Erdogan entlässt den Zentralbankchef und verspielt damit das letzte bisschen Vertrauen in die türkische Wirtschaftspolitik - es droht eine neue Währungskrise
Zum vierten Mal in weniger als zwei Jahren kommt es zum Wechsel an der Spitze der Zentralbank. Der neue Chef Sahap Kavcioglu ist wie Erdogan ein Gegner einer restriktiven Geldpolitik. Der Lira steht neues Ungemach bevor.
Auf dem Papier ist die türkische Zentralbank unabhängig und kann frei über die Geldpolitik des Landes befinden. Allerdings muss der oberste Währungshüter jederzeit damit rechnen, seinen Job zu verlieren, wenn er die unorthodoxen wirtschaftspolitischen Vorstellungen von Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht teilt.
Ob die Zentralbank nach gängigen den Kriterien zur Beurteilung ihrer Arbeit, also bei der Inflationsbekämpfung oder der Währungsstabilisierung, erfolgreich ist, spielt dabei kaum eine Rolle. Die jüngsten Turbulenzen bestätigen dies einmal mehr.
Entlassung trotz beachtlichem Leistungsausweis
Der türkische Präsident hat in der Nacht auf Samstag per Erlass den Zentralbankchef Naci Agbal entlassen, den er erst im November ins Amt berufen hatte. Hintergrund dürften einmal mehr Meinungsverschiedenheiten über die Zinspolitik sein. Es ist der vierte Wechsel an der Spitze der Zentralbank in 20 Monaten. Agbals Nachfolger wird der relativ unbekannte Finanzprofessor und ehemalige Abgeordnete von Erdogans AK-Partei Sahap Kavcioglu.
Der in Ungnade gefallene Zentralbankchef Agbal hat in seiner kurzen Amtsdauer den Leitzins um insgesamt 875 Basispunkte auf 19% erhöht. Die restriktive Geldpolitik hatte nach den Verwerfungen des vergangenen Jahres die türkische Wirtschaft in ruhigere Fahrwasser geführt und die Lira zur erfolgreichsten Währung eines Schwellenlandes gemacht.
Kurzlebige Hoffnung auf Unabhängigkeit
Das ist eine beachtliche Leistung. Denn vor Agbals Antritt befand sich die Lira im Sturzflug, der Kurs zum Dollar war weit unter die symbolisch wichtige Schwelle von 8 L. gefallen – und dies, obwohl für Stützkäufe laut Schätzungen allein im vergangenen Jahr mehr als 100 Mrd. $ aufgewendet worden waren.
Der Ausverkauf der Staatsreserven ging massgeblich auf Berat Albayrak zurück, Erdogans Schwiegersohn der als Finanzminister amtete. Praktisch zeitgleich mit der Ernennung des renommierten Experten Agbal zum obersten Währungshüter trat Albayrak, an dessen Kompetenz immer grosse Zweifel bestanden hatten, mit einem Paukenschlag zurück. Agbal war Albayraks Vorgänger im Finanzministerium gewesen.
Beide Personalien wurden, ebenso wie Erdogans Andeutung, sich aus der Währungspolitik herauszuhalten, von den Märkten mit Erleichterung aufgenommen. Erdogan vertritt die allen Lehrmeinungen widersprechende Auffassung, dass hohe Zinsen die Inflation antreiben, und hat sich immer wieder gegen eine restriktive Geldpolitik ausgesprochen.
Billiges Geld um jeden Preis
Die meisten Beobachter waren stets der Ansicht, dass der Richtungswechsel im November eher ein aus der Not geborenes Zugeständnis als ein tiefgreifender Gesinnungswandel des türkischen Präsidenten darstellte. Der Türkei drohte schlicht das Geld auszugehen. Sie erwirtschaftete in den vergangenen Jahren immer wieder hohe Leistungsbilanzdefizite, die durch Kapitalimporte finanziert werden mussten; ein Lirazerfall macht die Bedienung von Fremdwährungskrediten aber immer teurer. Zudem ist die Türkei auch ganz grundsätzlich für einen nachhaltigen Wachstumskurs auf internationale Investoren angewiesen. Auch die gleichzeitig erfolgte Ankündigung rechtsstaatlicher Reformen zielte letztlich darauf ab, internationales Wohlwollen zu schaffen.
Den Preis unpopulärer Wachstumseinbussen, die mit einer restriktiven Geldpolitik einhergehen, war Erdogan jedoch nie bereit zu zahlen. Die nun bereits seit drei Jahren andauernde Wirtschaftskrise ist ein wichtiger Grund für die sinkenden Popularitätswerte seiner Regierung. Die Arbeitslosenquote liegt offiziell bei 13,4%. Nimmt man aber jene Personen hinzu, die gerne eine Stelle annehmen oder ihr Pensum erhöhen würden, sich angesichts der wenig aussichtsreichen Lage aber nicht aktiv darum bemühen, liegt der Wert laut Schätzungen bei über 30%.
Wirtschaftsförderung durch billiges Geld, etwa in der Bauindustrie, war immer ein wichtiger Bestandteil von Erdogans Regierungsphilosophie. Und tatsächlich wuchs die türkische Wirtschaft dank der Tiefzinspolitik 2020 trotz Pandemie um 1,8% und schnitt damit deutlich besser ab, als erwartet. Weil aber kaum mehr internationale Investitionen ins Land kommen, waren der Preis dafür der enorme Wertzerfall der Lira, eine davon galoppierende Inflation und fast leere Staatskassen.
Empörung über Zinserhöhung
Trotz der bekannten Konflikte waren die meisten Beobachter vom frühen Zeitpunkt des Bruchs mit Agbal überrascht. Ein Auslöser dürfte die jüngste Zinserhöhung von unerwartet hohen 200 Punkten am Mittwoch gewesen sein. Der Schritt kam, nachdem die türkische Währung, wie jene anderer Schwellenländer, wegen steigender Preise für amerikanische Staatsanleihen im Februar wieder unter Druck geraten war. Zudem war die Inflation auf 15,6% gestiegen. Der offizielle Zielwert liegt bei 5%.
Obwohl sich Erdogan bei der Präsentation seines Wirtschaftsplans vor zehn Tagen noch zum Ziel einer einstelligen Inflation bekannt hatte, bestand an seinem Missfallen über die drastische Zinserhöhung kein Zweifel. Das regierungsnahe Revolverblatt Yeni Safak griff nach dem Entscheid Zentralbankchef Agbal persönlich an. Wenige Tage später wurde er entlassen.
Agbals Nachfolger Kavcioglu hat regelmässig Kolumnen in der Zeitung veröffentlicht. Kürzlich schrieb er darin, ganz im Sinne Erdogans, dass eine Zinserhöhung die Inflation befeuere. Alles andere als eine rasche Öffnung der Geldschleusen nach seinem Amtsantritt wäre eine Überraschung. Entsprechend dürfte die nächste grosse Lira-Krise nicht lange auf sich warten lassen. Der Vertrauensgewinn der letzten Monate in die türkische Wirtschaftspolitik ist dahin.
https://www.nzz.ch/wirtschaft/erdoga...tik-ld.1607715