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Wie wird Wohlstand gemessen? Bislang vor allem durch Wachstum. Wirtschaftsminister Habeck will das radikal ändern......Wohlstand ist für ihn nicht mehr bloß Wirtschaftswachstum, auch wenn viele Politiker und Ökonomen seit Jahren das BIP als das Maß für Wohlstand ansehen.
Warum, das erklärte Habeck am Mittwoch so: Alle Wertschöpfung würde erst einmal neutral ins BIP eingehen, egal, ob sie gut oder schlecht für den Wohlstand sei. Sprich: Ein höheres BIP kann nach dieser Auffassung auch aus schlechteren Projekten resultieren, so sein Verständnis.
Und deshalb hat der Minister dem Jahreswirtschaftsbericht, sozusagen der jährlichen Festschrift zur Wirtschaftspolitik einer jeden Bundesregierung, einen komplett neuen Anstrich verpasst – mit einem Kapitel, das es in der mehr als 50-jährigen Geschichte des Berichts noch nie gegeben hat.
Kritik an der Wohlstandsmessung, nicht am Wachstum
Darin führen Habecks Beamte 31 alternative Indikatoren zur Messung des Wohlstands auf. Das reicht vom Anteil von Frauen in Führungspositionen über den Nitratgehalt im Grundwasser und die Durchlässigkeit im Bildungssystem bis zur Überlastung durch Wohnkosten. Einer der neuen Wohlstandsindikatoren ist auch die Entwicklung der Treibhausgas-Emissionen. Die hat das Wirtschaftsministerium treffenderweise im aktuellen Bericht gemeinsam mit dem BIP in einer Grafik abgebildet.
Jene Seite 14 des Jahreswirtschaftsberichts, die Habeck bei der Vorstellung noch einmal demonstrativ in die Höhe reckte, sei ein gutes Beispiel für die Funktion, die die neuen Indikatoren künftig einnehmen sollen. „Sie sehen, wie weit das auseinander geht“, sagte der Noch-Grünen-Chef. Wachstum müsse mit weniger Emissionen erreicht werden.
Denn das BIP will Habeck nicht ignorieren. Einer Wachstumskritik à la Club of Rome aus der Zeit in der Opposition im Bund, wie sie aus den Reihen führender Grüner und manchmal auch von Habeck angeklungen war, ist Pragmatismus gewichen.
„Zu sagen, wir verzichten auf die Idee von Wachstum, würde bedeuten, wir verzichten auf die Idee von Fortschritt“, sagte Habeck. Vielmehr sollen die neuen Kennzahlen dabei helfen, das BIP zielgerichteter zu interpretieren.
Wirtschaft zeigt sich aufgeschlossen, sieht aber Verbesserungsbedarf
Wie das praktisch funktionieren soll, ließ der Minister offen. Klar sei aber, dass das Sonderkapitel kein Beiwerk und kein Schmückwerk sei: „Es geht hier nicht um akademisches Trockenschwimmen.“ Möglich wäre, dass die Zahlen neben dem Jahreswirtschaftsbericht auch in den halbjährlich veröffentlichen Konjunkturprognosen der Bundesregierung auftauchen.
Das gilt aber als unwahrscheinlich, da es aufgrund der Verzögerung bei vielen der Daten zu wenig Bewegung geben würde. Die Zeitreihe des Gini-Koeffizienten als Maß für die Ungleichheit bei den Einkommen oder die Ausgaben für Bildungseinrichtungen reichen derzeit etwa bloß bis 2019.
Zudem soll der Jahreswirtschaftsbericht erst der Beginn der Debatte sein, welche Indikatoren es zur Messung der Nachhaltigkeit braucht. Stefan Körzell, Vorstand beim Deutschen Gewerkschaftsbund, meldete bereits Erweiterungsbedarf an. „Die neu eingeführten Wohlstandsindikatoren sollten auf jeden Fall um Kriterien guter Arbeit, etwa um die Tarifbindung, ergänzt werden“, sagte Körzell dem Handelsblatt.
Industriepräsident Siegfried Russwurm kommentierte: „Die Messung von Wohlstand kann durchaus über die simple Erfassung der realen Wirtschaftsleistung hinausgehen.“ Die ambitionierte Umwelt- und Klimapolitik der neuen Bundesregierung dürfe aber unternehmerische Aktivitäten nicht gefährden.
Kritischer äußerte sich die Opposition. „Unser Land braucht jetzt keinen Philosophen, der über die Grenzen des Wachstums nachdenkt“, sagte Gitta Connemann, Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT). Habecks Visionen jedenfalls gehen über die Regierungsarbeit hinaus. Er sprach von möglichen Transparenzkriterien für die Finanzmärkte oder Förderbedingungen in der öffentlichen Vergabe.
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