honorarvergütung ebenfalls anhand des Streitwerts bezahlt werden, haben weder Kläger- noch Beklagtenvertreter ein Interesse daran, Gerichte von einem niedrigeren Streitwert zu überzeugen. Hier besteht Reform- und Handlungsbedarf, um kleine Medien nicht übermäßig finanziell zu belasten.
Demokratie-Check als Zulässigkeitsvoraussetzung?
Die Sendung konnte nur rudimentär aufzeigen, dass es sich bei "Cancel-Klagen" um ein veritables Problem handelt. Die Grenzbestimmung zwischen rechtsmissbräuchlichen Klagen und legitimer Rechtsvertretung misslang vollständig, da anstatt des Inhalts der Klage die politische Ausrichtung sowie finanzielle Stärke des Klägers zum Gradmesser für Schikaneklagen herhalten mussten. Besonders deutlich wurde dies am Ende der Sendung, als Böhmermann Richter und Anwälte staatstragend dazu aufforderte, sie sollten "mit unverstelltem Blick" unterscheiden, ob eine Person berechtigt klagt oder versucht, "Justiz und Rechtsstaat zu missbrauchen um unsere freie und demokratische Gesellschaft zu zersägen".
Wie stellt sich Böhmermann das vor? Sollen Gerichte in Zukunft Klagen ablehnen, weil ein Rechtsextremer klagt? Vor der Klageeinreichung ab zum "Demokratie-Check"? Nicht nur unter rechtsstaatlichen Aspekten ein unsinniger Appell. Wenn Richter einer Klage stattgeben, dann im Regelfall aus guten Gründen, weil etwa unwahre Tatsachenbehauptungen verbreitet wurden. Das ist nicht nur gut für das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen, sondern für den gesellschaftlichen Diskurs insgesamt. Denn wenn Rechtsextreme nicht gegen denkbare Falschmeldungen vorgehen dürften, würde letztlich das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Medien insgesamt erodieren, mit der Folge, dass die Menschen zutreffender Berichterstattung über Rechtsextremismus keinen oder weniger Glauben schenken würden.
Ohne Beispiel für erfolgreiches Meinungs-Canceln
Wenn hingegen eine Klage aus reiner Schikane ohne fundierte Begründung eingereicht wird, erkennen das Richter:innen im Regelfall und weisen diese ab. Für das Gegenteil konnte die Böhmermann-Redaktion keinen Beleg finden. Sie präsentierte nicht ein einziges Beispiel, in der eine Schikane-Abmahnung oder -Klage Erfolg gehabt hätte. Im Gegenteil: In allen erwähnten Beispielen waren die Journalisten siegreich.
Vor diesem Hintergrund müsste Böhmermann eigentlich beim Thema "Cancel-Klagen-Culture" zu der gleichen Einsicht kommen, mit der auch er auch sonst das Phänomen "Cancel Culture" abräumt.
https://www.lto.de/recht/hintergruen...lagen-culture/